E-Book, Deutsch, 412 Seiten
Themessl Wo dein sanfter Flügel weilt
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-99012-807-7
Verlag: Hollitzer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Schuberts letzte Symphonie
E-Book, Deutsch, 412 Seiten
ISBN: 978-3-99012-807-7
Verlag: Hollitzer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der junge amerikanische Musikwissenschaftler Philip Mason ist Stipendiat in Wien. Das Thema seiner Forschungsarbeit lautet "Die Verbindungen zwischen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776 und der Wiener Klassik". Im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Schuberts letzter Symphonie findet er darin Chiffren und Bezüge auf Beethovens 9. Symphonie, die bislang der Öffentlichkeit vorenthalten worden sind.
Um die Hintergründe dieser geheimnisvollen Umstände zu recherchieren, begibt sich Mason weit in die Geschichte Europas zurück, in das legendäre "Sonderarchiv Moskau". Auf einer fact finding mission in Südamerika verstrickt er sich schließlich immer mehr in krude politische Verschwörungstheorien, bis er begreift, dass seine wissenschaftliche Neugier lebensgefährlich geworden ist.
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EIN KONZERT MIT FOLGEN
Im Leben eines jeden Menschen gibt es Wendungen, die auf alle Zeit unerklärlich bleiben. Begegnungen, Zufälle, Koinzidenzen verändern den Rahmen aller Geschehnisse und rücken die Wirklichkeit in ein neues Licht. Im Laufe des Oktobers lebte sich Phil in Wien langsam ein, und die Stadt begann ihm wirklich zu gefallen. Sophie war ihm eine hervorragende Fremdenführerin, und doch war genügend Platz in der Wohnung, sodass er, wenn er wollte, ein ganz unabhängiges Leben führen konnte. Umso angenehmer waren ihm ihre regelmäßigen Zusammenkünfte manchmal zu Mittag in der Küche oder abends im Salon auf einige Gläser Wein. Phil lernte die wichtigsten Archive der Stadt kennen und er bemerkte den ungeheuren Umfang und die noch seltsamere Menge kleinerer Archive, die über die Keller der ganzen Stadt verteilt lagen. Man sagt, die Geschichte des untergehenden Österreichs im 19. Jahrhundert sei zur Gänze Kulturgeschichte, und tatsächlich hatte dieses Reich, das über Jahrhunderte die Geschicke Europas mitbestimmte, zu dieser Zeit ein ganz eigenartiges Stadium erreicht, das, von seiner besten geisteshistorischen Seite aus gesehen, kaum mit etwas zu vergleichen wäre. Die einfache Wahrheit, dass der Mensch auf dieser Welt nichts gewinnen kann, war dieser untergehenden Kultur in ihren prägnantesten Vertretern nicht mehr ein weiser Spruch, sondern in Fleisch und Blut übergegangene Selbstverständlichkeit. Ein Reich, das einen solchen Zustand erreicht hatte, welches sich sein Militär mehr aus modischen und musikalischen Gründen denn aus militärischen hielt, war in der Moderne nicht mehr lebensfähig, und schon gar nicht als Zentrum in einem Zeitalter des Nationalismus. Die Archive der Stadt Wien nun waren zum Bersten voll mit den Zeugnissen aus allen Zeitaltern, insbesondere aus dem 19. Jahrhundert aber war die Fülle unüberblickbar. Jeder vornehme Bürger dieser Stadt hatte eine stattliche Bibliothek besessen, hatte Umgang mit Künstlern, Musikern und Schriftstellern gepflegt, und all diese Verlassenschaften lagerten, sofern sie nicht in den Kriegszeiten geplündert worden waren, in den genannten Archiven. Allein das Haus-, Hof- und Staatsarchiv, 1749 von Kaiserin Maria Theresia als zentrales Archiv des Hauses Habsburg gegründet, umfasste laut Mitteilung auf 16.000 Laufmetern 130.000 Geschäftsbücher und Aktenkartons, 75.000 