E-Book, Deutsch, 144 Seiten
ISBN: 978-3-8031-4184-2
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
schnauzbärtige Bandit kommt - wie vorgesehen - elendiglich ums Leben, verflucht aber Gheorghe Marinescu samt all seiner Nachfahren bis ins Jahr 2000.
Der böse Fluch lastet schwer auf der Sippe Marinescu, es helfen nicht die Wallfahrt nach Jerusalem, keine Gebete noch Tricks. Er trifft den Erstgeborenen jeder folgenden Generation, und die Frauen versuchen vergeblich, Männer und Söhne zu retten: Maria die Versaute, Maria die Hässliche, Ana die schöne Hexe oder Margot die Schlange.
Irina Teodorescus Debüt ist burlesk und ernst, absurd und poetisch, es durchquert in Hochgeschwindigkeit ein ganzes Jahrhundert. Die turbulenten Volten dieser ebenso verrückten wie tragischen Familiensaga bewegen sich dabei auf einer nur angedeuteten historischen Folie: Zwei Weltkriege, Juden- und Zigeunerhass, Beginn und Ende des Kommunismus, Armut und Unfreiheit werden
unauffällig miterzählt.
Ein wunderbar heiteres und melancholisches Buch.
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Es gibt Dinge, von denen ich nichts weiß. Ich weiß, dass es zu einem bestimmten Zeitpunkt eine andere Wohnung gegeben hat, vielleicht hatte sie große, direkt nach Süden hin ausgerichtete Fenster, vielleicht waren die Sommer zu jener Zeit nicht so heiß und die Winter nicht so kalt. Vielleicht hat es einmal, oder mehrmals – ja mehrmals, warum eigentlich nicht – in jener Wohnung Sonntagmorgen gegeben, an denen das Bett ungemacht blieb und vom goldenen Licht der Sonne überflutet wurde. Und da ich mir dessen nicht sicher sein kann – außer ich frage sie, denn sie lebt noch, aber dazu habe ich keine Lust –, kann ich mir vorstellen, dass sie da waren, alle beide, an jenen Sonntagmorgen, und in der winzigen Küche der Wohnung ihren Kaffee schlürften, während sie über die kleinen Dinge des Lebens redeten, über einen Arbeitskollegen, eine Idee für die Ferien, einen entgleisten Zug, versponnene Pläne. Ich kann mir sehr gut vorstellen, und eben deshalb werde ich ihr diese Frage nie stellen, dass sie in jenen Zeiten glücklich waren. Er rauchte selbstverständlich schon, er hat immer geraucht, und dieses Bild, das Bild des durch die sonnenbeschienenen Vorhänge dringenden Zigarettenrauchs, muss wahr sein. Später gab es vielleicht eine Tischdecke auf dem Küchentisch, selbstverständlich hätte sie diese erstanden, von ihrem ersten Gehalt, und wegen ihrer Phobien und Grillen hätte sie eine geblümte Wachstuchtischdecke genommen. Vielleicht hat es genau an diesem Tisch gemeinsam verbrachte Donnerstagabende gegeben, an denen er gelacht und sie gelächelt hat. Oder Samstagabende, an denen ein Kuchen und eine Flasche brav auf das verspätete Freundespaar gewartet haben, mit dem sie verzehrt und geleert werden sollten. Aber noch einmal, all das sind lediglich Vermutungen. Selbstverständlich kann man lange so weitermachen, sich bessere Tage vorstellen, die es in einer hypothetischen Vergangenheit gegeben hätte, ja genau, warum eigentlich nicht? Jetzt, in diesem Moment, während ich sie ansehe, sie, mir gegenüber sitzend, faltig und grau und griesgrämig, steigt ein anderes Bild in mir hoch – wie seltsam, nicht wahr –, von derselben Wohnung. Ich sehe ein Sofa, ein anderes als das, das ich schon immer kannte, ein einfaches, eher hässliches Sofa, einen Couchtisch davor, auf dem der Aschenbecher steht, und ich sehe den beiden beim Liebe machen auf dem Sofa zu, ich sehe seinen nackten Hintern und ihre geöffneten Knie, sie stöhnt leise, er sagt zu ihr Na los, Püppchen – letztendlich müssen sie es so gemacht haben –, ich sehe, wie sich der Couchtisch im Rhythmus der regelmäßigen Stöße in Richtung Fenster fortbewegt.
