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E-Book

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

Theis Endzeitreise

Als mein Sohn mich fragte, wann die Welt untergeht

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

ISBN: 978-3-608-12020-2
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Martin Theis ist der größten Herausforderung der Menschheit auf der Spur. Er berichtet von Umbruch und Aufbruch in Folge des Klimawandels, u.a. aus Alaska, Sibirien, Sansibar, Manhattan und dem deutschem Hinterland. Wie viel Wahrheit kann er seinem Kind zumuten? Und welche Verantwortung trägt jeder einzelne von uns für kommende Generationen? Der Reporter nimmt uns mit an die Enden der Welt, zu Menschen, die über sich hinauswachsen – und auf Heimatbesuch zu seiner Familie in Baunatal, einem Wohlstandsidyll neben Deutschlands zweitgrößtem VW-Werk. Denn manchmal liegen die Antworten dort, wo wir sie am wenigsten erwarten.„Endzeitreise ist eine Geschichte über die zwei wichtigsten Themen der Welt: Familie und Klimawandel. Eindringlich, rührend und mit der Präzision eines großen Reporters erzählt.“ - Takis Würger
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Am Ende
Newtok, Alaska Ich trete so nah an den Ninglick heran, wie es die weiche Erde erlaubt. Vor mir rauscht der gewaltige Strom, aufgepeitscht von Sturm und Regen der vergangenen Tage. Er drängt in Richtung Beringsee, ist hier im Delta selbst schon fast Meer. Hinter mir liegt Newtok, eine Ansammlung versackender Blechhütten auf Stelzen. Dort leben Yupik, die indigenen Bewohner dieser Sumpflandschaft. Entlang der steilen Küste klaffen Risse im Grün. Grasbüschel hängen von der Abbruchkante. Die Erde zergeht, und der Strom nimmt sie mit sich, Brocken für Brocken, auf Nimmerwiedersehen. Bald stürzen die ersten Hütten ins Wasser. Permafrost. Der dauerhaft gefrorene Boden bedeckt ein Viertel der Landfläche auf der Nordhalbkugel. Seit Tausenden von Jahren sind dort gigantische Mengen CO2 und Methan gespeichert. Eingefrorene Pflanzenreste enthalten bis zu 1600 Gigatonnen Kohlenstoff – etwa doppelt so viel, wie sich in der gesamten Atmosphäre befindet. Noch. Denn das Eis, das zwischen Gestein, Sedimenten und Erde in die Tiefe reicht, hat zu tauen begonnen. Als ich mich nach vorne beuge, sehe ich Rinnsale aus der dunklen Erde treten und in den Ninglick laufen. Ich denke an das Wort Wasserlassen. Das Tauwasser wird Teil des großen, erdumspannenden Blaus, das sich immer mehr Land nimmt. Im Boden unter mir erwachen uralte Mikroben zum Leben. Sie zersetzen das organische Material und die Treibhausgase entweichen. Der tauende Permafrost könnte die Welt endgültig über die Schwelle katastrophaler Erhitzung stoßen. Hier vollzieht sich eine Rückkopplung, von der Erwärmung zum Tauen zur Erwärmung und so weiter. Schon kurze Wärmephasen reichen aus, um große Mengen Permafrost zu vernichten. Weil er auf vielfältige Weise mit der Umgebung reagiert, ist es schwer, die Folgen vorherzusagen. Sicher ist: Ich stehe auf einer tickenden Zeitbombe. Ich hebe den rechten Fuß und der Boden zieht mir fast den Gummistiefel aus. Mit einem Schmatzen löst sich die Sohle, in ihrem Abdruck sammelt sich Wasser. Es riecht nach Schlick, Benzin und Scheiße. Alaska habe ich mir anders vorgestellt, so wie ich mir überhaupt alles ganz anders vorgestellt habe. Wegen Newtok verpasse ich Nimos zweiten Geburtstag. Jasmina sagt, das sei typisch, und ich sage, wir brauchen das Geld. Ein zwischenmenschliches Gerichtsverfahren. Und immer ist es kalt in unserer Kellerwohnung. Wie soll ich Nimo das alles eines Tages erklären? »Wer bist du?