E-Book, Deutsch, 260 Seiten
Temming Schlaf, mein Kind
16001. Auflage 2016
ISBN: 978-3-95819-083-2
Verlag: Ullstein Midnight
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 260 Seiten
ISBN: 978-3-95819-083-2
Verlag: Ullstein Midnight
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Angela Temming, 1969 in Mannheim geboren, liebte schon früh die fein sortierte Sprache und erhielt dafür zum Abschluss ihrer Schulzeit den Scheffelpreis der Literarischen Gesellschaft Karlsruhe. Nach dem Designstudium folgte Agenturarbeit in Text und Bild. Heute lebt sie als freie Grafikerin mit ihrer Familie in Berlin, ist Mitglied der »Mörderischen Schwestern« und hat bereits mehrere Kurzkrimis in Anthologien veröffentlicht.
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II
Samstag, 6. März
Sie tauchte wieder auf.
Der Mann hielt die Leine kurz und strich seinem schwarzen Hund unentwegt über den Kopf. Während normale Menschen vor der Kälte den Mund verschließen, stieß er Dampfwolken aus. Noch nie hatte er eine Tote gesehen. Auch der Rüde nicht, der jeden Tag am Teltowkanal rannte, bei Regen und Wetter, der Gute. Ein so verdammt eisiger Wind, ewig standen sie schon hier im Dunkeln.
Der dunkelste Morgen seit langem. Lennartsson starrte hinüber zu dem Stück Ufer, wo Scheinwerfer die Bäume in grelles, krankes Licht tauchten und hell gekleidete Kriminaltechniker bereits ihre Koffer schlossen.
Er und Hardy wechselten die üblichen Worte mit dem Einsatzleiter vom Sofortdienst. Seine Informationen waren so dürftig, wie sie an einem Samstag um halb acht bei vier Grad eben sein konnten. Weibliche Wasserleiche, schaut selbst und redet mit dem Mediziner.
Stumm folgten sie dem Weg ein Stückchen weiter, bogen auf den kurzen Trampelpfad ein. Über den harten Boden, durch knöchelhohes feuchtes Gras. Bald wehte ein zarter Geruch nach totem Fisch herüber, der sich langsam verstärkte.
Das Wasser gluckerte vor sich hin, genauso friedlich wie an jeder anderen Stelle des Kanals, und Lennartsson wusste, nur fünfzig Meter weiter liefen Leute, die das gleiche Gluckern hörten und dabei lächelten.
Noch wenige Schritte.
Da lag sie.
Herausgezogen aus dem schmutzigen Wasser, bleich und verquollen, das Gesicht nur noch eine Ahnung. Die nassen dunklen Haare hingen in zerfetzten Strähnen über den Steinen. Eng um den Oberkörper geschlungen lag tatsächlich ihre Tasche, als würde sie die noch brauchen. Dunkler Wollmantel, Schal. Schuhe fehlten. Jemand hatte ihr den Rock, die löcherige Strumpfhose und den Schlüpfer ausgezogen und alles ordentlich neben sie gelegt, Doktor Karl Holderberg vermutlich, der sich über sie beugte.
Warum war Lennartsson nicht noch einmal bei ihr vorbeigefahren?
Hardy kratzte sich am Rücken. »Warum finden die Leute so was am frühen Morgen? Die stehen auf, joggen und gucken in die Büsche. Scheiße.«
»Wer ist das, Karl?«, fragte Lennartsson.
»Guten Morgen«, antwortete Karl Holderberg.
Lennartsson trat noch näher heran. Versteinerte, matte Augen stierten durch ihn hindurch. »Sag endlich.«
»Gin, was ist los mit dir?«, wandte Holderberg sich um.
»Bekomme ich eine Antwort, bitte?«
»Schon gut, schon gut. Eine Frau Sartori. Hier, ihr Reisepass. Ausweis gibt es nicht.« Er griff in seinen Koffer und reichte Lennartsson eine Plastiktüte mit der durchgeweichten Pappe darin. Dann nahm er ein Thermometer.
