E-Book, Deutsch, 262 Seiten
Reihe: Lenos Polar
Tavernier Der Freund
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-03925-717-1
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 262 Seiten
Reihe: Lenos Polar
ISBN: 978-3-03925-717-1
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mit dem Haus im Grünen hat sich Thierry einen Traum erfüllt. Zusammen mit Élisabeth genießt er die Ruhe und Abgeschiedenheit des Wohnens nahe einem Wald. Im einzigen Haus nebenan leben Guy und Chantal.
In den vier Jahren ihrer Nachbarschaft haben sich die Paare angefreundet. Die Männer pflegen gemeinsame Interessen, gehen angeln, züchten Insekten. Die Frauen tauschen Rezepte, immer wieder verbringen sie zusammen gemütliche Abende.
Eines Morgens werden die Häuser von der Polizei umstellt. Bewaffnete Spezialeinheiten stürmen das Nachbargebäude, akribisch werden die Gärten und der nahe gelegene Wald durchkämmt. Thierry und Élisabeth erfahren, dass der freundliche Nachbar seit Jahren als Serienmörder gesucht wurde. Eine Welt bricht für sie zusammen, ihr gemeinsames Leben zerfällt.
Von seiner Frau verlassen, sieht Thierry sich gezwungen, sich seiner eigenen verdrängten Lebensgeschichte zu stellen. Wie konnte er in seinem besten Freund nicht das Böse erkennen? In Guy widerspiegelt sich seine eigene Vergangenheit.
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1
Es ist ein Samstag wie jeder andere. Ich ziehe mich im Halbdunkel an, damit Élisabeth nicht aufwacht. Unten an der Treppe keine Jules. Sonst empfing sie mich immer mit freudigem Gebell. In der Küche schalte ich die Kaffeemaschine an, nehme eine Tasse aus dem Schrank. Draussen dämmert der Morgen herauf, das Laub der Eichen rauscht. Drüben schlafen alle noch. Die Stille ist allgegenwärtig. Als Jules starb, hat Élisabeth darauf bestanden, dass sie auf einem Hundefriedhof beerdigt wird, den Grabstein hat sie auch ausgesucht. Weiss. Es war eine schöne Trauerfeier. Sogar Élisabeths Schwestern sind gekommen. An dem Abend haben wir so viel getrunken, dass alle bei uns übernachtet haben, ausser Guy und Chantal natürlich. Hat mir viel bedeutet, dass sie gekommen sind. Vor allem Guy. Chantals Depression ist wirklich zum Kotzen. Ja, Kotzen ist das richtige Wort. Wir hören sie manchmal streiten, bis spätabends, dann ist Ruhe, es geht vorbei. Die Sache mit Nelly, ihrer Hündin, ist jetzt ein Jahr her. Das war wirklich Pech, wo hier so wenig Verkehr ist. Das Schwein, das sie überfahren hat, hat sich natürlich hübsch aus dem Staub gemacht, er wurde nie gefunden. Die Hündin schon. Was von ihr übrig war, jedenfalls: ein blutiger Haufen Fleisch, den Guy und ich noch am selben Abend begraben haben. Mit Hacke und Schaufel, in ihrem Garten. Eine schreckliche Nacht, wie man sie nicht erleben möchte. Guy weinte still vor sich hin, ich grub. Vielleicht wollte Élisabeth deshalb Jules’ Beerdigung im grossen Stil begehen. Um das Unglück wettzumachen. Auf dem Küchentisch reibt eine Musca domestica die Beine aneinander, leicht zu erkennen an den grossen roten Augen und dem grauen Thorax. Ich frage mich, ob es in Vietnam welche gibt. Wenn Marc sich das nächste Mal meldet, frage ich ihn. Sieht ganz so aus, als ob es ihm dort prima gefällt. Auf seinen Instagram-Fotos lächelt er immer, was Élisabeth beruhigend findet. Ich nicht. Was musste er sich ausgerechnet dieses Land aussuchen? Meinem Vater hätte das garantiert nicht gefallen. Und dann dieser Job in dem grossen Hotel. Behandeln