E-Book, Deutsch, 248 Seiten
ISBN: 978-3-95765-762-6
Verlag: p.machinery
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Norbert Stöbe, geboren 1953 in Troisdorf, studierte Chemie an der RWTH Aachen. Daneben begann er mit dem Übersetzen und Schreiben. Seine Romane, Storys und Erzählungen wurden mit dem Kurd-Laßwitz-Preis und dem Deutschen Science-Fiction-Preis ausgezeichnet. Er lebt als freier Autor und Übersetzer in Stolberg bei Aachen, »Black Box« ist sein neunter Roman.
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1
Ich heiße John Nowak und war erst ein Mensch und dann ein Aktenkoffer. Was ich jetzt war, wusste ich nicht. Alles fing im Orbit der Erde an. Kaum war ich erwacht, stellte Mother eine Funkverbindung mit einer Bodenstation her, und ich hörte die Stimme von Rickety Jones. Der Klang ihrer wundervoll lebendigen Stimme durchströmte mich wie eine Zuckerinfusion. Ihr spröder Klang löste, ich gestehe es, heftiges Begehren aus, noch ehe sie auf dem Monitor abgebildet wurde. Als ich sie dann sah, ihren dunkelblonden Pferdeschwanz, ihre ungläubig aufgerissenen grünen Augen und den Ansatz der Brüste im Ausschnitt ihres Pullovers, war es um mich geschehen: Ich war verliebt. Ich stellte mich vor, aber natürlich glaubte sie mir nicht. Sie vermutete einen dreisten Scherz und unterbrach die Verbindung. Vermutlich hatte es auch damit zu tun, dass ich splitternackt war. Ich schaute mich in der Kabine um, fand einen Kleiderspind und kleidete mich an, was mir wegen der Schwerelosigkeit nicht gerade leichtfiel. Beim zweiten Anruf war ich besser gewappnet. Ich entschuldigte mich und fragte sie höflich, welches Jahr wir hätten. »Zweitausendeinhundertneunundsiebzig?«, antwortete sie argwöhnisch. Ich nickte, als hätte ich mit dieser Antwort gerechnet, und fragte sie, wer sie sei. Sie antwortete mit Gegenfragen. Erst am nächsten Tag, also mehrere sporadische Kontakte später, hatte sie genug Vertrauen gefasst, um mir ein paar Details zu nennen. Offenbar fühlte sie sich ein bisschen einsam. Zusammen mit Ortho Ximenes, einem Meteorologen, tat sie ein halbes Jahr lang Dienst bei Sky Link in den Rocky Mountains. Die Station war um zweitausendfünfzig herum gebaut worden, als die ersten interstellaren Forschungsmissionen starteten, und hatte die Aufgabe, Verbindung mit den Expeditionsschiffen zu halten. »Zu Anfang wurden die Daten von hier an das Kommunikationszentrum an der kalifornischen Küste weitergeleitet, und von dort aus hielt man mit den Expeditionen auch Kontakt. Aber das Zentrum wurde bei einer Überschwemmung zerstört, und dann begann auch schon die Stagnation. Wegen des Regimes leiten wir derzeit überhaupt keine Daten mehr weiter, sondern erstellen lediglich zum Ende unserer Halbjahresschicht einen Bericht. Von Kommunikation kann eh keine Rede mehr sein, wegen der großen Entfernungen. Die Expeditionen sind längst am Ziel, und nur sieben senden überhaupt noch Daten. Wir sind hier ein verlorener Außenposten, das muss man wohl so sagen. Niemand interessiert sich für uns. Wegen des Regimes hat man uns vor sieben Jahren auch die Energieleitung gekappt. Jetzt sind wir notgedrungen Selbstversorger, aber die Solarzellen sind alt, das Windrad häufig defekt, und die Kapazität der Speicherakkus beträgt nur noch zweiundzwanzig Prozent. Da kann man keine großen Sprünge machen.