Leben nach dem Frühling
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-552-05945-0
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Eines späten und sonnigen Nachmittags im Mai 1968 ging ich mit einem Diplom in der Hand die breite Steintreppe der Handelshochschule hinab, unter dem dunklen Tor hindurch und hinaus auf den Sveavägen, eine der längsten und meistbefahrenen Straßen in Stockholm. Beinahe drei Jahre lang war ich fast jeden Tag diese Steintreppe emporgestiegen, um mich höheren Studien zu unterwerfen, bis an diesem Frühlingstag der Augenblick gekommen war, ihnen ein für alle Mal den Rücken zu kehren und den Schritt in die sogenannte Erwachsenenwelt zu tun. Einen Schritt, der eine Art Beförderung meinte, mir aber wie eine Bedrohung erschien. Und doch auch als eine Art Befreiung. Ich hatte mich von den höheren Studien ja befreit und zugleich nicht die geringste Absicht, mich als reif genug zu erweisen, um den Schritt in die Erwachsenenwelt zu machen. Gerade diese Unreife war das Beste, was ich vorweisen konnte. Was ich während der drei Jahre gelernt hatte, falls da überhaupt irgendetwas war, hatte ich zum allergrößten Teil bereits wieder vergessen. Kaum mehr als das Banale und Selbstverständliche war in meinem Kopf geblieben, wo es sich diesseits der Schwelle zum Vergessen und zum Verdrängten noch eine Weile hielt, wenn auch unklar war, wie lange noch. Trotzdem stand ich hier auf dem Sveavägen, bereit für das Erwachsenenleben, mit einer Bescheinigung dessen, was ich so erfolgreich vergessen hatte, ein Diplom aus steifem Papier von bester Qualität und mit Stempel versehen, sogar mit einem Siegel aus rotem Lack und, unten am Blatt, verschiedenen Signaturen in schwarzer Tinte, allesamt unleserlich, und in der Zeile darunter die gedruckten Namen inklusive Titeln, die ihrerseits viel Platz einnahmen. Dieses Diplom war der Beweis, dass die höheren Studien hinter mir lagen. Schwarz auf weiß ließ sich darauf entnehmen, wie ich mich drei Jahre lang dem Willen anderer unterworfen hatte, welche Gewalt ich mir selbst zugefügt hatte, indem ich so lange andere darüber bestimmen ließ, was immerhin mein Leben war und nicht das irgendeines anderen. Mein Vater sagte, dass jede Familie ihren eigenen Arzt, Anwalt und Bankier haben müsse. Das sei notwendig, um die Verbindungen der Familie zur Welt aufrechtzuerhalten. Er wiederholte es so häufig, dass ich allmählich begriff, dass er es wirklich ernst meinte, dass es sich um eine unabdingbare Voraussetzung handelte. Für einen jungen Mann klang es aber viel zu praktisch und engstirnig, wie eine sehr düstere Vorstellung vom Leben, und was ich darüber dachte, muss er geahnt haben, er verlieh daher seiner Überzeugung umso hartnäckiger Ausdruck, je stärker er meine Skepsis spürte. Letztlich aber hatte ich mich dem Willen meines Vaters gebeugt, wählte auf sein Anraten eine, wie er es mehr flehend als auffordernd nannte, ordentliche Ausbildung, statt Literatur und Philosophie zu studieren. Nach väterlicher Auffassung würden sie mich im Leben nicht weiterbringen, jedenfalls nicht besonders weit und bestimmt zu keinem Beruf, der Einkommen und Ansehen brächte, und in diesen väterlichen Willen hatte ich mich gefügt, anstatt meinen eigenen Weg zu gehen. Jahrelang war ich also die Steintreppe hinauf zu Vorlesungen, Seminaren und Lesesälen gegangen, in denen ich über Büchern und Papieren sitzend an meiner eigenen demütigenden Unterwerfung arbeitete, während verschiedene Professoren, einige davon weltberühmt, meinem Vater folgend versuchten, meinen Kopf mit nützlichem und brauchbarem Wissen vollzustopfen. Dafür gab es dort auch Platz. Da ich aber nicht die Absicht hatte, dieses Wissen zu behalten, war mein Diplom, das ich da auf dem Sveavägen in der Hand hielt, nichts als eine schmerzvolle Erinnerung an diese Unterwerfung und die vergeudeten Jahre meines Lebens: eine offizielle Bestätigung meiner ersten großen Niederlage. Ich war immer noch sehr jung. Beinahe gänzlich unerfahren, lediglich mit starken und unreflektierten Überzeugungen ausgestattet, ebenso leicht zu widerlegen wie zu verwerfen, während sich hinter dem Willen meines Vaters alle Erfahrungen und Einsichten des Erwachsenenlebens auftürmten. Mit denen wollte er in allerbester Absicht und mithilfe der Professoren