«, fragt hinter mir jemand auf Englisch. Ich drehe mich um und stehe vor einem drahtigen Yupik-Teenager, der mir bis zur Brust reicht. Er vergräbt die Fäuste in den Ärmeln seines Kapuzenpullovers. Sommersprossengalaxien krümmen sich in seinen Grübchen. »Ich bin Kevin«, sagt er. Martin. Mar-tin. Mmmm. Arr. Tin. Mein Name klingt hier draußen wie eine haltlose Behauptung. Er bedeutet so viel wie ein Abiturzeugnis im Urwald oder ein Seepferdchenabzeichen in der Wüste. »Woher kommst du?«, fragt er. Ja, von Deutschland habe er schon mal gehört. Kevin spuckt eine braune Masse neben sich, holt eine silberne Blechdose aus seiner Hosentasche und hält sie mir hin. Der Kautabak ist dunkel und weich wie der Boden unter Newtok. Ich stecke mir einen Batzen hinter die Oberlippe und es schmeckt, als würde ich an einem schmutzigen Stromkabel lutschen. Er nickt zufrieden, als ich das Gesicht verziehe. »Wie heißt der Fluss dort, wo du zu Hause bist?« »Das kommt drauf an, was das heißen soll, Zuhause«, sage ich. Ich denke zuerst an den Neckar, nahe unserer Kellerwohnung in der schwäbischen Provinz, wo wir studiert haben und wegen Nimo auch geblieben sind. Dann denke ich an die Fulda, einen Steinwurf von meiner alten Schule in Kassel entfernt. Und schließlich an die Bauna, ein Flüsslein, das durch Baunatal fließt, am Wohngebiet meines Vaters vorbei und durch die Dörfer, bis es in die Fulda übergeht. »Welche Fische fangt ihr dort?«, fragt Kevin. Was das angeht, weiß ich wenig über meine Heimat. Aber was nützen mir Fische. Jasmina besteht darauf, dass ich mir einen richtigen Job suche. Geschichtenerzählen, das ist doch nichts. Wir müssten endlich raus aus der kalten Kellerwohnung und leben wie erwachsene Leute. Wenn ihr Vater, ein Unternehmer aus Rotterdam, uns finanziell nicht aushelfen würde, säßen wir schon auf der Straße, sagt sie. Woher nur die Kälte in dieser Wohnung komme, diese elende Kälte, da bekomme das Kind eine Lungenentzündung. Ich könne doch für die Universität Mitteilungen tippen, im Bereich Presse und Öffentlichkeit, oder gefrorenes Gemüse ausliefern. Hauptsache geregeltes Einkommen. »Als ich klein war, reichte das Ufer bis dort hinten«, sagt Kevin und hebt den Arm. »Bis zur Hälfte des Flusses.« Als ich klein war, fror bei uns hinter dem Wohngebiet in Baunatal der Leiselsee zu, spätestens im Januar. Gemeinsam schauen wir hinaus. Ich hätte es wissen können. Nein, ich habe es gewusst. Und doch trifft es mich wie ein Schlag in den Nacken. Ungefähr in Kevins Alter hörte ich zum ersten Mal das Wort Klimawandel. Herr Böhme verteilte im Politikunterricht einen Text des amerikanischen Politikers Al Gore. Der tourte mit seiner Diashow durch die Welt, mit der er die Menschheit über die Folgen des Treibhauseffektes aufklären wollte, über die arktische Eisschmelze, den steigenden Meeresspiegel und die Verwüstung fruchtbarer Landstriche. Er projizierte den Teufel an die Wand. Es hieß aber, mit ein paar mehr Windrädern würden wir das wieder in den Griff bekommen. Böhme war der einzige Lehrer mit Doktortitel und hatte mit seiner Ehefrau Bücher über Tai Chi Chuan verfasst. Er unterrichtete mit halb geöffneten Augen und konnte mit Gleichmut vom drohenden Kollaps unserer Zivilisation sprechen. Neben mir saß Max, der ab der großen Pause bekifft war. Chill mal, meinte er, als ich mich aufregte, das sei alles noch hundert Jahre hin. »Sind wir wirklich so behindert?