Der Mann trägt einen langen Schnauzbart zur Schau, so lang, dass er ihm oft in die Soße seines Lieblingsgerichts – einen bei den Bauern dieser ländlichen Gegend traditionellen Brei aus weißen Bohnen – hängt. Sein Appetit lässt erkennen, dass er ein bodenständiger Mann ist: Er ist so versessen auf sein Leibgericht, dass in seinem langen Schnauzer stets eingetrocknete Überreste von weißen Bohnen hängen. Sein übelriechender Atem zusammen mit den Geruchsschwaden der ranzigen Soße ist dem Knüpfen von Freundschaften nicht gerade förderlich, weshalb der Mann allein ist und allein handelt; doch seine Aufgabe ist ehrlich: Er raubt die Reichen aus, um den Armen zu geben. Die mittellosen Bauern, denen er zu ihrem Recht verhilft, bemerken seinen abstoßenden Gestank nicht, keiner fragt sich, ob der Mann sein Äußeres nicht ein wenig vernachlässigt, keiner kommt auf die Idee, ihn den Ordnungshütern auszuliefern. Gheorghe Marinescu, ein Kleinbürger aus der Gegend, trägt ebenfalls einen Schnauzbart, aber einen viel eleganteren, akkurat gestutzt, gekämmt und sorgfältig gepflegt. Außerdem isst Gheorghe nie von diesen schwer verdaulichen Hülsenfrüchten, denn er ist der Sohn eines Mannes, der regelmäßig Wildenten jagt und sich obendrein eine Hausangestellte leisten kann, die ihm abwechslungsreiche Speisen zubereitet. Die Geschichte fängt beim Barbier an: Eines Morgens betritt Gheorghe Marinescu den kleinen Laden in der Absicht, seine untere Gesichtshälfte verschönern zu lassen. Der Barbier legt dem jungen Herrn ein Tuch über seinen Kragen und will ihn gerade mit Rasierschaum einseifen, als die Tür weit aufgerissen wird und der schnauzbärtige Bandit schweißtriefend hereinstürzt. Letzterer schnappt sich den Barbier, schüttelt ihn ein- oder zweimal und verlangt seine bestgeschliffene Klinge, und zwar schnell, denn er hat es eilig. Bei ihrer ersten Begegnung sieht der Mann mit dem langen Schnauzbart allzu abstoßend aus, aber Gheorghe – den Kopf nach hinten geneigt, die Kehle dem Barbier zugewandt – fühlt sich in seiner Position angespornt; geschickt verbirgt er seinen Ekel und verbündet sich mit dem Schnauzbärtigen. Dem offensichtlichen Anliegen des Banditen hat er etwas Besseres als eine gut geschliffene Klinge zu bieten: Unter den Habseligkeiten seines Vaters befinden sich zwei Pistolen, weder das beste noch das präziseste Modell, aber dennoch zwei Pistolen, obendrein geladen. Er sagt, er könne sie binnen einer Stunde herbeischaffen. Der schnauzbärtige Bandit mustert Gheorghes junge Gesichtszüge, beschließt, ihm zu vertrauen, er ist ja nur ein Kleinbürger, der sich bereichern will, um den würde er sich später kümmern. Also drückt er die Hand mit den gebürsteten Nägeln, die Gheorghe ihm entgegenstreckt, verabredet sich mit ihm einige Stunden später in der Dorftaverne und verlässt den Laden mit der Klinge des Barbiers. Zum Zeitvertreib schneidet der Bandit als Rächer der Armen ein paar Kehlen in der Gegend durch, die noch besser gepflegt sind als die des jungen Marinescu, und verteilt die erbeuteten, gut mit Gold gefüllten Truhen an die Notleidenden. Als die Nacht längst hereingebrochen ist und Gheorghe anfängt, die Hoffnung zu verlieren, betritt