Suderland | Ein Extremfall des Sozialen | Buch | 978-3-593-38905-9 | sack.de

Buch, Deutsch, 375 Seiten, Format (B × H): 143 mm x 213 mm, Gewicht: 471 g

Suderland

Ein Extremfall des Sozialen

Die Häftlingsgesellschaft in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern

Buch, Deutsch, 375 Seiten, Format (B × H): 143 mm x 213 mm, Gewicht: 471 g

ISBN: 978-3-593-38905-9
Verlag: Campus


Kann eine Untersuchung der Häftlingsgemeinschaft in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern allgemeine Erkenntnisse über das Gesellschaftliche erbringen? Maja Suderland zeigt, dass sogar in diesem 'Extremfall des Sozialen' die grundlegenden Prinzipien von Gesellschaft ihre Wirkung entfalteten. Dabei waren neben der Menschenwürde und der Einzigartigkeit des Individuums vor allem Geschlecht, Klasse und Ethnizität von tragender Bedeutung für den Erhalt der sozialen Identität der Inhaftierten.
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Inhalt

Geleitwort von Beate Krais

Vorrede

A. Einführung

1. Thema und Fragestellung

2. Das ›Dritte Reich‹ und die nationalsozialistischen Konzentrationslager
2.1. Entstehungskontext der nationalsozialistischen Konzentrationslager: Historische, gesellschaftliche und juristische Zusammenhänge
2.2. Deutschland und seine Zwangslager
2.3. Die Organisationsstruktur der Konzentrationslager
2.4. Lager-SS und Wachmannschaften
2.5. Zusammenfassung: Ein komplexes Wirkungsgefüge

B. Soziologische Suchbewegungen

3. Einführende Überlegungen zur disziplinären Verortung und Methode
3.1. Empirisches Material und methodisches Vorgehen
3.2. Das Problem der Undarstellbarkeit von Realität und die Besonderheit von Holocaust-Literatur
3.3. Zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Soziologie

4. Soziologische Orientierungen
4.1. Vorbemerkung: Über die Soziologie Pierre Bourdieus und die Implementierung weiterer theoretischer Leitgedanken
4.2. Die "grundlegenden Ideen" von Gesellschaft
4.2.1. Individuum und Gesellschaft: Sichtweisen auf eine komplexe Beziehung
4.2.2. Klassen und Lebensweisen: Soziale Differenzierung
4.2.3. Geschlecht: Körperliche Merkmale und ihre symbolische Bedeutung für soziale Unterscheidung
4.2.4. ›Ethnie‹ und Kaste: Der Glaube an genetische Verwandtschaft und die Vorstellung von gesellschaftlicher Unentrinnbarkeit
4.2.5. Zusammenfassung: Habitus und Gesellschaft
4.3. Konzentrationslager
4.3.1. Über die Bedeutung körperlicher Marter: Michel Foucaults Wiederherstellung der Herrscherwürde durch "souveräne Rache" und die "Asymmetrie der Kräfte"
4.3.2. "Totale Institutionen" und die Möglichkeit, eine solche zu überleben:

Erving Goffmans "sekundäre Anpassung"
4.3.3. "Den Geruch" des Todes unterdrücken: Zygmunt Baumans Kulturbegriff
4.4 Eine theoretische Perspektive: Die komplexe Gesellschaft des ›Dritten Reichs‹ und die soziale Wirklichkeit in den Zwangslagern

C. Die soziale Welt der nationalsozialistischen Konzentrationslager

5. Lagerleben
5.1. Ankunft der Häftlinge und Aufnahme im Lager oder Wie sich den Häftlingen nach und nach die "praktische Logik" der Lager erschließt
5.2. Häftlingsalltag: Wiederkehrende Abläufe
5.3. Drei Ebenen der Sozialität
5.4. Zusammenfassung: Ein mikrosoziologischer Blick auf die ineinander greifende Vielschichtigkeit eines komplex strukturierten Lagerlebens oder Wie viele Wirklichkeiten gab es?

6. Häftlingsgesellschaft
6.1. Fragmentarisierung, Distanzierung, Vergemeinschaftung: Soziale Prozesse
6.2. Gewöhnliche Häftlinge, Bindenträger, Lagerprominenz: Massen und Eliten
6.3. Männer, Frauen, Kinder oder Was ist hier noch normal?
6.4. Zusammenfassung: Ein sozialstruktureller Blick auf die Häftlingsgesellschaft oder Die Bedeutung von Ähnlichkeit und Differenz

D. Soziale Libido

7. Die Konstitution sozialer Identität im Konzentrationslager: Über die Vorstellungen vom Individuum und die Bedeutung gesellschaftlicher Strukturmerkmale in einer "verkehrten Welt"

