E-Book, Deutsch, 464 Seiten
Surborg Nachtlügen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-608-12406-4
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 464 Seiten
ISBN: 978-3-608-12406-4
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lisanne Surborg wurde 1993 in Niedersachsen geboren und hat 2010 ihren ersten Roman veröffentlicht. Von 2020 bis 2023 erschien die IMPERATOR-Trilogie, die sie als Co-Autorin zusammen mit Kai Meyer geschrieben hat. Sie lebt in der Buchstadt Leipzig.
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Kapitel 2
Wie in den meisten Altbauten führten hübsche Flügeltüren zu den Wohnungen. Diese hier waren weiß gestrichen, mit großzügigem Buntglaseinsatz.
Isra war darauf vorbereitet, den Kantenriegel zu ziehen, aber die Tür ließ sich mit ein wenig Kraft aufdrücken. Das klappte in fünf von acht Fällen; in Altbauten jedenfalls.
Sie betrat die Wohnung, schob die Flügel hinter sich zusammen und streifte die Stiefelsohlen auf der Türmatte ab.
Der Flur ging hinter einer halbhohen Wand ins Wohnzimmer über. Die Straßenlaterne vor den Fenstern tauchte alles in ein gelbliches Licht.
Erwartet hatte sie eine seelenlose Sammlung von Möbeln mit glänzender weißer Oberfläche. Geschmacklos, aber teuer. Doch die Gelfrisur überraschte sie mit einer grünen Eckcouch, einem kleinen Biotop von Farngewächsen und einem großen Ölgemälde. Es zeigte das abstrakte Bild von etwas, das ein Brunnen sein mochte, tief und dunkel. Isra gefiel es auf Anhieb.
Ein Blick auf die Jacken und Schuhe bestätigte ihre Vermutung, dass er allein wohnte. Gut, sie war zu müde, um heute Nacht noch mal von vorne zu beginnen.
Isra zog ihren Mantel aus und hängte ihn an die Garderobe. Ihre Hände waren klamm, aber wenigstens nicht mehr so schwitzig wie noch vor ein paar Wochen. Sie schlich über leise seufzendes Parkett durch den Flur, blickte ins Bad und in ein Arbeitszimmer, bevor sie hinter der letzten Tür das Schlafzimmer fand.
Der Mann lag auf dem Bauch, auf der rechten Seite des Bettes.
Es gab Studien dazu, welche Bettseite sich für wen am besten eignete. Angeblich waren Linksschläfer glücklicher als Rechtsschläfer. Und laut Feng Shui sollten Frauen links und Männer rechts schlafen, damit sich ihr Yin und Yang ideal zu ergänzen vermochten.
Isras Erfahrung nach hatten die Schlafgewohnheiten der Menschen eher mit der Platzierung von Fenstern, Türen und Möbeln zu tun. Erst recht in einem so kleinen Zimmer wie diesem hier.
Sie horchte nach dem Atemrhythmus, bevor sie sich näher heranwagte. Früher hatte sie gedacht, dass das hier der gefährlichste Moment war, denn die Schlafenden könnten einfach aufwachen und sie entdecken. Heute wusste sie, dass es schlimmer war, wenn sie nicht aufwachten.
Strähnen gegelten Haars hingen dem Mann ins Gesicht. Unter dem Gewicht seines Kopfes wurde seine untere Wange auf dem Kissen derart hochgequetscht, dass sie gegen den kurzen Wimpernkranz stieß.
Isra ging vor ihm in die Hocke und beobachtete das Zucken seiner Lider. REM-Phase. Als wollte er ihr einen Gefallen tun.
Sie ließ den Blick über seinen Nachttisch schweifen. Ein Glas Wasser, zwei Tablettenblister und ein dünnes Buch, mit dem Einband nach oben aufgespreizt. Abtauchen. Von Apnoe bis Zentralnervensystem. Auf dem Cover reckte ein Typ in voller Tauchmontur einen Daumen nach oben.