die ihn wenigstens gut? Draussen färbt der Himmel sich allmählich hellrosa. Ich bin nicht viel herumgekommen. Einmal, mit zweiundzwanzig, war ich ein paar Tage in Spanien, ein anderes Mal in Schweden, mit Élisabeth. Dann kam Marc. Auf Reisen hatten wir dann gar keine Lust mehr, höchstens ans Meer, im Sommer, mit dem Kleinen. Manchmal finde ich es ganz komisch, ihn so weit weg zu wissen. Brutal kommt der Schmerz wieder hoch. Und geht vorbei, wie die Streitereien von Guy und Chantal. Dabei wohnt er seit Jahren nicht mehr zu Hause, aber gut, die Uni war nur eine Autofahrt entfernt. Jetzt leben wir nicht einmal mehr in derselben Zeitzone, und auch wenn wir skypen, je länger das so geht, desto weniger haben wir uns zu sagen. Die Fliege hebt vom Tisch ab und setzt sich auf die Fensterscheibe. Die Stunden, in denen alles noch ruhig ist, sind mir das Liebste. Keine Autos, kein Telefonklingeln. Lediglich das langsame Heraufdämmern des Tages, das Knacken der Äste im Wind. Ich trinke meinen Kaffee in einem Zug. Danach mache ich meinen Spaziergang an der Aune. Um diese Uhrzeit bin ich dort noch nie jemandem begegnet, ausser einmal Chantal. Die Sonne war gerade aufgegangen. Da sah ich sie am Flussufer sitzen, sie starrte ins Leere. Wie sie sich erschreckt hat, als ich aufgetaucht bin. Sie hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan und gehofft, ein wenig frische Luft tue ihr gut. Ich habe gefragt, ob sie auf einen Kaffee mit reinkommen möchte. Sie hat mich merkwürdig angestarrt, dann ist sie mit einem Mal aufgesprungen und weggelaufen. Élisabeth sagt, es sei wegen ihrer Medikamente. So starkes Zeug, dass es manchmal Monate dauert, bis man richtig eingestellt ist. Erste Sonnenstrahlen fallen in die Küche. Bald können wir auf der neuen Hochterrasse frühstücken. Was für eine Plackerei das war, die Fläche auszuheben. Aber jetzt ist es so weit, die Pfosten sind in der Erde, ich muss nur noch die Dielen verlegen. Wir könnten eine Hollywoodschaukel aufstellen, wie in den amerikanischen Filmen. Untendrunter werde ich Brennholz lagern, und für Regentage will ich auch noch eine Überdachung bauen. Von hier aus hat man einen herrlichen Blick. Bäume, nichts als Bäume. Das hat mir am meisten gefallen, als wir zufällig dieses Haus entdeckten. Die unberührte Natur rundherum. Élisabeth nicht. Der Gedanke, so abgelegen zu wohnen, machte ihr Angst. Das Angebot war sehr günstig, ich habe sie angefleht, es sich noch mal zu überlegen. Nicht nur, dass es spottbillig zu haben war und Potential für jede Menge Ausbaumöglichkeiten bot, von hier aus waren es auch nur zehn Kilometer bis zu der Fabrik, in der ich arbeite, und nicht mal acht Kilometer bis P., dem Städtchen, in dem Élisabeth als Krankenschwester sehnlichst erwartet wurde. Eine Wohnung in der Stadt würde pro Tag Dutzende zusätzliche Kilometer und viel weniger Wohnfläche bedeuten. Trotzdem war Élisabeth unschlüssig, und ich wollte schon aufgeben, da brachte ihre Mutter den Gedanken ins Spiel, uns einen Hund zuzulegen. Das war wie Zauberei. Mit einem Hund – aber ein richtiger Wachhund, ja? –, dann, ja, dann konnte Élisabeth sich vorstellen, hier zu leben. In den Tagen nach unserem Umzug war ich so aufgeregt, dass ich mich direkt ans Renovieren machte: unser Schlafzimmer, das Kinderzimmer des Kleinen, das Bad, dann im Erdgeschoss Wohnzimmer, Küche und Garage. Heute haben wir all das und sogar ein drittes Schlafzimmer, das Élisabeth vor zwei Jahren in Ermangelung