Tadday | Walter Zimmermann | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 207, 136 Seiten

Reihe: MUSIK-KONZEPTE

Tadday Walter Zimmermann

E-Book, Deutsch, Band 207, 136 Seiten

Reihe: MUSIK-KONZEPTE

ISBN: 978-3-68930-024-1
Verlag: Richard Boorberg Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wer die Welt des Komponisten Walter Zimmermann (*1949) bereist, überquert nicht nur musikalische, sondern auch literarische und philosophische Kontinente.

Man begegnet Novalis, Hölderlin, Nietzsche und Wittgenstein, reist über die Seidenstraße und ist mit Zimmermann bei amerikanischen Komponisten zu Hause. Allein ein flüchtiger Blick in das Findbuch des Walter-Zimmermann-Archivs der Akademie der Künste, Berlin genügt, um einen Eindruck von der intellektuell tiefen Dimension des Komponisten zu erhalten. Die Beiträge des Bandes gehen der Frage nach, wie sich dieser Gedankenkosmos in der Musik von Walter Zimmermann Ausdruck verschafft.

Mit Beiträgen von Stefan Drees, Thomas Groetz, Susanne Heiter, Martin Kaltenecker, Walter-Wolfgang Sparrer, Werner Strinz und Dirk Wieschollek.
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Weitere Infos & Material


- Vorwort
- Dirk Wieschollek: Wolkenorte und Gedankenkristalle. Walter Zimmermanns poetischer Konzeptualismus
- Werner Strinz: Beobachtungen zur Transkription als Kompositionstechnik in "Suave mari magno" von Walter Zimmermann
- Stefan Drees: Das misslingende Unisono. Walter Zimmermanns "Dit" als performative Kulturkritik
- Walter-Wolfgang Sparrer: Worte des Zweifels. Walter Zimmermanns "Voces abandonadas" für Klavier (2005/06)
- Thomas Groetz: Musik und Sprache bei Walter Zimmermann
- Martin Kaltenecker: Melodien Walter Zimmermanns
- Susanne Heiter: Vom "Zwang", sich zu erklären. Walter Zimmermann im Komponistenforum der Darmstädter Ferienkurse

