Sutzkever / Heuer | Geh über Wörter wie über ein Minenfeld | Buch | 978-3-593-38906-6 | sack.de

Buch, Deutsch, Band 25, 389 Seiten, Format (B × H): 152 mm x 220 mm, Gewicht: 619 g

Reihe: Campus Judaica

Sutzkever / Heuer

Geh über Wörter wie über ein Minenfeld

Lyrik und Prosa

Buch, Deutsch, Band 25, 389 Seiten, Format (B × H): 152 mm x 220 mm, Gewicht: 619 g

Reihe: Campus Judaica

ISBN: 978-3-593-38906-6
Verlag: Campus Verlag GmbH


Mit einer Einleitung von Heather Valencia

Abraham Sutzkever zählt zu den bedeutendsten Dichtern der jiddischen Literatur. Die Shoa, der er selbst nur knapp entkam, ist der zentrale Bezugspunkt seines Werkes, das zugleich große literarische Eigenständigkeit besitzt. Es wurde in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt, in Deutschland ist es bislang jedoch nahezu unbekannt. Dieses außergewöhnliche Buch führt in Leben und Werk Sutzkevers ein und stellt eine große Auswahl seiner Gedichte und Prosastücke in deutscher Übersetzung vor.
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Weitere Infos & Material


Inhalt

Erinnerungen an den Verleger Frank Schwoerer
Renate Heuer

Sutzkevers Leben und Lyrik
Heather Valencia

Lyrik

Sibir / Sibirien (1936/1953)

Gedichte (1937)
Nocturne
Hier bin ich
In des Windes Rucksack
Tanzlied
Die Ghetto-Tore

Waldiges (1940)
Alles lohnt mir, dass mein Auge wandert, …
Die Flussufer
Verlorenes Nest
Landschaft
Bis hinter die Sonne
Ich hatte mit geschlossnen Augen …

aus: Die Festung (1945) / Gedichte aus dem Ghetto (1946) / Jüdische Gasse (1948) u.a.
Krieg
Ameisennest
aus: Gesichter im Morast (Manuskript 1941)
Ich liege in einem Sarg
Ein Wagen Schuhe
Zum Kind
Wie nur?
Unter deinen weißen Sternen
Ein Augenblick
Die Lehrerin Mira
Verbrannte Perlen
Mit dreißig Jahren
Die bleiernen Platten aus Romms Druckerei
Ähren
Erfrorene Juden
Man sucht uns. Ein achtloses Wort ist ein Messer …
aus: Epitaphe
Auferstehung der Toten
Schwarze Dornen

aus: Im Feuerwagen (1952)
Hätt ich mich dir nicht zugewandt …
Shabazi
Auf Kains Grab
Ma'ale 'Aqrabbim
Rothaarige Städte
Hirsche am Roten Meer
Die letzte Linie
aus: Kommentare zu einem Gesicht im Spiegel
Begegnung

aus: Ode an die Taube (1955)
Ode an die Taube
aus: Elefanten in der Nacht - Reise durch Afrika 1950

aus: In der Wüste Sinai (1957)
Else Lasker-Schüler
Mein Vater
Spielzeuge
aus: Rauch von jüdischen Kindern
Perets Markish
Poesie

aus: Oase (1960)
Der Weg zum Paradiesgarten
Der blinde Milton
Eine Winternacht

aus: Vierkantige Lettern und Wunder (1968)
An Rochl Korn
Beim ersten Regen
Das Lächeln von Maidanek
Ein Zeuge
Morgens nach einer Nacht in Jaffa
Wüstensonne
Die dritte Stille

aus: Reife Gesichter (1970)
Das Seelenauge weint in Bildern …
Zweig mit letzten Kirschen
Barfuß
Feuerwehrmänner
Die Opferung des Isaak

aus: Die Fiedelrose (1974)
Die Fiedelrose
Jugendfreund
Fingerspitzen
Meilenweit von mir entfernt
Verwandlung
Gedicht über Tee
Dem Ungesehenen entgegen
Garten-Eden-Gedicht
Klänge von Violoncellos
Dornensträucher

aus: Aus alten und jungen Manuskripten / 1935-1981 (1982)
Erste Liebe (1936)
Fragment (1950)
Das blaue Pferdchen (1954)
Meeresluft (1972)
Gelächter unterm Wald (1978)
Tropfen Wein (1978)
Elegisch (1978)
Nadellicht (1978)