« Ich verstand nicht alles, was sie sagte, aber ich ließ sie reden. Reden, das war eine vertrauensbildende Maßnahme, vor allem aber ein Genuss. Ihrer Stimme zu lauschen, war für mich wie Musik mit erotischer Massage. Schließlich bat ich sie, mir die Umgebung zu zeigen. Sie pflückte die Kamera von ihrem Monitor und hielt sie ans Fenster. Auf dem Wanddisplay sah ich einen breiten, grasbewachsenen Felsausläufer und schroffe Berghänge, die mit merkwürdigen Bäumen bestanden waren – die Blätter wirkten ausgefranst, die Stämme knotig. Hätten hier nicht Kiefern stehen sollen? Ein Trampelpfad führte zu einer Anlage mit einer großen und einer kleinen Parabolantenne, mehreren Stabantennen und verschiedenen Sensoren. Auf einem Mast drehte sich ein Windrad. Ein Mann mit Parka und Daypack las irgendwelche Anzeigen ab und machte sich Notizen auf einem Tablet. Das musste Ortho Ximenes sein. »Jetzt Sie«, sagte Rickety. »Von wo aus rufen Sie an? Von Amerika aus?« »Es ist so, wie ich es Ihnen gesagt habe. Ich bin in einem Raumschiff aufgewacht und weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin. Ich befinde mich im Erdorbit.« »Hören Sie auf, mich zu verarschen.« Ein kleine düstere, aber reizende Wolke verschattete ihr Gesicht. »Wenn Sie mir endlich glauben würden, wäre mir schon ein Stück weit geholfen.« »Schluss damit. Sagen Sie mir endlich, wer Sie sind.« »Ich bin John Nowak, und das ist die Wahrheit.« »Ist es nicht. John Nowak war achtundzwanzig, als sein Bewusstsein dupliziert und auf die Reise geschickt wurde, und er ist im Alter von zweiundachtzig Jahren gestorben.« »Haben Sie ihn sich angesehen?« »Sie meinen, auf alten Videoaufzeichnungen? Nein, wieso?« »Bitte tun Sie das.« Sie schaltete ab. Während sie Nachforschungen anstellte – davon ging ich jedenfalls aus –, betrachtete ich die Erde. Zu tun gab es für mich nichts. Das Raumschiff hatte ich bereits erkundet. Der Zutritt zum hinteren Teil mit dem Antrieb wurde durch ein türloses schwarzes Schott blockiert. Außer dem Raum, in dem ich zu mir gekommen war, gab es noch einen zweiten. Im ersten Raum waren ein Spind mit Kleidung, eine winzige Toilette mit Dusche, ein Automat, der auf Knopfdruck undefinierbare Essensrationen und Trinkwasser spendete, und eine Funkeinrichtung mit festprogrammierter Sendefrequenz. Im zweiten Raum waren verschiedene Aggregate mit unbekannter Funktion angebracht, außerdem war eine Luftschleuse vorhanden, allerdings kein Raumanzug. Ich fragte Mother, was das sollte. Sie antwortete, ich bräuchte keinen Raumanzug, denn man werde mich abholen. Auch meine anderen Fragen beantwortete sie ähnlich wortkarg. Sie wollte oder konnte mir nicht sagen, wer oder was ich war. Sie sagte mir auch nicht, wer das Schiff gebaut hatte und was aus unserem Team (und aus mir in der Inkarnation des Aktenkoffers) geworden war. Mother hatte die sanfte Stimme, an die mich erinnerte, verhielt sich aber ganz anders als unsere damalige Bord-KI: indifferent, unfreundlich, abweisend. Allerdings hatte ich kaum Gelegenheit gehabt, mit ihr zu sprechen, eigentlich nur bei der Begrüßung an Bord, als wir in unseren Mulden verkabelt und in den Schlafmodus versetzt worden waren, und dann in der kurzen Zeit, die zwischen unserem Aufwachen und dem … Unglück verstrichen war. Zwischen dem Beginn unseres Forscherlebens und dem Auftauchen des unbekannten Stealthobjekts, das uns verschluckt hatte. Aber ich hatte die Vermutung, dass die