Abstracts
Bibliografische Hinweise
Zeittafel
Autoren und Autorinnen


WERNER STRINZ Beobachtungen zur Transkription als Kompositionstechnik in Suave mari magno von Walter Zimmermann1
Wenn der Protagonist von Thomas Manns Roman Doktor Faustus, der Komponist Adrian Leverkühn, seine Vision einer strengen Schreibweise außerhalb der musikalischen Konventionen entwickelt – in der Erzählung wie in der historischen Realität ist es die Zwölftontechnik –, wird der ideelle Boden für sein Vorgehen durch ein Bewusstsein für die Entwicklung des kompositorischen Materials am Ende der postwagnerianischen Ära vorbereitet. Nicht umsonst war Theodor W. Adorno Manns musikalischer Berater. Doch zu dem Zeitpunkt, als Leverkühn konkret mit der Idee zu experimentieren begann, die vertikale und horizontale Dimension der musikalischen Schrift durch ein einziges formbares Material zu erzeugen, schöpfte seine Erfindung nicht aus den kombinatorischen Möglichkeiten der musikalischen Noten, aus dem locus notationis2 im eigentlichen Sinne. Im Gegenteil: Der Ursprung des Grundmaterials seines Experiments ist ein musikalisches Anagramm. So findet die schöpferische Erfindung durch den Rückgriff auf ein literarisches Element, dessen ideelle Bedeutung sich in der materiellen Präsenz der Buchstaben des Alphabetes und ihrer Entsprechungen in der musikalischen Notation fortsetzt, ihre Anhaltspunkte außerhalb der Kriterien der Komposition und sichert sich gleichzeitig eine strukturelle Substanz, die geeignet ist, musikalisches Material zu werden – als ob Mann seinen fiktiven Komponisten vor der Inspiration, dem Einfall, in Sicherheit bringen wollte. Im Roman ist dieses konkrete literarische Element ein Name, dessen anagrammatische Verschlüsselung3 – die Buchstaben, die den neun Notennamen der deutschen Musiktheorie entsprechen, werden beibehalten – zu einer musikalischen Zelle führt, wie die vielen Beispiele für anagrammatische Zellen, die für die deutsche Musik charakteristisch sind: das B-A-C-H, die Sphinxes in Schumanns Carnaval und nicht zu vergessen die Anagramme in Alban Bergs Kammerkonzert. Als Leverkühn seine Ideen seinem Freund Serenus Zeitblom vorstellte, warnte dieser ihn vor der Gefahr der Monotonie, die durch die Reduzierung der Erfindung auf diese Art von Material hervorgerufen wird, und Leverkühn – und durch ihn Adorno – erinnerte ihn an die evolutionäre Kraft von Schreibtechniken und Variationsverfahren. Um die Beziehung des Anagramms und des Kompositionsergebnisses zu den Kategorien der Schöpfung neu zu formulieren: Das Anagramm hat seinen ästhetischen Präsenzbereich, aber seine musikalische Präsenz ist der vom Komponisten erdachten musikalischen Gestaltung untergeordnet. Ganz anders verhält es sich, wenn ein literarischer Text auf der Grundlage einer wie auch immer gearteten Äquivalenzbeziehung zwischen musikalischer Notation und den Buchstaben eines Alphabetes eine aktive Rolle in der poietischen Dimension des Werks einnimmt. Die Frage nach der konkreten Konsistenz dieser Äquivalenzbeziehung zwischen Notation und Alphabet – vollständig oder teilweise – ist hier zweitrangig. Entscheidend ist, wie sich der Text in seiner materiellen Kontinuität auf die Entfaltung des musikalischen Textes auswirkt. Fassen wir die Frage nach den poietischen Kontaktzonen einer literarischen Äußerung und der musikalischen Kreation durch folgende Gegenüberstellung zusammen: auf der einen Seite die »Musikalisierung« eines literarischen Elements, das nach den Kompositionsstrategien der seriellen Techniken in musikalisches Material umgewandelt wird, auf der anderen Seite die »Textualisierung« der musikalischen Schrift, deren Entwicklung dem Ablauf von Wörtern und ihren Buchstaben untergeordnet ist. Dieser Gegensatz wird uns bei den Betrachtungen zu Walter Zimmermanns Transkriptionsverfahren leiten. I Kontext
Im aktuellen Gesamtbild von Zimmermanns musikalischem Schaffen stellt der umfassende, sowohl ideelle als auch materielle Rückgriff der musikalischen Erfindung auf einen literarischen Text ein eher marginales Phänomen dar; bedeutende Werke sind die Fragmente der Liebe für Tenorsaxofon bzw. Bassetthorn und Streichquartett (1987) und der sechssätzige Zyklus Suave mari magno. Seiner Transkriptionsidee widmete Walter Zimmermann jedoch einen Text, der bis heute der umfassendste Kommentar zur inneren Szene seines Schaffens bleibt.4 Die Motivation, der Transkription so viel Aufmerksamkeit zu widmen, scheint der hohe Grad ihrer Formalisierung zu sein, beginnend mit der Entscheidung für die Form der Projektion eines Alphabetes in die Konventionen der Musiksprache und weiterführend mit dem Kompositionsverfahren, die dieser Projektion dienen. Da Walter Zimmermanns Schaffen auf einem Netz struktureller Zwänge und Verfahren beruht, beruft er sich auf eine lange musikalische Traditionslinie, und wir werden aus der Mischung aus poietischen und ästhetischen Argumenten, mit denen der Komponist seine Position begründet5, den Aspekt herausgreifen, der uns für eine kritische Betrachtung des untersuchten Werks am fruchtbarsten erscheint: die von Zimmermann betonte Affinität zur seriellen Musik. »Ich bin vielleicht ein verkappter serieller Komponist, das ist meine Selbstzuschreibung, aber ich muss schon sagen, dass die serielle Musik für mich wirklich wie ein Naturereignis war […].