aus: Zwillingsbruder (1986)
Die roten Ziegel deines Leibs - du hast vergessen ihren Bau …
Wer wird bleiben, was wird bleiben? Bleiben wird ein Wind …
Bei Tag ein Begräbnis, bei Nacht ein Konzert …
Erklären? Wie denn bloß erklären? …
Der Lehm der Zeit ist weich geworden. Schon geht auf der Teig …
Es ist nicht mehr, das grüne Augenpaar, lang lang lang her. So grün …
Du Augenblick, kaum abgeschieden, bist du wie ein Bruder …
Aus Bäumen macht man wundervoll Papier. Und ich: das Gegenteil …
Erinnerung an Pasternak: Die Erde seines Haarschopfs …
Und wenn ich pilgere zu meiner Heimatstadt im Winter …
Im Lachen seiner Einsamkeit hat mal auf einem Flohmarkt in Paris …
Ein Brief kam bei mir an aus meiner litauischen Heimatstadt …
Aus zornerfülltem Salz der Horizont. Und Karawanen …
Die beißend-saure Bitterkeit der letzten Preiselbeere …
Ich habe heute Michoëls gesehn, ein Loch im Kopf - ein Orden …
Zu mir gehört die abgehackte Hand, die ich vor Jahr und Tag …
Erinnerungen: ein Spaziergang einst mit Marc Chagall. Ein bunter …
Die Frau zeigt ihrem kleinen Sohn: Der da am Tisch …
Erinnerung an drei Flamingos am Victoria-See …
Von all den Wörtern bin ich neidisch auf nur dieses eine Wort …
Ich sag zu meinen Füßen: Habt ihr etwa Angst vorm Regen …
Eine linde, gebogene Luft, und ein Regen aus Reis …
Seit meine fromme Mame Erde aß am Jom Kippur …
Erzähl, was dachtest du zu sehen bei der Schädelöffnung …
Zwillingsbruder

aus: Der Erbe des Regens (1992)
Wildgänse
aus: Paris 1988
Zu des Vaters Jahrzeit

aus: Erschütterte Wände (1996)
aus: Ein Federchen läutet im Abgrund
Brot und Salz

Prosa

Sutzkevers Prosa
Peter Comans

Grünes Aquarium (1955)
Die Frau mit dem Strohhut (1953)
Kinderhände (1953)
Die letzte von allen Blinden (1954)
Zwischen zwei Schornsteinen (1953)
Dem Andenken eines Pelzes (1954)
Der Honig einer wilden Biene (1955)
Die Schlachtmesser-Tochter (1971-72)
Das Gelübde (1972)
Die Zwillinge (1973)
Die erste Hochzeit in der Stadt (1974)
Lupus (1975)
Der Bucklige (1977)
Der Stiefel und die Krone (1977)
Die Himmelsmünze (1977)
Der Künstler (1953)
Chanukka-Lichter (1953)
Ein schwarzer Engel mit einer Nadel in der Hand (1980)
Porträt im blauen Pullover (1985)
Die Feuersbrunst (1990)

Einige Hinweise des Übersetzers

Anmerkungen zu Lyrik und Prosa

Bibliographie


Sutzkevers Leben und Lyrik
Heather Valencia

"Geh über Wörter wie über ein Minenfeld: Ein falscher Tritt, eine falsche Bewegung, und alle Wörter, die du ein ganzes Leben lang auf deine Adern aufgezogen hast, werden zerfetzt, und du mit ihnen …"

Das flüsterte mir mein leiblicher Schatten zu, als wir beide, geblendet von Scheinwerfer-Windmühlen, bei Nacht ein blutiges Minenfeld überquerten und jeder meiner Schritte, gesetzt auf Tod oder Leben, auf meinem Herzen kratzte wie ein Nagel auf einer Geige.

Diese Worte beziehen sich auf ein Erlebnis Abraham Sutzkevers, als er und seine Frau im März 1944 bei Nacht ein vermintes Gelände überqueren mussten, um ein kleines Flugzeug zu erreichen, das sie in Sicherheit bringen sollte. Gleichzeitig könnten sie als Motto über seinem ganzen Leben und Schaffen stehen. Wörter sind Sutzkevers Existenz; sie leben in ihm, und er ist von ihnen abhängig. Wörter sind aber genauso zerbrechlich und explosiv wie Minen; würde er sie falsch behandeln oder zerstören, wäre auch sein eigenes Leben zu Ende.

Abraham Sutzkever (jiddisch Awrom Sutskewer) gilt als der bedeutendste lebende Schriftsteller jiddischer Sprache und einer der größten Dichter des 20. Jahrhunderts überhaupt. Sein Werk umfasst Lyrik, epische Gedichte, kurze Prosa, autobiographische Schriften und Literaturkritik. Er hat die jiddische Literatursprache auf eine vorher unerreichte Höhe gebracht und sie durch vielfältige Neuschöpfungen bereichert. Seine Lyrik vereinigt eine klassische Strenge in Metrum, Reim und regelmäßiger strophischer Form mit einer großen sprachschöpferischen Ausdruckskraft.

Sutzkevers Leben umspannt das ganze 20. Jahrhundert, und sein Werk spiegelt das Schicksal der Juden Osteuropas während jener verhängnisvollen Epoche. Er selbst entkam nur mit knapper Not der Katastrophe seines Volkes, und sein erneutes Leben und Schaffen nach dem Kriege rechtfertigt, dass er sich in einem späteren Gedicht mit einer Mischung aus Selbstironie und Stolz als "Phönix-Mensch" bezeichnet (S. 226). Seine Biographie ist äußerst aufschlussreich, ihre Kenntnis sogar unentbehrlich für das Verständnis seiner Dichtung und Prosa, wie Jost Blum geschrieben hat: "Sutzkevers Werk folgt eng den Linien seines eigenen äußeren und inneren Erlebens; es ist in hohem Maße autobiographisch, ohne sich je im Autobiographischen zu erschöpfen oder zu verlieren: Vielleicht wurden gerade deshalb große Teile seines Werkes zu einer unvergleichlichen dichterischen Chronik dieser grausam verfolgten Generation."
Der literarische Hintergrund