auch mich versorgen, was mehr einer Bürde gleichkam, die mir den Rücken krümmte, ja, mich taumeln ließ, auch wenn mir gerade diese Bürde alles leichter machen sollte. Viel später erst würde ich begreifen, dass mein Vater sie als etwas sah, das mir in Not oder Bedrängnis behilflich sein könnte, eine Art Lebensversicherung eines jungen und unvernünftigen Menschen. Womöglich reichte sein Zweifel so tief, dass er meinem Wirklichkeitssinn an sich misstraute, dass er befürchtete, die Beschäftigung mit Nutzlosigkeiten wie Literatur oder Philosophie über einen längeren Zeitraum könnte ihn vollständig einstürzen lassen, ein existenzieller Zusammenbruch, ehe mein Leben überhaupt begonnen hatte. Um diese menschliche Katastrophe zu vermeiden, musste er einschreiten, solange noch Zeit blieb. Die Urkunde in meiner Hand berechtigte mich, den Titel eines Diplomkaufmanns zu tragen, ein Titel freilich, den ich nie verwenden, und ein Beruf, dem ich mich nie widmen würde. Aus Pflicht heraus, in der jedoch eher Feigheit, vor allem aber Unterwerfung steckte, hatte ich durchgehalten. Ich hatte bestanden, sodass jenes Papier bescheinigte, was ich während dieser drei Jahre getan hatte. Was ich in der Hand hielt, war der Beweis, dass ich ab sofort ein sogenannter reifer Mensch war. Ein Erwachsener. Diese Vorstellung ängstigte mich mehr, als sie mich beruhigte, weil ich mich weder benehmen wollte noch konnte, wie es von einem sogenannten Erwachsenen erwartet wurde. Mit meinen 22 Jahren war ich viel zu jung und viel zu unreif für die Erwachsenenwelt, weshalb ich sie noch eine Weile vermeiden wollte. Für wie lange? Darüber machte ich mir keine Gedanken. Weder hatte ich den Wunsch noch die Absicht, regelmäßig für meinen Unterhalt zu sorgen, tagtäglich außer an Sonn- und Feiertagen um neun Uhr zur Arbeit zu gehen und bis fünf Uhr zu bleiben, zu heiraten, eine Familie zu gründen, ein Auto anzuschaffen, Steuern zu zahlen, mich an Geburtstage zu erinnern, Topfpflanzen zu gießen und leere Flaschen zu entsorgen (höchstens meine Schuhe zu putzen), mich jeden Morgen zu rasieren. Nichts davon und von anderen Dingen, die zum Erwachsenenleben gehörten, blickte ich mit Freude entgegen, obwohl genau das von mir erwartet und vom Diplom in meiner Hand festgehalten wurde, ein Diplom, das ich nicht anders begreifen konnte denn als einen neuen, hinterhältigen Angriff auf meine Freiheit, als Auftakt einer weiteren Unterwerfung, diesmal unerbittlich und endgültig, viel bedrohlicher und heimtückischer noch als die, denen ich bisher ausgesetzt gewesen war, obwohl ich mir von einem solchen Erwachsenenleben lediglich ein recht vages und lückenhaftes Bild machen konnte, das sich aus dem Verhalten der Erwachsenen in meiner unmittelbaren Umgebung schließen ließ. Nun war ich an der Reihe. Auch meine Freiheit war bedroht. Aber gerade meine Unreife schützte mich vor dem Erwachsenenleben. Mich daran zu klammern, so lange ich konnte, schien mir die einzige Möglichkeit, jene Freiheit zu verteidigen, und für diese Verteidigung war mein Diplom in keiner Weise hilfreich. Im Gegenteil. Es half nicht, dass das Examen zur Enttäuschung meines Vaters mittelmäßig ausfiel, dass alle meine Zeugnisse ausnahmslos durchschnittlich waren. Nichts davon ließ sich abstreiten. Und doch war ich zugelassen. Man erwartete von mir, das zu machen, was man Karriere nannte, obwohl es meine bereits übel zugerichtete Freiheit endgültig zerstören würde. Ein Schritt noch, und ich würde die Zeit der Jugend für immer hinter mir lassen. Eine Zeit, die ich in meiner Unreife als Freiheit verstand, die ohne Forderung nach Verantwortung für andere oder auch nur für mich selbst wie totale Unordnung aussehen mochte. Solange ich diesen Schritt über die Schwelle zum Erwachsenenleben nicht tat, blieb ich auf der Seite der unbegrenzten und verantwortungslosen Möglichkeiten, wo nichts abgeschlossen und endgültig war. Solange ich auf der richtigen Seite der Schwelle stand, konnte ich mich immer noch weigern, diesen letzten Schritt zu tun, und unterwegs auf dem Sveavägen in Richtung Odenplan, etwa auf halber Strecke zwischen der Handelshochschule und der Stadtbibliothek, riss ich mein Diplom in zwei gleich große Teile; zur Sicherheit noch einmal, damit es sich nicht so leicht wieder zu dem fügen lassen würde,...