«6 Ausgehend von dieser Stellungnahme Zimmermanns werden wir uns im Folgenden auf die elementaren Kriterien beziehen, die die serielle Idee charakterisieren. Diese Kriterien wurden in zahlreichen genetischen Studien aufgedeckt und haben es ermöglicht, Abstand vom Bild einer bis ins kleinste Detail kontrollierten Schöpfung zu nehmen. Indem wir zwischen den Etappen der Produktion des Grundmaterials, seiner Umsetzung durch die Werkzeuge des musikalischen Schreibens und schließlich seines Ins-Werk-Setzen in den Dimensionen Zeit und Raum unterscheiden, werden wir unsere Aufmerksamkeit auf die Herausforderungen dieser Kriterien richten, auf ihre Variabilität an den Rändern einer strengen, ja mechanischen Schreibweise oder einer freien, organischen, spontanen und unvorhersehbaren Schreibweise in Bezug auf die Zwänge der strukturellen Daten. II Quellen
Nach heutigem Stand ist der Suave mari magno-Zyklus eines der am meisten kommentierten Werke in Walter Zimmermanns musikalischem Schaffen.7 Mit seinem Rückgriff auf die Philosophie Epikurs und, abgesehen von diesem geistigen Zentrum des Werks, mit einem breiten Spektrum an ideengeschichtlichen Bezügen, die in den Kommentaren und in den Titeln der sechs Sätze angedeutet werden, konfrontiert uns der Zyklus mit einer außergewöhnlichen ideellen Dichte. Aus dieser Fülle wollen wir das Element herausgreifen, das als das Herzstück8 der epikureischen Philosophie angesehen werden kann und das aufgrund seiner ideellen und materiellen Dimensionen auch das Zentrum der Idee des Zyklus ist: das Clinamen (griech.: »pa??????s??«). Bei Epikur stellt »pa??????s??« – parenklisis eine Erweiterung von Demokrits9 atomarer Dynamik dar: Die Atome haben nicht nur zwei Bewegungsrichtungen – eine erste, idealerweise lineare und »von oben nach unten« verlaufende, die zweite besteht aus Begegnungen und Koagulationen, die die Stoffe der greifbaren Welt bilden –, sondern noch eine dritte, die als Abweichungen verstanden werden muss, die sowohl unendlich klein (um nicht mit der Wahrnehmung der relativen Konstanz von Materie und Vakuum in Konflikt zu geraten) als auch unvorhersehbar sind (und sich somit der von Demokrit angenommenen Determiniertheit der Atombahnen entziehen). Im Zusammenhang mit der poetischen Übertragung des epikureischen Denkens in Lukrez’ De rerum natura durch den Begriff clinamen latinisiert, wird diese minimale Abweichung der Bewegungen der Atome als Quelle aller kreativen Phänomene angesehen, von der Erzeugung der unendlichen Vielfalt der Materie durch die Kombinationen der Atome bis hin zur Manifestation des freien Willens des Menschen, da Epikur davon ausgeht, dass die menschliche Seele ebenfalls aus Atomen bestehe. Der bedeutendste Unterschied zwischen dem Clinamen und den Determinanten der atomaren Dynamik ist die Spontaneität und die Unvorhersehbarkeit seines Auftretens. Während das Clinamen in der gesamten epikureischen Philosophie den Status eines Katalysators hat, der die verschiedenen Bereiche miteinander verbindet, führt der Gesamttitel des Zyklus, Suavi mare magno, der sich wie das Incipit einer mittelalterlichen Motette präsentiert, in die metaphysische Dimension von Epikurs Denken ein. Die unvollständige grammatikalische Konstruktion dieses Incipits wird durch den Kontext des Zitats, das aus dem zweiten Buch von Lukrez’ De rerum natura stammt, verdeutlicht. »Suavi, mari magno turbantibus aequora ventis e terra magnum alterius spectare laborem; non quia vexari quemquamst iucunda voluptas, sed quibus ipse malis careas quia cernere suavest.«10 Der Leser im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, der möglicherweise vom Zynismus dieser Überlegung überrascht ist, wird im weiteren Verlauf des zitierten Textes den metaphorischen Wert der beschriebenen Situation verstehen: Der in der Schiffbruchszene evozierte Zuschauer findet sich beruhigt auf dem festen Boden des idealen Seelenzustands der Ataraxie. Die Beziehung dieser beiden Bezugspunkte des...


Tadday, Ulrich
Ulrich Tadday, geb. 1963, Studium der Musikpädagogik und Musikwissenschaft, Germanistik und Philosophie an den Universitäten Dortmund und Bochum; Staatsexamina, Promotion und Habilitation; seit 2002 Professor für Historische Musikwissenschaft an der Universität Bremen; seit 2004 Herausgeber der Neuen Folge der "Musik-Konzepte".


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