«, sagte ich und klopfte mir gegen die Stirn. Ich war wohl laut geworden. Böhme regte sich nicht und schien durch mich hindurchzusehen. Von seinen Augenbrauen standen einzelne, sehr lange Haare ab. Wahrscheinlich massierte er sich in diesem Moment die inneren Organe per Froschbauchatmung, um sein Chi zu pushen. Da witterte Max seine Chance. »Ich find’s schwul, dass du behindert als Schimpfwort benutzt«, sagte er und legte die Stirn in Falten wie George W. Bush. Was für ein Spast, dachte ich damals. Der Ausstoß von Treibhausgasen ist seitdem nur noch gestiegen. Der Wandel aber vollzieht sich schleichend, sodass ein Menschenleben kaum auszureichen scheint, um ihn zu begreifen. Als ich aufwuchs, galten Hitzerekorde als gute Nachrichten. Sie wurden mit Bildern von Schwimmbädern und tropfenden Eiskugeln illustriert. Irgendwann habe ich verdrängt, was Böhme uns erzählt hat. Wenn, dann würde es die übernächste Generation treffen. Und niemals würde ich Kinder bekommen, dachte ich. Niemals. Jetzt ist alles anders. Der Boden scheint zu beben. Ich breite die Arme aus, um nicht umzukippen. »Haut rein, oder?«, grinst Kevin. »Du bist weiß wie der Mond, Bro.« Ich spucke den Flatschen neben mich, doch werde den Geschmack nicht los. Kevin hält mir einen Flachmann hin. Er fragt, ob ich einen Mammutstoßzahn kaufen wolle. Keinen ganzen natürlich. Er hält seine Zeigefinger eine Armlänge auseinander. So lang. 300 Dollar. Wenn die Erdbrocken in den Fluss rutschen, lösen sich die Fossilien und sinken auf den Grund. Bei Ebbe stapfen die Jungs aus dem Dorf mit Stangen durchs Watt und stochern nach Schätzen, die sie bei den weißen Händlern zu Geld machen. Die nennen es »ethical ivory«. Kevin ist egal, wie sie das nennen, er will hier raus und dafür braucht er Geld. Ich schüttele den Kopf. »Was zu rauchen?«, fragt er. 50 Dollar das Gramm. Er sagt, er könne im Grunde alles besorgen, habe gute Verbindungen nach Fairbanks, einer tausend Kilometer entfernten Stadt im Nirgendwo. Aber eigentlich habe er jetzt andere Pläne. »Die Army ist meine einzige Chance, dem Delta zu entkommen«, sagt er. Gerade trainiere er für die Aufnahmeprüfung. Liegestütze. Sit-ups. Dann zwei Meilen rennen. »Ich hab eine Scheißangst, dass die mich ablehnen.« Kevin setzt sich auf einen alten Quadreifen im Schlamm. Er zieht zwei Buttermesser aus seiner Bauchtasche. Aus einer zweiten Blechdose fingert er eine kleine Cannabisblüte, die er auf seinem Knie ablegt. Die...


Theis, Martin
Martin Theis, geb. 1985, stammt aus einem Reihenendhaus der deutschen Mittelschicht. Er hat in Tübingen Rhetorik studiert und besuchte die Reportageschule in Reutlingen. Seit 2014 veröffentlicht er Reportagen im deutschsprachigen Raum. Für Die Zeit, Süddeutsche Zeitung Magazin, Greenpeace Magazin u.a. berichtet er über die Folgen des Klimawandels. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet. Theis lebt in Tübingen.

Martin Theis, geb. 1985, stammt aus einem Reihenendhaus der deutschen Mittelschicht. Er hat in Tübingen Rhetorik studiert und besuchte die Reportageschule in Reutlingen. Seit 2014 veröffentlicht er Reportagen im deutschsprachigen Raum. Für Die Zeit, Süddeutsche Zeitung Magazin, Greenpeace Magazin u.a. berichtet er über die Folgen des Klimawandels. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet. Theis lebt in Tübingen.


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