weiterer Kinder zum Atelier umfunktioniert hat. Sie verbringt dort mehr und mehr Zeit und malt ihre »Erleuchtungen«: Anhäufungen von Formen und Farben, mit denen ich nichts anfangen kann. Aber was soll’s, ihr tut es gut, und bei dem, was sie auf Arbeit alles aushält … In einer Ecke steht noch das Bett; ihre Schwestern übernachten manchmal darin. Mein Bruder nie. Aber das ist eine andere Geschichte. Ich werfe einen Blick auf die zweite Uhr. In Hanoi ist es fast Mittag, in den Strassen wimmelt es von Menschen. Hier ist das Gras noch taunass, und die Libellen schlafen. Im frühen Morgenlicht funkelt alles, selbst die Felsen. Mit ein bisschen Glück fange ich ein paar Flusskrebse, und wenn das Wasser nicht zu kalt ist, kann ich dort, wo die Aune ein bisschen tiefer ist, unter dem Blätterdach baden. Heute wird es schön. Der Himmel ist wolkenlos. Vielleicht kann ich nachmittags mal die grosse Leiter rausholen und nachschauen, wo am Dach es hereinregnet. Ob Guy mir wohl beim Tragen hilft? Heute Nacht habe ich seinen Lieferwagen sehr spät zurückkommen hören. Wenn es mit Chantal zu hitzig wird, fährt er stundenlang durch die Gegend, um sich zu beruhigen. Die Morgen danach sind nicht leicht. Ausgerechnet, wo ich endlich einmal keine Rufbereitschaft habe. Ich werde trotzdem mein Glück versuchen, aber nicht vor Mittag. Morgens hat Guy üble Laune. Allmählich kenne ich ihn, nach all der Zeit. Ich ziehe die Gummistiefel an und nehme mir vor, Lisa nachher das Frühstück ans Bett zu bringen. Und noch einmal zu ihr unter die Decke zu schlüpfen. Erst würde sie schimpfen, weil ich dann nach Schlick stinke, mir am Ende aber verzeihen, weil ich an die Marmelade gedacht habe. Wir haben wirklich Glück, dass wir uns nach all den Jahren noch immer so sehr lieben. Und dass wir so ein geruhsames Leben führen, obwohl sie täglich geschaffter ist, wegen der Überlastung auf Arbeit, und ich selbst komme immer schwerer aus dem Bett, wenn ich mitten in der Nacht in die Fabrik gerufen werde, um dringend eine kaputte Maschine zu reparieren. Dennoch, kein Vergleich zu dem Leben meines Bruders, immer im Krieg, zumindest habe ich mir sein Leben in diesen fernen Ländern stets so vorgestellt. Wenn wir, was selten genug vorkommt, miteinander sprechen, traue ich mich nie, ihn danach zu fragen, und von sich aus erzählt er nichts. Noch nicht mal eine Frau oder ein Kind hat er. Ich schnappe mir die Jacke, bin im Begriff, die Tür aufzumachen. Nanu, Motorengeräusche, und zwar von mehr als einem Auto. Dabei gibt es hier nur unsere beiden Häuser. Was kann das bloss sein? Ich öffne die Tür, sehe sprachlos zu, wie eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs Polizeiautos und ein Krankenwagen mit Höchstgeschwindigkeit angerauscht kommen. Gleichzeitig rennen etwa zwanzig behelmte Männer, wahrscheinlich GIGN*, mit heruntergelassenem Visier, kugelsicherer Weste und Waffe in der Hand aus dem Wald. Die Szene ist dermassen surreal, dass ich mich frage, ob ich mir das nicht einbilde. In einer Staubwolke kommen die Autos vor Guys und Chantals Haus zum Stehen. »Monsieur, Sie können nicht hierbleiben.« Ich mache einen Satz nach hinten, starre den Mann an, der sich vor mir aufgebaut hat. »Capitaine Bretan, Gendarmerie nationale.« Hinter ihm umzingelt die Spezialeinheit Guys und Chantals Haus, kniend, die Waffen im Anschlag. Was zum … »Monsieur?« In meinem Kopf herrscht unbeschreibliches Chaos. Seine klare, freie Stirn. »Wie viele Personen befinden sich...