Die literarische Tradition, der Sutzkever entstammte, ist zugleich eine sehr alte und eine ziemlich junge. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts kann man überhaupt von einer modernen Literatur auf Jiddisch sprechen. Sie gründete jedoch auf einer viel älteren Tradition. Das zweitausend Jahre alte hebräische Schrifttum - hauptsächlich religiös, aber immer auch mit einer säkularen Komponente - übte einen wesentlichen Einfluss auf alle jüdischen Literaturen aus, somit auch auf die moderne jiddische Prosa und Lyrik. Die meisten modernen jiddischen Schriftsteller stammten aus traditionell-religiösen Familien, erhielten eine jüdische Erziehung und waren mit der hebräischen und biblischen Literatur vertraut. Deshalb kann man von einem unmittelbaren und tiefen Einfluss dieser Tradition auf ihr Werk sprechen; das trifft auch auf Sutzkever zu.

Die jiddische Literatur der Moderne entstammte einer älteren Literatur auf Jiddisch, die verschiedene Genres umfasste: Gebete, ethische, religiöse und philosophische Abhandlungen, Bibelparaphrasen, Helden-Epen, Fabeln, Volksmärchen und Lyrik. Sie blühte vom frühen Mittelalter bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, schwand dann allmählich dahin. Sutzkever hatte gute Kenntnisse dieser älteren Tradition: Im Jahre 1938 hat er altjiddische Philologie und Literatur bei Max Weinreich in Wilna studiert. Sutzkever selbst hat auch mit Gedichten in Altjiddisch experimentiert und einen der bekanntesten jiddischen Texte aus dem Mittelalter, das Bovo-buch von Elie Bocher, in modernes Jiddisch übersetzt.

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts entstand eine neue jiddische Literatur, die mit den sogenannten drei Klassikern, Mendele Mojcher Sforim, Jitschok Lejbesh Perets und Sholem Alejchem, begann, denen viele andere Schriftsteller, hauptsächlich Prosaiker, folgten. Die moderne jiddische Lyrik entwickelte sich erst später, gegen Ende des Jahrhunderts, doch machte sie in einem rasenden Tempo Wandlungen durch, die bei anderen europäischen Literaturen mehr als ein Jahrhundert dauerten.

Der Auslöser für diese erstaunlichen Entwicklungen waren die weitreichenden religiösen und gesellschaftlichen Umwälzungen, die ab Mitte des 18. Jahrhunderts die ehemals geschlossene osteuropäische jüdische Welt aufrüttelten. Die chassidische Bewegung breitete sich über große Teile Russlands und Polen aus: Ihre Anhänger lehnten den ihrer Meinung nach erstarrten rabbinischen Judaismus ab und suchten Gott in der Natur. Der Einzelne versuchte, Gott durch Musik, Tanz und seine eigenen Gebete in seiner Muttersprache - Jiddisch - zu erreichen. Einige ihrer Anführer - zum Beispiel der Baal Shem Tov, Gründer der Bewegung, und Reb Nachman Bratslaver - hinterließen einen literarischen Korpus auf Jiddisch in Form von mystischen, volkstümlichen Märchen und Sagen. Die moderne jiddische Dichtung schöpfte aus dieser Quelle, und chassidische Motive sind sogar bei Schriftstellern zu finden, die eher als weltlich zu bezeichnen sind.

Gleichzeitig wurde die jüdische Welt durch eine von Deutschland ausgehende und sich später über Osteuropa ausbreitende Aufklärungsbewegung (Haskala) aufgerührt. Die Aufklärer, oder maskilim, wollten erreichen, dass die europäischen Juden in die moderne Welt eintreten und sich für die intellektuellen und wissenschaftlichen Fortschritte der nicht-jüdischen Welt öffnen. Für die maskilim war die jiddische Sprache ein besonderer Streitpunkt, weil sie Hebräisch als Kultursprache vorzogen und außerdem dafür eintraten, dass sich die jüdische Bevölkerung der jeweiligen Landessprache bedienen sollte. Allerdings mussten sich die Schriftsteller der Haskala auch des Jiddischen bedienen, um mit den Lesern kommunizieren zu können. In den meisten Fällen begannen sie dabei, die Sprache lieb zu gewinnen, und förderten ihre Entwicklung zu einer Literatursprache.

Diese zwei entgegengesetzten Bewegungen kündigten tatsächlich den Anfang einer neuen Phase in der jüdischen Geschichte an, die zur allmählichen Auflösung der traditionellen ostjüdischen Welt führen sollte. Dieser Prozess begann sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu beschleunigen, als sich neue Ideen durch die jüdischen Gemeinden Osteuropas ausbreiteten: Der Sozialismus, der in dem 1897 gegründeten Bund seine spezifisch jüdische Dimension hatte, und die zionistische Bewegung, die für die vielfältigen Probleme der in Russland und Polen lebenden jüdischen Massen eine Lösung versprach. Diese Strömungen gingen mit einer wachsenden Migration von hauptsächlich jungen Leuten aus den Dörfern und shtetlech in die Großstädte des Jüdischen Ansiedlungsgebiets einher. Bis zur Jahrhundertwende hatten Städte wie Lodz, Warschau und Kiev große jiddischsprachige Bevölkerungen, von denen die meisten in den Fabriken und Werkstätten der sich rasch industrialisierenden Städte arbeiteten.

