E-Book, Deutsch, Band 4, 350 Seiten
Reihe: Ein Fall für Tommy Bergmann
Sveen Die stille Tochter
19001. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8437-2034-2
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, Band 4, 350 Seiten
Reihe: Ein Fall für Tommy Bergmann
ISBN: 978-3-8437-2034-2
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gard Sveen, geboren 1969, ist Staatswissenschaftler und hat viele Jahre als Seniorberater im norwegischen Verteidigungsministerium gearbeitet, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Der erste Band der Serie um Tommy Bergmann DER LETZTE PILGER wurde mit dem Rivertonpreis 2013 und dem Glass Key Award 2014 ausgezeichnet, dem wichtigsten skandinavischen Krimipreis. Gard Sveen lebt in Ytre Enebakk, einem kleinen Ort in der Nähe von Oslo.
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Teil 2
1
Sie hatte nicht bemerkt, dass er sich von hinten leise genähert hatte. Plötzlich legten sich seine Arme um ihren nackten Bauch. Sie war eine Woche überfällig, weinte aber nicht deshalb. Vielleicht gäbe ein Kind dem Ganzen mehr Sinn?
Auf dem Couchtisch lag die Ausgabe der Aftenposten, die sie gestern auf dem Weg zum Ferienhaus gekauft hatten. Sie waren unweit von Tønsberg am Meer.
Die Schlagzeile wurde begleitet von dem Bild eines amerikanischen Helikopters auf dem Dach der amerikanischen Botschaft in Saigon. Daneben prangte ein Bild von zwei weinenden vietnamesischen Frauen vor den Ruinen ihrer Häuser.
Es war noch nicht einmal acht Uhr morgens, trotzdem war sie seit zwei Stunden wach. Noch nie hatte sie am 1. Mai lange schlafen können, dieser Tag war sicher für den Rest ihres Lebens in ihren Genen verankert. Und dazu kam noch, dass die Nordvietnamesen Saigon eingenommen hatten.
»Ich dachte, wir wollten ausschlafen?«, sagte er. Sie sog seinen Duft ein und fand, dass er mehr nach ihr als nach ihm selbst roch. Wie sie es bei ihrer Beziehung vermeiden konnte, schwanger zu werden, wusste sie nicht, doch er schien sich darüber nicht einmal Gedanken zu machen.
Sie nickte, drehte sich aber nicht um.
Das Radio spielte leise in der Küche. Klassische Musik, vielleicht Brahms.
Vor ihr lag still der Fjord, die ganze Welt schien in Grautönen gefärbt zu sein.
»Willst du ein Kind mit mir?«, fragte sie leise.
»Du bist knapp zwanzig Jahre alt«, erwiderte er.
»Antworte mir einfach. Ich meine ja nicht jetzt.«
»Ja, natürlich.«
»Verlässt du sie dann?« Sie hatten schon am Vortag darüber gesprochen, auf dem Weg hierher. Da war es noch warm und sonnig gewesen, nicht kalt und grau wie jetzt. Es war das ernsthafteste Gespräch gewesen, das sie je mit jemandem geführt hatte. Er hatte das Thema angesprochen, hatte gesagt, dass er sich mehr wünsche, dass er es von dem Augenblick an gewusst habe, als er sie zum ersten Mal gesehen habe. Christel war bewusst geworden, dass sie ebenso dachte. Wenn er denn die Wahrheit sagte. Sie müssten aber bis zum nächsten Jahr warten, sagte er. Wegen seiner Tochter. Sie liege in der Sprachentwicklung zurück und ginge noch zum Logopäden. Sie müssten warten, bis sie etwas robuster sei. Im Sommer sollte sie in der Grundschule anfangen. Wenn sie in die zweite Klasse käme, wollte er es seiner Frau sagen. Er hatte es Christel sogar versprochen. Was soll das bedeuten, robust?, hatte Christel gefragt und keine Antwort bekommen.
Die Stimme des Radiosprechers erklang:
»Wenn es eine Zukunft für uns geben soll, dann musst du ein Kind mit mir wollen. Verstehst du das, Bjørn?«
»Ich kann in die Partei eintreten«, sagte er. »Für dich.«
Er streichelte ihre Brüste und schob die andere Hand zwischen ihre Beine.
»Jetzt nicht, Bjørn«, sagte sie und nahm sie weg. »Aber das mit der Partei finde ich gut.« Sie drehte sich um und küsste ihn, nur um die Stimmung zu glätten.
»Ich kann keinen Mann haben, der die Rechten wählt. Ganz bestimmt nicht heute.«
»Komm wieder ins Bett«, bat er. »Wir haben doch frei heute.«
»Ich komme ins Bett, wenn du mir versprichst, in die Partei einzutreten.«
Die ganze Situation war für ihn sicher absurd, aber sie hatte ihm schon vor Wochen gesagt, dass sie nur mit einem Mann zusammen sein könne, der in der gleichen Partei sei wie sie selbst. Vielleicht hatte das alles etwas mit Sicherheit zu tun, sie war in der Partei aufgewachsen, war wie alle anderen Kinder eins mit der Partei gewesen. Irgendwann würde sie ihm vielleicht sagen, dass sie aus dem Osten geflohen war und niemanden hatte, der ihr Halt gab. Außer der Partei.
Sie befreite sich aus seiner Umarmung, ging in das Schlafzimmer des viel zu großen, viel zu luxuriösen Ferienhauses, streifte seinen Bademantel über und zündete sich eine Zigarette an. Mit nackten Füßen ging sie auf die Terrasse und weiter über die Wiese zum Anleger.
