E-Book, Deutsch, 432 Seiten
Szerb Reise im Mondlicht
1. Auflage 2009
ISBN: 978-3-423-40150-0
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 432 Seiten
ISBN: 978-3-423-40150-0
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der erfolgreiche Roman des wiederentdeckten großen ungarischen Schriftstellers
Der erfolgreiche Roman des wiederentdeckten großen ungarischen Schriftstellers
Mit feiner Ironie erzählt Antal Szerb in diesem wahrhaft europäischen Roman die Geschichte einer jungen Ehe. Er beleuchtet den Weg des frischvermählten Paars Erzsi und Mihály wie der helle Mond eine venezianische Gasse. Bereits auf der Hochzeitsreise in Italien wird Mihály durch die unerwartete Begegnung mit einem alten Freund von melancholischen Erinnerungen an seine rebellische Jugend überwältigt, und erste Phantasien über das Ende ihrer Beziehung beschleichen ihn. Als er seine Frau auf der Weiterreise an einem kleinen Bahnhof aus Versehen 'verliert', begreift Mihály dies als ein Zeichen, und eine ganz andere Reise beginnt, eine Schattenreise zum Selbst.
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3
Ein paar Abende danach kamen sie in Ravenna an. Am folgenden Morgen stand Mihály sehr früh auf, zog sich an und ging aus dem Hotel. Er wollte sich die byzantinischen Mosaiken, Ravennas berühmteste Sehenswürdigkeit, allein anschauen, denn jetzt wußte er schon, daß er mit Erzsi vieles nicht teilen konnte. Dazu gehörten auch die Mosaiken. Erzsi war in kunstgeschichtlicher Hinsicht viel beschlagener und empfänglicher als er, und sie war auch schon in Italien gewesen, so daß Mihály meistens sie entscheiden ließ, was man zu besichtigen und was man dabei zu denken hatte. Ihn selbst interessierten Bilder nur selten, nur zufällig, in einem Aufblitzen, eins von Tausend. Aber die Mosaiken von Ravenna … das war ein Denkmal seiner eigenen Vergangenheit. Die Mosaiken hatten sie einst zusammen angeschaut, er, Ervin, Tamás Ulpius und Éva, Tamás’ jüngere Schwester, in einem großen französischen Buch, unerklärlich nervös und geängstigt, an einem Weihnachtsabend bei den Ulpius zu Hause. Im riesigen Nebenzimmer war der Vater von Tamás einsam auf und ab gegangen, sie hatten die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, so betrachteten sie das Buch, und der goldene Hintergrund der Bilder schimmerte ihnen entgegen wie ein Licht unbekannten Ursprungs in der Tiefe eines Minenschachts. An den byzantinischen Bildern war etwas, das ganz unten in ihrer Seele ein Grauen aufwühlte. Um Viertel vor zwölf zogen sie ihre Mäntel an und machten sich verfrorenen Herzens auf den Weg zur Mitternachtsmesse. Dort fiel Éva in Ohnmacht; es war das einzige Mal, daß ihr die Nerven einen Streich spielten. Danach war einen Monat lang alles Ravenna, und für Mihály blieb die Stadt eine undefinierbare Art von Angst. Das alles, jener tief versunkene Monat, erwachte in ihm, als er jetzt in San Vitale vor den wundervollen, hellgrün getönten Mosaiken stand. Seine Jugend kam mit solcher Wucht über ihn, daß ihm schwindlig wurde und er sich an eine Säule stützen mußte. Es dauerte aber nur einen Augenblick, danach war er wieder ein ernster Mensch. Die anderen Mosaiken interessierten ihn nicht mehr. Er ging ins Hotel zurück, wartete, bis Erzsi fertig war, und dann besichtigten und besprachen sie alle Sehenswürdigkeiten ordnungsgemäß. Mihály sagte natürlich nicht, daß er am frühen Morgen schon in San Vitale gewesen war, er drückte sich ein bißchen verschämt in die Kirche hinein, als ob ihn etwas verraten könnte, und um seine morgendliche Erschütterung zu kompensieren, sagte er, so toll sei das ja gar nicht. Am Abend des folgenden Tages saßen sie auf der kleinen Piazza vor einem Café, Erzsi aß Eis, Mihály probierte ein unbekanntes bitteres Getränk, das ihm aber nicht schmeckte, und er zerbrach sich den Kopf, womit er den bitteren Geschmack hinunterspülen könnte. »Fürchterlich, dieser Geruch«, sagte Erzsi. »Wo immer man hingeht in dieser Stadt, riecht man ihn. Ich stelle mir einen Gasangriff so vor.« »Kein Wunder«, sagte Mihály. »Die Stadt hat einen Leichengeruch. Ravenna ist ein dekadenter Ort, der seit mehr als tausend Jahren verkommt. Der Baedeker sagt das auch. Die Stadt hatte drei Glanzzeiten, die letzte war im achten Jahrhundert nach Christus.« »Ach was, du Trottel«, sagte Erzsi lächelnd. »Du denkst immer gleich an Tod und Verwesung. Dieser Gestank kommt doch gerade vom Leben, vom Wohlstand:von einer Kunstdüngerfabrik, von der ganz Ravenna lebt.« »Ravenna lebt vom Kunstdünger? Die Stadt, in der Theoderich der Große und Dante begraben sind, die Stadt, neben der Venedig ein Parvenu ist?