Die traditionelle jüdische Gesellschaft Osteuropas wurde also im Laufe des 19. Jahrhunderts weitgehend umgestaltet; dadurch entstand eine moderne, der Weltkultur offene jiddische Literatur, zuerst in Osteuropa und später in Amerika sowie in anderen Migrationsländern.

Dass die moderne jiddische Prosa vor der Lyrik erschien, ist leicht zu verstehen. Für Romane und Erzählungen gab es ein zahlreiches Publikum, und die volkstümliche, noch nicht ganz modernisierte jiddische Sprache eignete sich viel besser für Prosa: Sie wurde erst um die Jahrhundertwende allmählich zu einer kultivierten, modernen Sprache. Und in der Tat entstanden die ersten poetischen Versuche der modernen Zeit immer noch in der Sphäre der jüdischen Volksmasse: Das Werk der sogenannten "sweatshop"-Dichter - Morris Winchevsky, Morris Rosenfeld und Dovid Edelshtadt - war hauptsächlich sozial engagierte Gebrauchslyrik, die das schwere Leben der Arbeiter in den kleinen Fabriken der New Yorker Lower East Side schilderte.

Umso erstaunlicher ist es, dass schon während des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts eine moderne Poesie auf Jiddisch entstand und die jiddische Sprache sich innerhalb einer Generation zu einer reichen Literatursprache entwickelte. In Amerika zuerst, später in Polen und Russland, schlossen sich Dichter in Gruppen zusammen: Die Junge in New York war eine lose Gruppierung, in der manche Beteiligte nicht sehr viel miteinander gemein hatten. Mani Lejb, das führende Mitglied der Junge, verfeinerte die jiddische Sprache und schrieb wohlklingende, von der Romantik stark beeinflusste Gedichte und volkstümliche Kinderlieder. Er bildete den Gegenpol zu Mojshe Lejb Halpern, der in Wien ausgebildet wurde und mit Heine und deutschen Dichtern des 19. Jahrhunderts vertraut war. Halpern stand ebenfalls der Romantik sehr nahe, besonders in seiner Heineschen Ironie, doch seine leidenschaftlichen Gedichte mit ihrer originellen, manchmal brutalen Sprache waren schon deutlich vom Expressionismus beeinflusst.

Was diese sehr verschiedenartigen Dichter verband, war ihr Streben, eine neue Poesie auf Jiddisch ins Leben zu rufen, die nicht unbedingt einen sozialen Nutzen haben musste, sondern individuell, innerlich und ästhetisch sein sollte: Kunst als Selbstzweck. Das war in der jiddischen Überlieferung ganz neu und bezeichnet den Anfang einer modernen Literatur.

Ähnliche Impulse machten sich auch in Europa bemerkbar. In Polen debütierte 1922 mit der Zeitschrift Di chaliastre (die Bande) eine bahnbrechende Dichtergruppe gleichen Namens. Ihre Hauptfiguren waren Perets Markish, Uri Zwi Grinberg und Melech Rawitsh. Vom Expressionismus stark beeinflusst, rebellierten diese Dichter gegen die "schöne" Lyrik und wollten, wie die expressionistischen Dichter in Deutschland, mit Surrealismus und Erotik, oft schockierenden Worten und Bildern und zackigen Rhythmen die chaotischen Zustände des Nachkriegseuropas spiegeln, mit besonderem Augenmerk auf der jüdischen Dimension. Gleichzeitig beanspruchten auch die Dichter der chaliastre für sich die Freiheit, Poesie als Selbstzweck zu betrachten. Sie waren sehr verschieden von der etwas späteren Gruppe Jung Wilne, deren soziales Engagement dazu führte, dass sie Sutzkevers erste poetische Versuche entschieden ablehnten.

Die Inzichistn (Introspektivisten) in New York, bei denen Sutzkever seine ersten Gedichte veröffentlichte, heben sich deutlich von den anderen Gruppen ab, weil sie eine Vereinigung gleichgesinnter Dichter mit einem Programm waren und jahrelang zusammenhielten. Die im Januar 1920 zum ersten Mal herausgegebene Zeitschrift In zich (später Inzich) erschien regelmäßig bis 1940 und wurde zu dem Organ des jiddischen Modernismus. Die Gründer und Hauptbeteiligten der Gruppe, Jacob Glatstein, Aaron Glanz-Leyeles und N.B. Minkov, waren mit den neueren literarischen und philosophischen Strömungen in Europa und Amerika bekannt; sie vertraten auch eine entschiedene Meinung über die Richtung, in der die jiddische Dichtung gehen sollte. Der Name Inzichistn scheint absichtlich gewählt zu sein, um sich gegen den Expressionismus abzusetzen, tatsächlich aber hatten sie vieles mit den Expressionisten gemein: Genau wie diese hielten die Inzichistn die reine Nachahmung der äußeren Realität für sinnlos, und sie suchten stattdessen die wirkliche Realität im Bewusstsein des kreativen Menschen:

Far undz eksistirt […] di welt blojz ojf azoj fil, ojf wifil zi shpiglt zich op in undz, ojf wifil zi rirt undz on. […] Zi wert an aktuele zach blojz in undz un durch undz.