Sie sog die Luft tief in die Lungen und versuchte, ihr wummerndes Herz zu beruhigen. Dann griff sie nach der Hand ihres Gastgebers, der den Druck reflexartig erwiderte. Sekunden später war sie in seinem Kopf.
Sie sah einen Traum, so inspirierend wie eine Stromrechnung.
Ihr Gastgeber befand sich in einem Büro. Er saß auf einem Drehstuhl an einem ausladenden Schreibtisch. Zu beiden Seiten seines Computers waren dicke Ordner aufgereiht; jeder davon war grau. Er hackte unablässig auf die Tastatur ein und starrte auf den Bildschirm, in dessen Oberkante ein Gerät mit Zeigern eingelassen war.
Isra beugte sich vor. Es sah aus wie das Tachometer eines Autos. Die rote Nadel zitterte im Höchstbereich.
Vom Flur drang Lachen durch die angelehnte Tür, dann das Zischen und Gluckern einer Kaffeemaschine. Irgendwo sirrte ein Faxgerät.
Isra wartete ab und hoffte, dass das hier vielleicht der Auftakt zu einem Abenteuer sein würde. Sie hatte schon Träume geerntet, die im Alltag begonnen und im Weltall geendet hatten. Doch je länger ihr Gastgeber tippte, desto gewisser wurde die Erkenntnis: Isras Wunsch nach Rache hatte sie ins Schlafzimmer eines Mannes ohne jeden Funken Fantasie geführt.
Sie atmete tief ein und presste ihm den trägen Lichttraum aus dem Kopf.
Schlagartig verstummten die Geräusche auf dem Flur. Im Büro wurde es dunkel. Nicht stockfinster, eher fahl wie während der Winterdämmerung. Als einzige Lichtquelle bestrahlte der grelle Bildschirm das Gesicht des Träumers, ließ ihn blinzeln, ließ ihm die Augen tränen. Doch er tippte unablässig weiter, füllte Zeile für Zeile. Die Tachonadel zuckte gegen den Anschlag.
Isra sah ihm über die Schulter und begutachtete die langen Zahlenfolgen, die er schrieb.
3 849 183 503 957 820
0 192 538 592 375 044
5271 …
Zufällig und sinnlos, jede Wette. Sie pustete ihm ins Ohr.
Ein irritierter Blick nach oben, kurz. Zu der Stelle in der Dunkelheit, wo gerade noch die Tür zum Flur gewesen war. Zurück zum Bildschirm.
7493055918376467
Er musste das Tempo halten, um seine Spitzenposition zu verteidigen. Er war der Schnellste, der Genaueste und der Beste. Er würde gewinnen.
6309221774093758
Das Klackern auf der Tastatur schwoll zu einem unangenehmen Stakkato an. Auf dem Bildschirm erschienen in rasender Geschwindigkeit neue Zahlenfolgen. Die Nadel klebte am Anschlag der Anzeige, und auf der Stirn des Mannes glänzten Schweißperlen.
4730029174859382
Das könnte ein neuer Rekord werden. Tempo halten, Tempo halten.
9830217349503778
Mit dem Schnippen zweier Finger brach Isra die Tachonadel ab.
6332019 –
Manipulation!
Die Hände auf der Tastatur erstarrten. Kein Ausschlag, keine Produktivität. Zwischen seinen Augenbrauen bildete sich eine Falte. Er presste die Lippen aufeinander, zog die Schultern hoch.
3598417548900342
Er musste weiterkämpfen. Sie konnten ihm Steine in den Weg legen, aber das würde ihn nicht aufhalten. Er war der Beste und er würde es ihnen allen beweisen. Tempo halten. Tem …
Isra hatte keine Lust mehr auf seine Gedanken. Sie schob sie beiseite und schüttelte missbilligend den Kopf, obwohl er sie nicht sehen konnte.
Während er wie besessen auf die Tastatur einhackte, stieß sie ihm den Bildschirm um. Der kippte auf die Rückseite und strahlte die Decke an.