Zum ersten Mal dachte sie daran, wie es sein musste, an gerade diesem 1. Mai über die Karl-Marx-Allee zu marschieren. Vietnam war der größte Sieg seit dem Zweiten Weltkrieg, sie konnte sich kaum ausmalen, wie glücklich sie darüber gewesen wäre, hätte sie ihren Glauben nicht irgendwann verloren. Wie fantastisch musste es sein, an einem solchen Tag dazuzugehören. Sie erinnerte sich noch an das Zittern, das sie verspürt hatte, als Bilder von ihr und einigen ihrer Pionierfreunde in allen Zeitungen gewesen waren, Neues Deutschland, Berliner Zeitung und Junge Welt. Im Sommer vor vier Jahren hatten sie die roten Halstücher getragen, nicht mehr die blauen für Kinder bis vierzehn. Fünf Millionen Mark hatte ihre Organisation für Nordvietnam gesammelt, fünf Millionen Mark! Und sie war eine der zwanzig Pioniere gewesen, die bei dem achtzehnten Parteikongress aufs Podium hatten kommen dürfen.
Und jetzt das?
Sie ging rückwärts über den Anleger und ließ den Bademantel fallen. Sie fror bereits, die grau gewordenen, rauen Bohlen waren noch kalt vom Winter und der kalte Nordwind machte ihr eine Gänsehaut und zog ihre Brustwarzen zusammen.
Bjørn erschien in der Terrassentür. »Was machst du denn da?«, rief er streng, als wäre er ihr Vater. Schnellen Schrittes kam er zu ihr herunter.
»Nächstes Jahr, Bjørn?«
»Nein, Christel, tu das nicht.«
Sie drehte sich um und sprang ins Wasser. Es war mörderisch kalt, auf einen Schlag wich aller Sauerstoff aus ihrem Körper. Wie der Rest Unschuld, den sie nach der Flucht noch in sich gespürt hatte, verschwunden war, nachdem sie den Russen in der U-Bahn gesehen hatte. Wolfs Banditen mussten sie an Moskaus Soldaten verkauft haben. Seither fühlte es sich an, als würde sie von innen aufgefressen wie von einer tödlichen Krankheit. Warum war er nicht wiedergekommen? Wie viel Zeit würde vergehen?
Als sie wieder an die Wasseroberfläche kam, schwamm sie vom Anleger weg.
»Du bist verrückt«, sagte er und kam mit ein paar Handtüchern auf den Anleger. »Was du da machst, ist gefährlich, das weißt du doch wohl?«, rief er ihr hinterher.
»Ich glaube dir nicht«, sagte sie. »Du wirst sie nie verlassen.« Ihre Stimme war kaum zu hören und nach zehn oder fünfzehn Metern verlor sie die Kraft. Ihr Körper war mittlerweile beinahe gefühllos.
Irgendwo hinter sich hörte sie es platschen.
Sie konnte sich kaum noch über Wasser halten und hatte mit einem Mal alles vergessen, was sie in fünfzehn Jahren Schwimmtraining gelernt hatte. Dann spürte sie seine Arme um sich.
»Ich habe alles verloren, was ich hatte, Bjørn. Ich ertrage es nicht, wenn ich auch noch dich verliere.«
2
Tommy richtete das Teleskop aus und versuchte ohne Erfolg, den Verkehr auf der E16 am gegenüberliegenden Ufer der Glomma scharfzustellen. Die Straße entlang des längsten Flusses des Landes war das einzige Lebenszeichen in der näheren Umgebung des Hauses. Arvid Storholt musste allem Anschein nach gut verdient haben, nachdem er von seinen Freunden in der Arbeiterpartei, die zur Zeit seiner Entlassung die Regierung gebildet hatte, begnadigt worden war. Das Haus hatte sicher mehr als dreihundert Quadratmeter und war wie ein Herrenhaus gebaut worden – mit Rondell und Springbrunnen in der Einfahrt, Seitenflügeln und einem Stall. Storholt hatte keinerlei Verbindung zur Gemeinde Nes, sodass niemand mit Sicherheit wusste, warum er gerade dieses Haus gekauft und ausgebaut hatte.
Tommy wusste nicht, warum Jan Amundsen darauf bestanden hatte, dass er mit in Storholts norwegisches Haus kam. Was kam als Nächstes? Glyfada in Griechenland, wo Storholt im Winter gewohnt hatte?
Jan Amundsen hatte sein Gespräch mit den Kriminaltechnikern unten im Erdgeschoss beendet und kam nach oben, sodass Tommy alle weiteren Versuche, das komplizierte Teleskop zu verstehen, aufgab.
Jan Amundsen zündete sich eine Zigarette an, öffnete mit der linken Hand die Verandatür und trat auf den großen Balkon, der die Fassade des Hauses dominierte. Tommy folgte ihm.
Sie blieben eine Weile still nebeneinander stehen und betrachteten das schwarze Wasser der Glomma und den Mond, der sich auf der Wasseroberfläche spiegelte.
»Wollen Sie wissen, warum?«, fragte Jan Amundsen.
»Warum was?«
»Warum ich mir Sorgen gemacht habe, als jemand Blumen auf das Grab von Heinze gelegt hat. Oder besser das Grab, von dem wir annehmen, dass es Heinzes ist.«
Tommy wartete.
»Ich kriege selbst auch Blumen.«
Tommy wusste nicht, was er sagen sollte. Amundsen warf einen Blick auf seine Armbanduhr.
»An jedem verfluchten 15. Dezember, Bergmann. Das sind noch genau acht Wochen. Glauben Sie, dass ich dieses Jahr...