Urkunden, 15.000 Karten und Pläne und etwa 3000 Handschriften. Was Phil zu Beginn aber am meisten lockte, war die Sammlung der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, jenes privaten Vereins, der von 1812 an so Hervorragendes auf dem Gebiet der Musikförderung vollbracht hatte. Ehrfürchtig betrat er das Gebäude, das den „Goldenen Saal“ beherbergt, und erkundigte sich nach den Nutzungsbedingungen für die Bibliothek. Als er am Rückweg am Kartenbüro vorbeikam, bemerkte er das Plakat für ein Konzert am Abend: Haydn, Symphonie Nr. 37, Tschaikowski, Klavierkonzert Nr. 1 und Schuberts Große Symphonie in C-Dur wurden von den Wiener Philharmonikern gegeben, und das Programm lockte ihn in das Büro. Es wurde freundlich telefoniert und Karten für allerlei Veranstaltungen gehandelt. Phil musste warten, und als er endlich an die Reihe kam, war das Konzert ausverkauft. – Sie können freilich am Abend versuchen, ob Sie noch etwas bekommen, riet ihm die Dame am Schalter, aber das schien ihm doch zu unwahrscheinlich. – Suchen Sie vielleicht noch eine Karte für heute? Phil blickte um sich. Ein zartes Geschöpf lächelte ihn an. – Habe ich recht verstanden, dass Sie eine Karte für das Konzert heute Abend brauchen? – Ja, ich … Ja, das wäre fein. – Ich versuche, diese hier loszuwerden. Wenn Sie wollen, können Sie sie gerne haben. Phil wurde ein wenig verlegen, denn das Mädchen gefiel ihm ziemlich gut. Sie machte den Handel aber ganz ohne Umstände. – Hier, der Preis steht ja auf der Karte. Er händigte ihr die Summe aus. – Also, gute Unterhaltung, sagte sie noch, lächelte breit mit geschlossenem Mund und verließ das Büro. Erst als er später im Café saß, fiel Phil ein, dass er sich nicht einmal bedankt hatte. Natalja Levedkova studierte im fünften Semester Komposition und Klavier an der Musikuniversität in Wien. Sie hatte ihr Studium in Kiew schon vor Jahren begonnen, als jedoch die politische Situation in der Ukraine immer unerträglicher und schließlich aussichtslos wurde, beschloss die Familie, mit den letzten finanziellen Ressourcen die einzige Tochter in den Westen zu schicken. Sie wohnte in dieser Zeit nicht weit von der Musikuniversität entfernt in einer Studentenwohnung, die sie sich mit drei Kollegen teilte. Das Haus lag am Heumarkt, auf der Rückseite des Konzerthauses mit einem weiten Ausblick auf den Stadtpark. Als sie an jenem Nachmittag in die Wohnung zurückkehrte, war sie erleichtert, ihre zweite Konzertkarte angebracht zu haben. Azmir, ein Studienkollege, hatte ihr im letzten Moment abgesagt. Sie liebte Tschaikowskis Klavierkonzert und freute sich auf den Abend. Als Philip Mason den Goldenen Saal des Musikvereins betrat, erschauderte er über der Geschichte jenes Raumes, mit dem Namen wie Brahms, Bruckner oder Mahler so untrennlich verbunden sind und dessen Akustik mit Recht als ein einzigartiges Vorbild des philharmonischen Klangs gilt. Die Stimmung war hitzig erregt, der Raum mit den Stehplätzen dicht gedrängt mit Menschen aus aller Welt. Als Phil seinen Platz einnehmen wollte, saß wie selbstverständlich Natalja neben ihm. – Guten Abend!, sagte sie freundlich, und hielt ihm höflich die Hand zum Gruß hin. – Guten Abend, das ist aber eine originelle Überraschung! Ich dachte mir vorhin, dass ich mich gar nicht bei Ihnen bedankt habe. Natalja hielt kurz inne. – Das ist ja auch nicht nötig … – … Mason, mein Name ist Philip Mason, ich bin Amerikaner … oder Engländer, wenn Sie so wollen. Ich bin mit einem Stipendium hier für ein Jahr zu Studienzwecken. – Sehr erfreut, mein Name ist Natalja. Das Orchester hatte das Einstimmen