E. Literatur

Danksagung


Nun kamen allerdings die Inhaftierten in den Zwangslagern aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Zusammenhängen - sie stammten aus aller Herren Länder, sowohl aus Städten als auch aus ländlichen Regionen sowie den verschiedensten Kulturen und gesellschaftlichen Milieus; dabei bekleideten sie alle erdenklichen Berufe und hingen zudem den unterschiedlichsten Weltanschauungen an; sie sprachen verschiedene Sprachen und innerhalb einer Sprachgemeinschaft pflegten sie die verschiedensten Dialekte und Mundarten. Es ist daher davon auszugehen, dass auch ihre sozialen Prägungen äußerst verschiedenartig waren, und eine Analyse der Erinnerungsliteratur bestätigt, dass die Menschen in diesen Lagern die gesellschaftliche Vielfalt menschlichen Seins widerspiegelten. Trotz dieser erkennbaren mannigfaltigen Disparitäten lassen sich jedoch in den Erinnerungsberichten offenbar universelle Kriterien für diese "grundlegenden Ideen" von Gesellschaft finden, die allerdings stets einen, durch die oben genannten divergierenden Prägungen bestimmten, sozialen Verzerrungsfaktor aufweisen. Die Bedeutungswelt der KZ-Häftlinge war abhängig von deren bisheriger Erfahrungswelt, die durch eine konkrete Perspektive aus einer von ihnen tatsächlich eingenommen Position im sozialen Raum ihrer Herkunftsgesellschaft bestimmt war.

Das von Bourdieu entwickelte Konzept des sozialen Raums besitzt im vorliegenden Kontext deshalb große Erklärungskraft, weil durch die an einen räumlichen Ort gebundene Perspektive - buchstäblich als Sichtweise auf die Welt - eine Vorstellung von der Komplexität der sowohl kognitiven als auch physischen wie sensuellen Prägung der Individuen durch diesen ›sozialen Ort‹ prägnant vermittelt wird. Wahrnehmungen, Bewertungen und Handlungen der Menschen sind durch diesen von ihnen eingenommen Platz im sozialen Raum bestimmt, der daher auch Ursache dafür ist, dass ihnen jeweils bestimmte Dinge, Menschen, Handlungsweisen nahe liegend erscheinen und andere dagegen fremd und fern sind. Dieser hieraus entstehende praktische Sinn oder Habitus ist Teil des menschlichen Wesens und macht Menschen unterscheidbar, da sie durch ihre divergierenden Positionen schließlich verschiedene Sichtweisen der Welt haben, denen sie mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln auch Ausdruck verleihen. Die gesellschaftlichen Akteure sind durch ihre an einen sozialen Raum gebundenen Positionen so sozialisiert und derart konstituiert, dass sie die Unterschiede, die den objektiven Unterschieden verschiedener Lebensbedingungen und Lebensweisen in diesem Raum entsprechen, auch tatsächlich machen. Mit Bourdieus soziologischen Konzepten wird also rekonstruierbar, dass Menschen im Zusammenhang mit einem sozialen Raum "sozial begründete Interessen" haben - abhängig von ihrer Position in diesem sozialen Raum sind ihnen bestimmte Dinge wichtig, andere gleichgültig - und diese auch intentional verfolgen, ohne dass dies immer bewussten Absichten entsprechen muss. Bourdieu prägte hierfür den Begriff der "sozialen libido", die - gleich einem natürlichen Trieb - Menschen zur sozialen Differenzierung drängt (vgl. Bourdieu 1998a: 143; s.a. Fußnote 8).

Auf das Thema dieser Arbeit bezogen heißt dies, nach den Unterschieden zu suchen, die von den Häftlingen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern gemacht wurden, und zwar nicht allein auf Grund der besonderen Situation in diesen Lagern, sondern weil diese Art zu differenzieren für sie eine letzte Kontinuität mit ihrem bisherigen Leben darstellte. In diesem Sinne stellen sich auch die KZ-Häftlinge tatsächlich als soziale Akteure dar, die, getrieben durch die Schrecknisse der Lager, zumindest im kleinsten Umfeld und in ihren persönlichen Beurteilungen versuchten, an den vertrauten sozialen Kontinuitäten festzuhalten. Die individuellen Erfahrungen in ihren bisherigen Leben stellten für sie die Objektivierung des Normalen dar, worüber man sich - da andere ebensolche Erfahrungen gemacht hatten - zumeist auch mit Mithäftlingen verständigen konnte. Das Lager war indes für sie eine Gegenwelt, in der alles verkehrt zu sein schien. Umso stärker waren daher zuweilen die sozial wirksamen Kräfte bei den Inhaftierten, mit deren Hilfe sie versuchten, sich die Normalität zurückzurufen und in den Lagern so weit wie möglich aufs Neue zu erschaffen. Das konnte trotz der Isolation von der Außenwelt und der dantesken, gleichermaßen verängstigenden wie verwirrenden Umgebung in den Lagern deshalb geschehen, weil die Objektivität der Gesellschaft, die für sie nicht mehr gelten sollte, als Inkorporation in den Habitus der Inhaftierten vorhanden war. "Ich bin in der Welt enthalten, aber die Welt ist auch in mir enthalten. Die soziale Realität existiert sozusagen zweimal […] innerhalb und außerhalb der Akteure", beschreibt Bourdieu dieses Verhältnis von Individuum und Gesellschaft (in Bourdieu/Wacquant 1996: 161; Hervorhebungen M.S.).