Für uns existiert die Welt bloß insofern sie sich in uns spiegelt, insofern sie uns berührt. […] Sie wird Wirklichkeit nur in und durch uns.

Sie verwarfen die Idee einer rein jüdischen Dichtung und strebten eine universale Poesie an: Mir zenen jidishe poetn dermit, wos mir zenen jidn un shrajbn jidish. (Wir sind jüdische Dichter nur, weil wir Juden sind und auf Jiddisch schreiben).

Sie waren jedoch von Jiddisch als Sprache begeistert und von ihrer poetischen Reife überzeugt: Mir glojbn in jidish. Mir hobn lib jidish. […] [Mir glojbn] az undzer loshn iz itst shejn un rajch genug far der tifster poezje. (Wir glauben an Jiddisch. Wir lieben Jiddisch. […] [Wir glauben], dass unsere Sprache jetzt schön und reich genug für die tiefste Dichtung ist.)

Dieses ästhetische Credo schließt jedoch die Auseinandersetzung mit der äußeren Welt und ihren Problemen nicht aus, denn

[…] alts iz a kegnshtand far poezje;[…] far dem poet iz nito kejn mijeses un kejn shejns, kejn guts un kejn shlechts, kejn hojchs un kejn nidriks. Alts iz glajch-wertik far dem poet, ojb es iz nor in im […].

[…] alles ist ein passendes Objekt für die Poesie; […] für den Dichter gibt es kein hässlich oder schön, kein gut oder schlecht, kein hoch oder niedrig. Alles hat einen gleichen Wert für den Dichter, wenn es in ihm erscheint […].

Ab den 1930er Jahren war ihre Erschütterung über das jüdische Schicksal in Europa so groß, dass ihre frühere Verwerfung des spezifisch Jüdischen dem Universalen zuliebe neu eingeschätzt werden musste, und besonders Glatstein wurde zu einem der stärksten bewusst jüdischen Dichter des churbm.

Die Lyrik des jungen Sutzkever beeindruckte die Inzichistn stark. Obwohl Sutzkever nie eine Theorie der Dichtung erörterte und sich nur selten ausdrücklich über seinen Zugang zur Dichtung aussprach, war sein poetisches Credo demjenigen der älteren Dichter in New York sehr nahe. Mit Glatstein und Sutzkever erreicht die jiddische Lyrik der Moderne ihren Höhepunkt - und es ist eine tragische Ironie, dass dieses gerade zu einer Zeit geschah, als die ohnehin sehr kleine Leserschaft jiddischer Dichtung fast verschwunden war.

Sutzkevers Leben
Jugend in Sibirien und Wilna

Geboren ist Abraham Sutzkever am 15. Juli 1913 in Smorgon, einer südöstlich von Wilna (litauisch Vilnius) gelegenen Industriestadt. Als Jüngster von drei Geschwistern stammte Sutzkever aus einer angesehenen Familie: Sein Großvater mütterlicherseits, Shabse Feinberg, war Rabbiner von Michalishok (einer etwa sechzehn Kilometer von Wilna entfernten Kleinstadt) und Autor eines bekannten religiösen Kommentars. Auch Sutzkevers Vater, von Hause aus Erbe einer Lederfabrik, war ein Gelehrter, der an einer jeshiwa, einer Talmudischen Akademie, studiert hatte.

Zur Zeit von Sutzkevers Geburt gehörte Litauen dem Russischen Reich an. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs und während der Kämpfe zwischen Russland und Deutschland wurden die Juden Smorgons beschuldigt, Spione für die Deutschen zu sein. Alle mussten die Stadt verlassen. Die Familie Sutzkever floh nach Osten und ließ sich 1915 in Omsk, Sibirien, nieder.

Das Wort "Sibirien" ruft heute fast nur Vorstellungen von grausamer Kälte und unmenschlichen zaristischen und stalinistischen Straflagern hervor. Auch die Familie Sutzkever erlebte in Sibirien eine Zeit von Armut, Hunger und Kälte. Typhus wütete - der kleine Awrom selbst erkrankte daran. Sein Vater, der damals schon herzkrank war und die Familie durch Nachhilfestunden kläglich ernähren musste, starb in Sibirien im Alter von 30 Jahren. Diese Erlebnisse der frühen Kinderjahre hat Sutzkever später völlig verwandelt und verklärt: In seinem Gedicht "Sibir" erscheint das Sibirien seiner Kindheit als ein wunderschönes, verzaubertes Land, der Ursprung seiner poetischen Inspiration und seiner Entwicklung zum Dichter.