beendet. Der Raum wurde abgedunkelt, und in die gleißende Erwartung des Saales trat der Dirigent. Die Haydn-Symphonie war frisch und heiter, ein frühes Werk, das heutzutage eher unter dem theoretischen Aspekt beleuchtet wird, dass es in die Entstehungszeit des Klassischen Stils gehört. Als Vorbereitung auf das gewaltige Klavierkonzert Tschaikowskis aber wirkte es prickelnd wie Champagner und ideal gewählt. Die ungeheuren Abgründe des Konzerts, seine tiefe Zerrissenheit kamen im Kontrast zum Werk des jungen Haydn zur stärksten Geltung. Natalja war in der Pause tief gerührt und nicht sehr gesprächig. Phil erinnerte sich, einmal in einem Gastvortrag in Princeton davon gehört zu haben, dass der Amerikaner sich nicht vorstellen könne, welche Bedeutung und Wirkung Musik auf die Menschen in anderen Ländern hatte. Er sah es nun lebhaft vor sich. Die für die feinsten Regungen empfängliche Fantasie Nataljas webte ein Netz von Erinnerungen und Bildern, die das Konzert Tschaikowskis in ihr erregt hatte. Sie erlebte die feinsten Nuancen der Interpretation immer wieder von Neuem in ihrer Vorstellung. – Finden Sie auch, dass Tschaikowski etwas Provinzielles an sich hat?, fragte sie Phil plötzlich. Es gibt heute nämlich Menschen in Russland, die das behaupten. Ich finde das gar nicht. Phil hatte bisher mit russischer Musik nicht allzu viel zu tun gehabt. – Ich habe mir das noch nie überlegt, ehrlich gesagt. Wie kommen Sie darauf? Ich meine, Tschaikowski gehört doch einfach zu den Klassikern … sozusagen. Natalja war scheinbar mit der Antwort zufrieden, insgeheim störte sie aber die Oberflächlichkeit der Antwort. Phil bemerkte das, weshalb er sofort ergänzte. – Natürlich ist er einmalig … und außerdem ein unvergleichlicher Meister der Instrumentation! Das hatte er aus dem Schulbuch. Und doch hellte sich Nataljas Miene jetzt deutlich auf. Sie hängte sich bei ihm ein und zog ihn mit sich. – Kommen Sie, der zweite Teil beginnt gleich! Die Symphonie von Schubert schlug wie Blitz und Donner in den Saal ein. Majestätisch vom ersten Ton an, schritt die Symphonie folgerichtig und kristallklar in atemberaubenden Phrasen fort, die jene großen Bögen Anton Bruckners ankündigen. Obgleich eine Art menschlicher Landschaft sich in all ihrer Vielseitigkeit vor dem Hörer ausbreitete, hielt doch ein unsichtbares Band alles zusammen und trieb die Entwicklung unaufhaltsam und streng voran. Als nun der vierte Satz ins Finale ging und ein entsetzliches Stampfen den Schluss ankündigte, war Phil seltsam berührt. Einen solch offensichtlichen Gewaltausbruch hatte die Musik vor dieser Symphonie nicht erlebt. Das Programmheft sprach von einem „Triumph der Natur“, doch Phil konnte einen solchen nirgends hören. Hier wurde verhandelt, empört protestiert, Krieg geführt und auf schrecklichste Weise gerichtet. Es war der jüngste Tag, unerbittlich und kompromisslos, gegossen in das Gewand einer klassischen Symphonie. Als der letzte Donnerschlag vorüber war, strömte frenetischer Jubel in den Saal. Mit jeder Verbeugung des Maestros und des Orchesters steigerte sich die Begeisterung. Natalja strahlte über und über, und die beiden überboten sich lachend in der Kunst des Pfeifens. Als sie den Saal verließen, einigten sie sich schnell darauf, noch auf einen Drink zu gehen. Sie fanden ein Irish Pub in der Nähe und ließen sich in einer ruhigen Ecke nieder. Natalja blickte Phil gelassen an und schwieg. Das machte es ihm nicht leichter. Unter dem Vorwand, an die Bar bestellen zu gehen, verschaffte er sich ein wenig Zeit: Verdammt nochmal, Phil, russische Frauen … Was hast du darüber...