Für die Inhaftierten selbst machte diese Inkorporation des Sozialen offenbar etwas grundlegend Menschliches aus und wir finden dies durch ihre eigenen Worte bekräftigt. Die in Auschwitz inhaftierte Jadwiga Aposto?-Staniszewska betont, dass diese Inkorporation nicht zerstört werden kann, so lange ein Mensch lebt:

"Um die Menschen im Konzentrationslager zu vernichten, brauchten die SS-Männer nur einen kräftigen Knüppel, einen harten Stiefelabsatz, die Faust oder das Krematorium, aber um den Menschen im Menschen zu zerstören, dazu fehlten den Nazis die Mittel. Und das ist die entscheidende Wahrheit über das Konzentrationslager; sie wird bezeugt von denen, die das Schicksal hat überleben lassen, und von denen, deren Asche auf den Feldern vor dem Lager verstreut und deren Andenken unvergessen ist." (Aposto?-Staniszewska 1987: 225)

Bei Robert Antelme, der in seinem Buch Das Menschengeschlecht (Antelme 2001) immer wieder auf diesen besonderen Aspekt menschlichen Seins zurückkehrt, liest sich das so:

"Die SS, die uns miteinander verwechselt, vermag uns nicht so weit zu bringen, dass wir uns verwechseln. Sie können uns nicht daran hindern, unsere Wahl zu treffen. Im Gegenteil, hier ist die Notwendigkeit, seine Wahl zu treffen, maßlos gesteigert und konstant. Je mehr wir uns verändern, je mehr wir uns von zu Hause entfernen, je mehr die SS glaubt, uns zu einer unterschiedslosen und verantwortungslosen Masse zu machen, was wir dem Anschein nach auch unbestreitbar sind, umso schärfer werden diese Unterschiede. Der Mensch der Lager ist nicht die Aufhebung dieser Unterschiede. Im Gegenteil, er ist ihre tatsächliche Verwirklichung." (Antelme 2001: 122)

Und dabei geht er sogar noch weiter, wenn er betont:

"Es bestand nicht die geringste Aussicht, jemals wirklich für alle ein Niemand zu werden." (Ebd.: 240).
Sogar in Bezug auf das allerletzte Lebensstadium vor dem Hunger- und Erschöpfungstod äußert Adolf Gawalewicz, der diesen Zustand selbst nur knapp überlebt hatte:

"Allgemein kann man sagen, dass zwischen den Muselmännern genau die gleichen Unterschiede auftraten wie zwischen Menschen, die unter normalen Bedingungen leben, Unterschiede körperlicher und psychischer Art. Die Lagerbedingungen verschärften diese Unterschiede und wir wurden oftmals Zeugen einer Umwertung der Rolle der physischen und psychischen Faktoren." (Adolf Gawalewicz in Ryn/K?odzi?ski 1987: 122)

Durch diese Zitate lässt sich, um es mit Erving Goffman zu sagen, nicht allein aufzeigen, was in einer "totalen Institution" wie einem Konzentrationslager "mit dem Ich angestellt werden kann" (Goffman 1973: 23), sondern auch, wo offenbar die Grenzen dafür liegen und was folglich mit dem "Ich" nicht angestellt werden kann.

Welches aber sind nun die wesentlichen Kriterien, die nach Ansicht der in dieser Arbeit herangezogenen AutorInnen von Konzentrationslager-Erinnerungsliteratur einen Menschen zu einem unterscheidbaren Wesen machen - Kriterien, die also dieses "Ich" konstituieren und dadurch verhindern, dass man "jemals wirklich für alle ein Niemand" (Antelme 2001: 240) wird? Welches sind die in dieser Literatur immer wieder thematisierten "grundlegenden Ideen" vom Menschen und von Gesellschaft?


Maja Suderland ist derzeit Vertretungsprofessorin für empirische Sozialforschung an der Hochschule Fulda. Bei Campus erschien von ihr außerdem "Territorien des Selbst. Kulturelle Identität als Ressource für das tägliche Überleben im Konzentrationslager" (2004).


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