Nach dem Tod des Vaters kehrte Rejne Sutzkever 1920 mit ihren drei Kindern nach Smorgon zurück, aber da ihre dortige frühere Wohnung zerstört worden war, übersiedelten sie nach Wilna. Sutzkevers ältere Schwester Ethel starb 1925 an Meningitis, und als sein Bruder Mojshe nach Paris abgereist war, um zu studieren, wohnten Sutzkever und seine Mutter in zwei kleinen Zimmern im zweiten Stock eines alten Hauses in Shnipishok, einem Arbeiterviertel der Stadt Wilna. Ein Onkel in Amerika unterstützte die Familie, und unter der Adresse Wilkomirer 14 lebten Mutter und Sohn zwanzig Jahre lang.

Jerusholajim d'Lite, das Jerusalem von Litauen: Mit diesem Ehrentitel wurde Wilna auf Jiddisch bezeichnet. Die Stadt, in der jeder dritter Einwohner Jude war, blickte auf eine über Jahrhunderte gewachsene Tradition jüdischer Kultur zurück. Viele berühmte Rabbiner und Gelehrte stammten aus Wilna. Der wichtigste von ihnen, der Gaon (Genius) von Wilna, Rabbi Eljahu Ben Shlomo Zalmen (1720-1797), wird als eine der größten Autoritäten in religiösen Fragen betrachtet. Er bekämpfte den Chassidismus, so dass die Bewegung in Litauen nie Fuß fasste, und etablierte Wilna als eines der führenden Zentren der jüdischen Forschung und Gelehrsamkeit.

Die religiöse und später auch die säkulare Kultur Wilnas wurde durch das Druck- und Verlagswesen der Stadt gefördert. Die Druckerei Romm wurde 1789 gegründet. Schon 1836 durften, einem Erlass des Zaren zufolge, nur zwei jüdische Druckereien im ganzen Russischen Reich existieren: eine in Kiew und die Druckerei Romm in Wilna, die bis zum Zweiten Weltkrieg florierte. Sie wurde durch zahlreiche Publikationen auf Hebräisch und Jiddisch bekannt; berühmt geworden ist sie vor allem durch ihre große Talmud-Ausgabe, die 1854 zum ersten Mal erschien.

Vom späteren 19. Jahrhundert an wuchs die jüdische weltliche Bewegung im ganzen osteuropäischen Raum, und in Wilna wurde 1897 der Bund gegründet. Die jiddische Sprache gewann als Kultursprache zunehmend an Bedeutung: Die Stadt hatte verschiedene jiddischsprachige Bildungsanstalten, darunter ein Gymnasium und eine Technische Hochschule. Es gab Theatervorstellungen, Jugendklubs, jiddische Bibliotheken und fünf jiddische Zeitungen. Das berühmte Lehrer-Seminar trug zur Verbreitung der Idee weltlicher Kultur unter den Juden Osteuropas bei. Das YIVO (jidisher wisnshaftlecher institut) wurde 1925 in Berlin von Elias Tsherikower, Nochem Shtif und anderen dort lebenden osteuropäischen jüdischen Intellektuellen gegründet. Die philologische Abteilung, unter der Leitung von Max Weinreich und Zelig Kalmanowitsh, befand sich in Wilna, und ab 1926, als Tsherikower und Shtif Berlin verließen, wurde Wilna zum Hauptsitz des ganzen Instituts. In den Kriegsjahren spielte die Organisation eine große Rolle im Leben Sutzkevers. Das nach dem Krieg in die Vereinigten Staaten transferierte YIVO wurde zum Hüter der von Sutzkever und seinen Freunden geretteten Schätze aus Wilna und Umgebung und zu einer unschätzbaren Quelle für Überlebende und Forscher des Holocaust.

In ganz Polen und Russland verehrte man die Stadt Wilna als Träger der Kultur der aschkenasischen Juden in der Diaspora. In dieser Atmosphäre und mit diesem Bewusstsein seines kulturellen Erbes wuchs Sutzkever auf.

Seine frühe Erziehung war indes eher von der polnischen als von der jiddischen Kultur geprägt. Nach einer ersten Phase, wo er durch Privatlehrer zu Hause unterrichtet wurde, ging er ins polnischsprachige jüdische Gymnasium, das ihn mit der polnischen Literatur bekannt machte: Zwei Dichter, die er besonders schätzte, waren Boleslaw Lesmian und Cyprian Norwid. Von der Literatur auf Jiddisch wusste er jedoch wenig. Diese Situation änderte sich hauptsächlich durch zwei Bekanntschaften seiner Jugendjahre. Als Sutzkever zwölf Jahre alt war, begann seine Freundschaft mit Lejzer Wolf, einem etwas älteren Nachbarjungen. Dieser schrieb schon Gedichte auf Jiddisch, die er dem jungen Sutzkever vorlas. Noch im Jahre 2001 sprach Sutzkever von dem Einfluss Lejzer Wolfs auf ihn.