»Karl, wie heißt sie mit Vornamen?«
Vorsichtig drehte Holderberg die Leiche auf den Bauch und stieß das Thermometer in ihren After. »Wodka«, antwortete er im Glauben, einen guten Witz mit Gins Namen zu machen.
»Du Vollidiot!«
Holderberg sah auf.
Selbst Hardy unterstützte Lennartsson jetzt. »Es ist wichtig, Karl. Es geht um Schwestern. Welche ist es? Man erkennt sie doch kaum.«
»Sie ist sogar gut erhalten durch die Kälte. Tschuldigung, Gin, war ein schlechter Scherz. Jetzt muss ich glatt noch mal nachsehen. Gibst du mir das Tütchen wieder?«
Während Lennartsson selbst an dem Plastikverschluss nestelte, den Pass entnahm und mit dem Fingernagel zwischen die zusammenklebenden Blätter stach, begann Hardy, die Nase hochzuziehen, beherrschte sich jedoch gleich. Lennartsson klappte die Papiere zu, reichte sie Hardy und fragte Holderberg, wie lange Olivia tot war.
»Mindestens zwei Tage«, sagte Karl.
Zwei Tage. Und gestern hatte er Mila noch gesehen. Die Angst, die Schwestern könnten die Pässe getauscht haben, war ja auch völlig abwegig. Natürlich war es Olivia.
Schlimm genug.
Staatsanwalt Raacke kam über den Trampelpfad, sein blondes Kraushaar leuchtete im Scheinwerferlicht. Raacke, das Fleißbienchen. Mit etwas Glück fand man eine Leiche dann, wenn Raacke bei Gericht war.
Man nickte reihum.
»Bis jetzt nur Larven von Köcherfliegen«, erklärte Karl, »keine Haustierchen. Bleibt es dabei, ist sie hier draußen umgekommen.«
»Oder die Wohnung war extrem sauber«, warf Raacke ein.
Hardy lachte. »Der war jut, ha, ha. Sie kennen die Wohnung nicht.«
»Keine Leichenflüssigkeit im Boden, also angespült«, sagte Karl.
»Die Schürfwunden an den Knien kommen vom Treiben.«
»Genau, Herr Staatsanwalt«, atmete Karl aus. »Ich schätze, sie trieb höchstens einen Kilometer, bei den wenigen Verletzungen. Zum Zeitpunkt …«
»… sagen Sie natürlich noch nichts, Sie müssen erst die Temperaturen auswerten und Eiweiße bestimmen.«
Karl Holderberg atmete tief ein. »Selbst dann sind Angaben zur Liegezeit sehr relativ bei Wasserleichen.«
»Aber sie ist länger als einen Tag tot, ganz sicher?«, fragte Lennartsson schnell.
Das Thermometer piepte und Holderberg zog es heraus. »Wegen der Waschhaut. Die Füße sind schon betroffen. Und hier, am Handteller auch, am Handrücken noch nicht: zwei bis drei Tage, also Mittwoch oder Donnerstag. Aber die Kälte kann das alles verzögern, also ist es vielleicht schon länger her. Pessimismus, Leute. Den Rest nach dem Labor. Dahin muss sie auch endlich, bevor alles verdorben ist, Wasserleichen haben an der Luft ein Eigenleben.«
Raacke bestimmte, dass Oberkommissar Peer Rolfe an der Obduktion teilnehmen sollte, damit die Herren Hauptkommissare Lennartsson und Schneider sich um die Angehörigen kümmern konnten. Er schlug noch vor, herzliches statt aufrichtiges Beileid zu wünschen, das würde besser ankommen, was Hardy veranlasste, das Lied von Biene Maja zu pfeifen.