Sie schnippte ein zweites Mal. Der Bildschirm flackerte, erlosch, und dort, wo eben noch endlose Zahlenfolgen zu lesen gewesen waren, tat sich jetzt ein gähnendes Loch auf. Tiefschwarz wuchs es über den Bildschirmrand hinaus und fraß die Tastatur. Statt eines Schepperns ertönte das dunkle Glucksen von Wasser. Das Echo verklang.
Isra gab der Stille Zeit, sich auszudehnen.
Reglos blickte der Mann in das Loch, das eben noch sein Arbeitsplatz gewesen war. Dann, langsam, rollte er auf seinem Drehstuhl nach hinten. Floh.
Und Isra entschied sich um. Sie hatte vorgehabt, ihn in das Loch zu stürzen, ihn im Wasser ums Überleben kämpfen zu lassen. Aber nun bevorzugte sie die Symbolik, ihn in seinem Büro ertrinken zu lassen.
Mit einer Kraft, die die Wände vibrieren ließ, schoss eine Fontäne schwarzen Wassers aus dem Schacht. Sie durchnässte den Mann von der Frisur bis zu den Schuhen. Er klammerte sich an die Lehne, zog die Beine an und stellte sich wackelnd auf die Sitzfläche. Wieder sah er sich nach der Tür zum Flur um, doch die hatte Isra längst entfernt.
Das Wasser stieg schnell, riss seinen Stuhl um und zerrte an ihm.
Sie ließ ihn zappeln. Eine Weile sah sie zu, wie er gegen ihre Strömungen kämpfte und versuchte, an die Wände zu klopfen. Er schrie ein paar Mal um Hilfe, also ließ sie eine kleine Welle über sein Gesicht hinwegrollen und lauschte seinem Röcheln.
Das Wasser reichte jetzt fast bis zur Decke. Es war schwarz und zäh wie Öl. Darin bewegte sich etwas, das sie schon erwartet hatte. Ein Wesen mit Klauen und Zähnen, das sich ihrem Träumer interessiert näherte. Das Monster mit den Spinnenbeinen, das sie vor Jahren erschaffen hatte. Ihr Monster.
Aber heute hatte sie andere Pläne.
Der Mann ruderte wild mit den Armen, prustete, spuckte Wasser aus. Sie beschloss, ein Detail einzubauen, und ließ einen silbernen Pokal an seinem Gesicht vorbeitreiben. Dann zog sie ihn unter Wasser.
Isra löste ihre Hand aus der ihres Gastgebers.
Er hatte sich halb auf den Rücken gedreht. Schweiß stand auf seiner Stirn, die Brust hob und senkte sich schnell, und unter seinen Lidern kullerten die Augen im Kreis.
Sie schob zwei Finger in ihre Hosentasche und zog eine filigrane Glasphiole hervor. Ihre Großmutter hatte ihr letztes Jahr einen neuen Satz geschenkt, aber nachdem die Phiolen alle zerbrochen waren, benutzte sie die Fläschchen von Parfumproben, die sie aus den Magazinen und Illustrierten örtlicher Kioske gerissen hatte.
Sie zog den kleinen Stopfen, hielt dem Mann das Gläschen ins Gesicht und fing die drei Tropfen klarer Flüssigkeit auf, die ihm aus der Nase rannen.
Ein schwacher Lichttraum war noch immer besser als nichts.
Sie verschloss die Phiole, steckte sie ein und erhob sich. Ihr blieb noch etwa eine Minute, bis er aufwachen und um Atem ringen würde. Eher hatte sie es nicht erlaubt.
Ihr Blick fiel auf das Buch, das sie inspiriert hatte. Sie griff nach dem Wasserglas daneben und kippte es vor dem Bett aus. Dann stellte sie es an seinen Platz zurück.
Isra verließ das Schlafzimmer, ging über das glänzende Parkett zurück zur Wohnungstür und zog ihren Mantel an. Die Hand auf der Klinke erlaubte sie sich, für ein paar Sekunden noch das Gemälde über der Couch zu...