Als er fünfzehn war, lernte Sutzkever die drei Jahre jüngere Frejdke Levitan kennen, die später, im Jahre 1939, seine Frau und lebenslange Gefährtin wurde. Frejdke, in einer jiddischsprachigen weltlichen Schule gebildet, kannte die jiddische Dichtung gut. Sie arbeitete schon seit ihrem 14. Lebensjahr in der bibliographischen Abteilung des YIVO, und durch ihren Einfluss vertiefte sich Sutzkever immer mehr in die Werke der klassischen und modernen jiddischen Dichter. Beim YIVO lernte er auch dessen Direktor Max Weinreich kennen, einen der Leiter des in Wilna aufblühenden modernen jiddischen Kulturlebens, der ihn in seinem Studium des Jiddischen als Träger jüdischer Volksidentität förderte. Sutzkever betrieb überdies Studien in der Strashun-Bibliothek und an der Polnischen Universität Wilna, wo er sich bei Prof. Manfred Krydl mit Literaturtheorie beschäftigte.

Ein weiterer Jugendfreund Sutzkevers beleuchtet diese entscheidende Periode im Leben des Dichters. Miki Tshernikov (später Michal Astur) war der Sohn eines angesehenen Wilnaer Rechtsanwalts, und Sutzkever verbrachte viel Zeit mit ihm, sowohl in der Jugendorganisation Bin (die Biene) als auch während der Sommerferien, bei Tshernikovs zu Hause.

Bin war eine jüdische Pfadfinder-Organisation für Jungen und Mädchen. Wie in der weltweiten Pfadfinder-Bewegung üblich, basierten die Ideale der Bin auf den Tugenden von Selbstsicherheit und Kameradschaft, zusammen mit einer großen Begeisterung für das Leben in der freien Natur. Laut Astur machten diese Eigenschaften einen tiefen Eindruck auf Sutzkever und prägten sein Leben und Schaffen weit über die kurze Bin-Periode hinaus:

Es ken nit zajn kejn sofek […] az Sutskewers ajngebojrene feikejt tsu zen, tsu filn, tsu farshtejn un ibertsugebn di natur iz stimulirt geworn un iz ojsgewaksn a dank di binishe ekskursjes un lagern. Nit wejniker wichtik iz gewen di hashpoe fun "Bin" ojf Sutskewers batsiung tsu jidish. Er iz gewen mistome der ejntsiker mitglid fun der organisatsje, vos hot zich kejn mol nit gelernt in kejn jidish-weltlecher shul. Di "Bin" hot nit gehat kejn shum shtelung in gezelshaftleche problemen, ober ejn zach iz baj ir gewen klor un konsekwent: […] a gwaldike libshaft tsu der jidisher shprach un der gantser jidisher kultur-shafung. Dos hot zi bawizn ajntsugebn Sutskewern wi s'badarf tsu zajn.

Zweifellos wurde Sutzkevers angeborene Fähigkeit, die Natur zu sehen, zu fühlen, zu verstehen und zu vermitteln, durch die Ausflüge und Lager der "Bin" angeregt und gefördert. Ebenso wichtig war der Einfluss der "Bin" auf Sutzkevers Beziehung zum Jiddischen. Er war wohl das einzige Mitglied der Organisation, das nie eine jiddisch-weltliche Schule besuchte. Die "Bin" bezog nie zu gesellschaftlichen Fragen Stellung, aber etwas war bei ihr klar und konsequent: […] eine große Liebe zur jiddischen Sprache und zum ganzen jiddischen kulturellen Schaffen. Im Fall Sutzkever ist ihr das vollständig gelungen.

Als Bin-Mitglied stellte der junge Dichter zum ersten Mal sein Werk der Öffentlichkeit vor. Man führte eine von ihm verfasste Parodie auf "Gingeli", ein bekanntes Gedicht Mojshe Lejb Halperns, auf. Sutzkevers erste Veröffentlichung war ein kurzes Gedicht, das 1931 in einer kleinen Sammlung, Binishe lider (Lieder der Bin), gedruckt wurde. Michal Astur drückt seine Meinung zu Sutzkevers ersten lyrischen Versuchen unverblümt aus:

Lirik iz gewen in zej zejer shwach fartrotn. Dos row zenen dos gewen wersifitsirte dertsejlungen ojf fantastishe oder groteske suzhetn, mit ojskukn ojf humor un ironje un ojf originele efektn. Der gojrem fun zajne demoltike shafungen iz gewen der shprudldiker drang tsu fantazirn un eksperimentirn. […] Mer fun Sutskewers poetisher produktsje hot mich tsu im tsugetsojgn zajn umruike, najgerike, wisndorshtike, humorfule perzenlechkejt.

Lyrik war bei ihnen nur in geringem Ausmaß vertreten. Die meisten [Gedichte] waren in Verse gebrachte Erzählungen mit phantastischen oder grotesken Themen und mit dem Anspruch auf Humor, Ironie und originelle Effekte. Den Anlass zu seinen damaligen Schöpfungen bot sein sprudelnder Drang zu phantasieren und zu experimentieren.[…] Mehr als Sutzkevers poetisches Schaffen zog mich seine unruhige, neugierige, wissensdurstige, humorvolle Persönlichkeit an.

Die wenigen Proben seiner Verse, die aus dieser frühen Periode erhalten geblieben sind, bestätigen Asturs Urteil.