»Moment«, sagte Dr. Karl Holderberg. »Ich habe noch etwas. Wo habe ich das jetzt? Augenblick.«
»Schon blöd, dass sie auf unserer Seite gelandet ist«, meinte Hardy. »Bei etwas günstigerer Strömung wäre sie drüben in Brandenburg angekommen, aber nein, jetzt haben wir sie an der Backe. – Wäre ich am Mittwoch früher in ihrer Wohnung gewesen, hätte ich sie vielleicht noch erwischt, und sie sähe jetzt nicht so blass aus wie eine von Mutters Puppen.« Er hob die Schultern. »Aber so ist das. Wenn ihr Chef sich gleich am Montag gemeldet hätte, wenn wir sofort zu Mathilde gefahren wären, wenn, wenn. Keiner ist so zappelig wie das Schicksal.« Er kratzte sich am Kinn. »Du hast bei ihr den Kassenzettel von etwa drei Uhr gefunden. Also, du und die befangene Schwester der Toten, die vielleicht nicht ganz dicht ist.«
»Wie bitte?«, horchte Raacke auf.
Lennartsson schwieg.
Hardy pulte in seinem Ohr. »Halb vier kam der Anruf von Mathilde. Ich sag euch was: Olivia geht shoppen, Mathilde erreicht sie nicht, kommt persönlich, inzwischen ist Olivia daheim. Sie gehen spazieren, streiten wieder – und flatsch, ab ins Wasser.«
»Wenn du jemanden nicht erreichst, gehst du dann hin?« Gin Lennartsson, gestern Abend erst. Wo steckte Mila? »Aber gut, fragen wir Mathilde, warum genau sie anrief. Karl«, wandte er sich wieder an den Mediziner, »was war noch?«
»Gleich!«
Lennartsson hielt den Einsatzleiter an und schlug vor, die Tatortsuche mit Hilfe von THW und Feuerwehr auf zwei Kilometer Uferlänge auszudehnen. Raacke verabschiedete sich mit einem kurzen und, wenn man es genau nahm, leicht unsouveränen Winken in Hüfthöhe und folgte dem Mann, auf ihn einredend.
Dann zog Lennartsson Hardy zur Seite. »Ich rede allein mit Mila.«
»Wie – allein? No way, Gin!«
»Kommt ihr?«, rief Holderberg herüber, und sie gehorchten. »Da ist wie gesagt noch etwas.« Er hob beide Augenbrauen und schielte von einem zum anderen, als könnten sie es erraten.
Hardy brummte mit einem Seitenblick zu Lennartsson: »Ja, das denke ich allerdings auch. Spuck’s aus.«
»Ein Mutterpass.«
Lennartsson schloss kurz die Augen.
Schief lächelnd streckte Karl ihnen einen Plastikbeutel mit einem hellblauen Heftchen darin entgegen. »Man sieht noch nichts. Aber vielleicht beobachtete sie jemand beim Erbrechen, so was kommt vor am Anfang. Acht Wochen und ein Tag, laut Mutterpass.«
Hardy nahm den Beutel entgegen und starrte auf die Leiche. »Olivia Sartori, die Lebenskünstlerin. Zwei Kinder. Beide tot. Den Tod des zweiten hat sie allerdings verpasst«, sagte er. »Was natürlich besser für sie ist.«
Ein Baby, dachte Lennartsson, ein Baby – und damit ein Mordmotiv. Ein Mann ertränkt die Frau, damit sie das Baby nicht bekommt. Tatsächlich? Absurder Gedanke, besann sich Lennartsson, als wäre ein Kind etwas Schlimmes, etwas, das das Leben zerstört. Was diese Arbeit aus ihm machte.
Natürlich tauchte Gabriela vor ihm auf, wie sie ihn anschrie, die Augen unter Strom: Ich bekomme es, auch ohne dich, zum Donnerwetter, oder auch nicht. Wie du mir so was vorschlagen kannst. Du liebst mich nicht, nie hast du mich geliebt, nie.
Wogegen er nicht einmal protestiert hatte.
Und das Kind, es war zu abstrakt für ihn, ein Zellhaufen, ein Versehen, etwas, wogegen es Mittel gab. Das waren tatsächlich seine Gedanken gewesen, nicht einmal Gefühle, nur Gedanken, so weit konnte er sich das inzwischen eingestehen. Nur reines, analytisches Denken.
Dann verschwand Gabriela. Ob sie das Kind bekommen hatte, wusste er nicht. Und er wusste auch nicht, ob ihm das nicht egal sein sollte.
»Was ist? Besuchen wir Mila!«, verlangte Hardy.
»Ich mach das...