« »Jawohl, mein Lieber.« »Was für eine Schweinerei.« In dem Augenblick kam ein Motorrad auf die Piazza gedonnert, und der bebrillte und unglaublich motorradmäßig ausgestattete Fahrer schwang sich herunter wie von einem Pferd. Er schaute um sich, erblickte Mihály und Erzsi und kam geradewegs auf ihren Tisch zu, das Motorrad gewissermaßen an der Hand führend. Beim Tisch angekommen, schob er seine Brille hoch wie das Visier eines Helms, und sagte: »Servus, Mihály. Dich habe ich gesucht.« Mihály erkannte zu seiner größtenVerwunderung János Szepetneki, und so plötzlich fiel ihm nichts anderes ein als: »Woher weißt du, daß ich hier bin?« »Im Hotel in Venedig haben sie gesagt, du seist nach Ravenna gefahren. Und wo wäre man in Ravenna nach dem Abendessen, wenn nicht auf der Piazza? Das war wirklich keine Hexerei. Ich bin von Venedig direkt hierhergefahren. Aber jetzt will ich mich ein bißchen setzen.« »Äh … darf ich dich meiner Frau vorstellen«, sagte Mihály nervös. »Erzsi, dieser Herr ist János Szepetneki, mein ehemaliger Klassenkamerad, von dem ich dir … glaube ich, noch nie erzählt habe.« Und er errötete heftig. János musterte Erzsi mit unverhüllter Abneigung, verbeugte sich, schüttelte ihr die Hand, wonach er sie nicht mehr zur Kenntnis nahm. Überhaupt sagte er nichts, außer um eine Limonade zu bestellen. Nach längerer Zeit sagte Mihály: »Na, red schon. Du hast doch bestimmt einen Grund, mich hier in Italien zu suchen.« »Ich erzähle es dann. Vor allem wollte ich dich sehen, weil ich gehört habe, daß du geheiratet hast.« »Ich dachte, du seist mir noch böse«, sagte Mihály. »Das letzte Mal, als wir uns in London in der ungarischen Botschaft getroffen haben, bist du aus dem Saal gelaufen. Aber klar, jetzt hast du keinen Grund mehr, mir böse zu sein«, fuhr er fort, als János nichts erwiderte. »Man wird ernsthaft. Alle werden ernsthaft, und allmählich vergißt man, warum man jemandem jahrzehntelang böse war.« »Du redest, als wüßtest du, warum ich dir böse war.« »Natürlich weiß ich es«, sagte Mihály und wurde wieder rot. »Dann sag’s, wenn du’s weißt«, sagte Szepetneki kämpferisch. »Nicht hier … vor meiner Frau.« »Das macht mir nichts aus. Sag’s nur ganz tapfer. Warum, meinst du, habe ich dich in London geschnitten?« »Weil du dich erinnert hast, daß ich einmal dachte, du hättest meine goldene Uhr gestohlen. Inzwischen weiß ich, wer sie gestohlen hat.« »Da siehst du, was du für ein Esel bist. Die Uhr habe ich gestohlen.« »Also doch?« »Na klar.« Erzsi war schon bis dahin unruhig auf ihrem Platz herumgerutscht, denn mit Hilfe ihrer Menschenkenntnis hatte sie János Szepetnekis Gesicht und Händen längst angesehen, daß er jemand war, der von Zeit zu Zeit eine goldene Uhr stahl, und sie preßte nervös ihre Handtasche mit den Pässen und den Reiseschecks an sich. Schon darüber, daß der sonst so taktvolle Mihály die Uhrengeschichte erwähnt hatte, war sie ziemlich verstimmt, aber die Stille, die jetzt eintrat, war erst recht unerträglich. Unbehaglicher geht’s kaum mehr: Einer sagt dem anderen, er habe ihm die Uhr gestohlen, und dann Schweigen … Sie stand auf und sagte: »Ich gehe ins Hotel zurück. Die Herren haben ja gewisse Dinge zu besprechen …« Mihály schaute sie äußerst gereizt an. »Bleib du nur da. Jetzt bist du meine Frau, jetzt betrifft dich das alles auch.« Und er wandte sich an Szepetneki und schrie ihn an: »Warum hast du mir dann in London die Hand nicht gegeben?« »Du weißt schon, warum. Wenn du es nicht wüßtest, wärst du jetzt nicht so wütend. Aber du weißt, daß ich recht hatte.« »Drück dich verständlich aus.« »Du verstehst es genauso, einen nicht zu verstehen, wie du es verstanden hast, die nicht zu finden, die verschwunden sind und die du nicht einmal gesucht hast. Deshalb hatte ich eine Stinkwut auf dich.« Mihály schwieg eine Weile. »Aber wenn du mich treffen wolltest, bitte, in London haben wir uns getroffen.« »Ja, aber zufällig. Das zählt nicht. Übrigens weißt du ganz genau, daß es nicht um mich ging.« »Wenn es um jemand anders ging … den hätte ich umsonst gesucht.« »Deshalb hast du’s gar nicht erst versucht, was? Obwohl du vielleicht bloß die Hand auszustrecken brauchtest. Aber du hast noch eine Chance. Hör zu. Ich glaube, ich habe Ervin gefunden.« Mihálys Miene veränderte sich schlagartig. Zorn und Verblüffung wichen einer freudigen Neugier. »Wirklich? Wo ist er?« »Genau weiß ich es noch nicht, aber er ist in Italien, in einem Kloster in Umbrien oder in der Toskana. Ich habe ihn in Rom gesehen, in einer Prozession,zwischen vielen Mönchen. Ich konnte nicht zu ihm hin, ich durfte ja nicht stören. Aber da war ...