Stimme, die sich als Mother bezeichnete, etwas anderes war als die KI, die man uns damals mitgegeben hatte. Fengdao hatte von Verschlucken gesprochen, aber vielleicht hatte er das Ereignis ja falsch interpretiert. Meine eigenen Erinnerungen waren bruchstückhaft und wenig aussagekräftig: Simone, die mit einem Greifer herumfuchtelte. Cyrus, der Anweisungen rief, die niemand befolgte. Und draußen die gewaltige Planetenkugel, die nach und nach ausgeblendet oder verdeckt worden war – von etwas Dunklem, Schwarzem. Das war alles. Es piepte, und auf dem Display erschien Ricketys Gesicht. Diesmal wirkte sie ernst, das Lächeln war aus ihren Augen verschwunden. »Ich habe mir die Videos angesehen«, sagte sie ohne Einleitung. »Und?« »Ich habe daraufhin Meldung erstattet. Man wird sich bei Ihnen melden.« »Wird man mich abholen?« »Ich muss Energie sparen, tut mir leid. Alles Gute.« Das Rechteck an der Wand, das sie eben noch ausgefüllt hatte, wurde schwarz. Ich versuchte gleich wieder, sie anzurufen, doch sie reagierte nicht mehr. Daraufhin versuchte ich, die Ruffrequenz zu ändern, doch ohne Einstellmöglichkeiten war das ein aussichtsloses Unterfangen. Der Monitor war in die Wand eingelassen, es gab nicht mal einen Schalter. Da ich kein Werkzeug hatte, konnte ich die Wandverkleidung nicht lösen, jedenfalls nicht ohne Beschädigungen zu riskieren, die womöglich Auswirkungen auf die Lebenserhaltungssysteme hätten. Ich versuchte, das Problem mit Mother zu besprechen, doch auch dabei kam nichts heraus. Dieses verdammte Raumschiff war eine Black Box. Also wartete ich und verkürzte mir die Zeit mit Fitnessübungen, die auf dem Monitor von einem recht akkuraten Menschenmodell vorgemacht wurden. Es verfügte sogar über ein männliches Geschlechtsteil, das bei den Übungen lustig umherschlackerte. Mother mochte nicht sonderlich auskunftsfreudig sein, aber möglicherweise besaß sie Humor. Einfach war das Workout nicht, denn wegen der Schwerelosigkeit war ich auf allerlei Fixierungen und elastische Gurte angewiesen. Doch die Übungen taten mir gut, und ich merkte, wie ich von Tag zu Tag fitter wurde. Gleichzeitig machte sich Dumpfheit in mir breit, eine schicksalsergebene Teilnahmslosigkeit. Hin und wieder bezog ich vor dem erdabgewandten anderen Fenster Posten und hielt Ausschau nach wandernden Lichtpunkten; nach Raumstationen, Satelliten, sich nähernden Raumschiffen, doch irgendwann gab ich es auf. Mother ernährte mich und entsorgte meine Ausscheidungen. Damit konnte ich leben. Ich wandte mich wieder der Erde zu, den Wolken, dem Wasser und dem braunen und gelben Land. Milliarden Menschen lebten dort unten – ich kannte einen einzigen davon. Zum Träumen reichte Ricketys grünäugiges Gesicht mir aus. Ich machte sie zum Inhalt meiner sexuellen Fantasien, aber vor allem redete ich mit ihr. Nach einer Weile gab sie mir sogar Antwort. Wir führten lange Gespräche, und manchmal brachte sie mich sogar zum Lachen – kein Scheiß. Ich war dabei, langsam aber sicher durchzudrehen. Dann machte es Klong, und ein Ruck ging durch mein Schiff. Ich blickte aus dem Fenster und sah den Stummelflügel des Shuttles, das angedockt hatte. Er war rußig, schartig, zerbeult. Kurz darauf zischte die Schleuse. Ich hatte auf menschliche Gesichter gehofft, meinetwegen abgeschottet hinterm Visier eines Raumanzugs, wurde aber bitter enttäuscht. Eine vierzig Zentimeter durchmessende Sonde...