Auch nachdem sich Sutzkever und Tshernikov nach etwa zwei Jahren von der Bin distanzierten, blieben sie eng befreundet. Der Sommer 1932 trug auch zu Sutzkevers weiterer poetischer Entwicklung bei. Die zwei Freunde verbrachten einen Monat in der Sommerwohnung der Familie Tshernikov in einem Dorf sechs Kilometer nördlich von Wilna. Vormittags gingen sie spazieren und schwammen im Fluss Wilija (jetzt Neris), nachmittags lasen oder schrieben sie, und abends wurde, zusammen mit Tshernikovs Eltern, Puschkin vorgelesen:

Azoj hobn mir ibergelejent gants "Jewgeni Onegin" un a rej lirische lider. Sutskewer hot zich tsugehert mit geshpantn interes un arajngezapt in zich dem ritem un dem gajst fun Pushkins poezje.

aus: Gesichter im Morast

1
… und ergraut sind über Nacht uns die Gedanken,
das Licht hat Salz, hat Gift gesät in frische Wunden,
und weiße Tauben wandelten sich unversehens, wurden Eulen,
die unsres Traumes spotten, der im Rauch verschwunden.
Du zitterst, meine Erde? Wirst du auch, wie wir, gespalten,
oder sollte deine Nase den Geruch von Opfern ahnen?
Verschling uns! Denn in Sicherheit gewogen, waren wir verflucht,
verschling uns samt den Kindern, samt den Fahnen.
Bist du durstig, werden wir wie Pumpen unter Seufzen
mit unsrer Leiber Gold dir füllen deine Gruben,
und weiterspinnen wird sich das Gespinst: Gesichter im Morast,
Gesichter im Morast weithin bis über Sonnenuntergang und Stuben …

3
Ich wärme Tee mit deinen Briefen -
mit meinem einzigen Vermögen.
Es bleiben dünne Blättchen Asche
mit Glühwürmchen besprenkelt,
und ich alleine kann sie lesen,
und ich alleine schick sie ihrer Wege …
Es soll der Wind noch stummer als ein Grabstein sein,
mein Atemhauch soll still nur, still sich regen …
Ein Luftzug bloß -
und alle deine Schönheit, heilsam stark,
ruft Eifersucht hervor auf allen Wegen.
Wie lieb bist du mir doch
in diesen Blättchen Asche,
wie leuchtend du vergehst
in diesen Blättchen Asche,
und ich alleine kann sie lesen,
und ich alleine schick sie ihrer Wege …

5
Bald wird es geschehen!
Die schwarzen Ringe
ziehn sich eng und enger um den Hals!
Unpersönlich, wie ein Stein im Pflaster,
werd ich liegenbleiben unter Hufen,
aus der Welt erlöst.
Doch in mir tief
werden wandern, ruhelos, drei Ameisen:

Eine,
unterm Lorbeer meiner Kindheit,
heimkehren wird sie zum Zauberwald.
Eine zweite,
unterm Panzer meines Traumes,
heimkehren wird sie zum Traumland.
Und die dritte,
die mein Wort trägt,
wird einen Weg nicht haben,
denn verpestet
ist das Land von blindgläubigen Wörtern.
Wachen wird im Tal der Schatten
sie, allein und einsam,
über mein Gebein.

Bemerkung: Die neun Gedichte "Gesichter im Morast" schrieb ich während der ersten zehn Tage, nachdem die Pest in Wilna einmarschiert war. Ungefähr vom 25. Juni bis zum 5. Juli. Ich schrieb sie im Liegen, versteckt in einem zerstörten Kamin in meiner alten Wohnung in der Wilkomirer Straße 14. Auf diese Weise verbarg ich mich vor den Häschern, die alle Männer verschleppten, die sie fanden, Juden, versteht sich.

Meine Frau trug die Gedichte bei sich durch alle Gräuel und Unglücke. Sie begleiteten sie bei der ersten Provokation und bluteten mit im Gefängnis unter der Knute von Schweinenberg. Durch ein Wunder entkam meine Frau mit ihnen zurück ins Ghetto, wo ich mich allerdings schon nicht mehr aufhielt - ich war geflohen während der Nacht der gelben Scheine. Als ich wieder zurückkam, fand ich meine Frau im Krankenhaus, wo sie ein Kind zur Welt brachte und, während sie in Wehen lag, diese Gedichte in ihrer Hand umklammert hielt.

A.S. 16.5.1942


Abraham Sutzkever, 1913 geboren, war während des Zweiten Weltkriegs im Wilnaer Ghetto im Widerstand aktiv. Nach der Flucht aus dem Ghetto, kurz vor dessen Liquidierung, wurde er 1944 vom Jüdischen Antifaschistischen Komitee nach Moskau ausgeflogen. Er sagte 1946 als Zeuge bei den Nürnberger Prozessen aus und floh im Jahr darauf vor den stalinistischen Säuberungsprozessen nach Palästina, wo er die Literaturzeitschrift 'Di goldene kejt' ('Die goldene Kette') herausgab. Heute lebt Abraham Sutzkever 95-jährig in Tel Aviv.


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