der Schnauzbärtige endlich, obwohl sein Steckbrief hier und da an den Mauern des Dorfes klebt, die Taverne. Gheorghe und seine Pistolen sind bereit. Gegen ein Dutzend Goldstücke erwirbt der Bandit die Ware, woraufhin er sich, von einem seltsamen Bedürfnis getrieben, seinen Kummer von der Seele redet: Er wird Tag und Nacht von den Ordnungshütern gehetzt, er ist müde und allein auf der Welt, er sehnt sich nach einer nie gekannten Behaglichkeit. Alles würde er für eine einzige Nacht in einem bequemen Bett geben. Gheorghe kratzt sich im Nacken, reibt sich die Stirn und schlägt dann eine Lösung für übernächsten Dienstag vor, wenn sein Vater auf Reisen sein und er das Haus ganz für sich alleine haben wird. Bis dahin muss sich der Mann mit dem langen Schnauzbart gedulden. Wennschon, dennschon, da werden noch einige gut gepflegte Kehlen dran glauben müssen, und wohlgenährte Bürger erwachen mitten in der Nacht mit dem Rohr einer der beiden Marinescu-Pistolen im Schlund. Am darauffolgenden Dienstag treffen sich die beiden Protagonisten wieder in der Taverne und gehen gemeinsam zum Hause Marinescu. Der Schnauzbärtige hat zwar schon einen Großteil seines neuen Reichtums an die bedürftigen Bauern verteilt, aber es bleiben ihm noch eine oder zwei Truhen voll Gold und kostbarstem Schmuck, das weiß Gheorghe, denn er hat alles genau ausgerechnet. Auf dem Rücken des einzigen Pferdes, das ihm sein Vater vor seiner Abreise überlassen hat, bringt er den Mann zu seinem Haus, führt ihn in die Küche, dann durch eine Falltür in den Keller, wobei er ihm versichert, dass keiner von seinem Versteck wisse und er sich also so lange ausruhen möge, wie es ihm gefalle. Er verspricht ihm zudem, dass er in weniger als einer Stunde mit einer Mahlzeit zurückkommen werde. Doch Gheorghe ist kein Mann von Wort! Zwar kann sich der schnauzbärtige Bandit ausruhen, aber weder Wasser noch Speisen werden gebracht! Während der langen nachfolgenden Stunden isst er zuerst die in seinem Bart deponierten Bohnenreste, dann schlichtweg die Barthaare selbst, und darauf gibt er Gheorghe gegen eine einzige Schale Wasser den geheimen Verbleib seiner Goldtruhen preis. Doch während der junge Marinescu sich auf Schatzsuche begibt, dürstet ihn erneut, aber nichts wird gebracht, niemand hört sein Schreien und sein Flehen, da leckt er die Schale aus, isst sie auf, lutscht seinen Schweiß, trinkt seine Tränen und säuft seine eigene Pisse. Drei Tage später stirbt er schließlich und verflucht Gheorghe Marinescu und seine gesamte Nachkommenschaft bis ins Jahr 2000. Gheorghe Marinescu hat dafür nur Spott übrig, denn nun ist er reich. Einige Monate später, beim Tode seines Vaters, rasiert er sich das Gesicht glatt, beschließt, ein Monokel zu tragen, und nimmt die Vergrößerung seines Hauses in Angriff. Er baut es zu einem stattlichen Gutshaus um, dann sucht er im Umland nach einer Frau aus gutem Hause und heiratet sie, eine gewisse Lila. Mit ihr bekommt er zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Gheorghe Marinescu selbst jedoch teilt das Schicksal aller Erstgeborenen seines verwünschten Geblüts, er stirbt an einer verirrten Kugel während einer Jagdpartie. Am Tage seines...