Der Anschlag von Wien und die terroristische Bedrohung in Europa
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-903441-19-4
Verlag: Amalthea Signum
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nicolas Stockhammer, Dr., geboren in Wien, ist Politikwissenschaftler mit Fokus auf Extremismus- und Terrorismusforschung sowie Sicherheitspolitik. Seit Juli 2021 obliegt ihm die wissenschaftliche Leitung und Koordination des Research-Clusters »Counter-Terrorism, CVE (Countering Violent Extremism) and Intelligence« an der Donau-Universität Krems.
Autoren/Hrsg.
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RADIKALISIERUNG: WIE WIRD MAN TERRORIST?
Was versteht man unter Radikalisierung?45 Damit ist jener Vorgang gemeint, wenn ein „Individuum oder ein Kollektiv zur Durchsetzung seiner politischen Ziele und Ideen seine Mittel ausweitet und nicht mehr nur gewaltfrei agiert, sondern auch Gewalt anwendet. Radikalisierung wird somit als ein Prozess hin zur Gewaltanwendung oder sogar hin zum Terrorismus verstanden.“46 In der Regel verläuft jeder Radikalisierungsprozess stufenweise auf unterschiedlichen Wirkungsebenen.47 Einerseits „affektiv“ auf der Gefühlsebene, wo die emotionale Komponente der zunehmenden, in den eigenen psychischen und sozialen Defiziten begründeten Offenheit für radikales Gedankengut im Vordergrund steht. Andererseits auf der Verstandesebene der abwertenden, demokratiefeindlichen Ideologien, wo bei den Betroffenen eine wachsende Bereitschaft, extremistisches Verhalten zu rechtfertigen, zu registrieren ist. Schließlich ebenso auf einer pragmatischen Ebene, wo die Gewaltaffinität bereits ausgeprägt und der Weg in die Gewalt bereits mehr oder weniger vorgezeichnet ist. Die Radikalisierung zum Terrorismus ist ein komplexer, stufenweiser Prozess, der von mehreren Faktoren beeinflusst wird. Es gibt kein einheitliches Profil von Terroristen und keine allgemein akzeptierte Theorie zur Erklärung, warum Menschen terroristische Gewalt als Mittel zur Durchsetzung ideologischer Ziele wählen. Dennoch haben sich einige ursächliche Aspekte herauskristallisiert. Radikalisierung hat eine Nachfrage- und Angebotsseite. ANGEBOT UND NACHFRAGE
Man unterscheidet daher zum Beispiel zwischen Push- und Pull-Faktoren, manchmal auch persönlichen Faktoren für Radikalisierung.48 Zu den Push-Faktoren (Nachfrage), also jenen, die Ansprechbare zur Radikalisierung gewissermaßen hinstoßen, gehören unter anderem: ? Psychologische und psychosoziale Faktoren (Familie, Freundschaften oder das erweiterte soziale Umfeld) ? Persönliches Scheitern/Misserfolge (beruflich wie privat) ? Krisen (in der folgenden Reihenfolge): persönlich, gesellschaftlich, politisch ? Ausgrenzungserfahrungen, Marginalisierung, Diskriminierung ? Identitäts- und Sinnsuche ? Generelle Orientierungs- und Perspektivlosigkeit (sozioökonomische Ungleichheit beziehungsweise Undurchlässigkeit) Hiervon zu unterscheiden sind die sogenannten Pull-Faktoren (Angebot) der Radikalisierung (also jene, die anziehend wirken), die hier exemplarisch dargestellt werden: ? Die Verfügbarkeit extremistischer Ideologien beziehungsweise Ideologiefragmente ? Die Präsenz extremistischer Akteure, die Radikalisierungsbereite abholen ? Eine „charismatische Ansprache“ durch diese Akteure î Zugehörigkeit zu einer ausgewählten, exklusiven Wertegemeinschaft ? Eindeutige Regeln, Hierarchien und klar zugewiesene Rollen ? Soziale Durchlässigkeit und die Möglichkeit des Aufstiegs innerhalb der Gruppe ? Das Versprechen von Abenteuer, Heldentum und der Teilhabe an einer Utopie ? Die hergestellte Verbindung zu internationalen Konflikten (zum Beispiel in der islamischen Welt) ? Opfernarrative und das Angebot von Feindkollektiven („Sündenböcken“) Wie kommt es überhaupt zu einer Radikalisierung von Einzelpersonen? Hierauf gibt es keine klare Antwort, da Radikalisierung stets auf einer individuellen Entwicklung beruht. Es kann eine beliebige Mischung aus den oben genannten Push- und Pull-Faktoren sein, die jemanden dazu veranlasst, sich extremistischen Ideen zuzuwenden und sich schrittweise auch damit zu identifizieren. Manchmal ist deshalb von einem „Radikalisierungscocktail“ die Rede. BAUSTEINE DER RADIKALISIERUNG
Peter R. Neumann beschreibt mit seinem „Baustein-Modell“ die angesprochene stufenweise Entwicklung von Radikalisierung anhand von fünf „Bausteinen“, die bei nahezu jedem Radikalisierungsverlauf in irgendeiner Form anzutreffen sind: Frust, Drang, Ideen, Leute und Gewalt.49 Er betont, dass der Unmut (Frust) über empfundene Missstände wie Ungerechtigkeit, Unterdrückung, sozialer und ökonomischer Ausschluss oder widersprüchliche Identitäten Menschen empfänglich für extremistische Ideen machen kann. Hieraus entwickelt sich ein Drang, an dieser Situation etwas zu ändern – entweder als Ausdruck von Sinnsuche, Ausflucht oder Abenteuerlust. Was den Ausschlag für diesen Drang gibt und wie er sich entfaltet, hängt in hohem Maße vom Individuum selbst ab. Extremistische Ideen und Erzählungen sind die notwendige Grundlage für jeden Radikalisierungsprozess. Man radikalisiert sich zum Extremismus. Ideen oder Ideologien liefern die „Rechtfertigung, Richtung und den Anstoß für politisches (und gewalttätiges) Handeln“.50 Ideologien selbst basieren nach Neumann auf einem dreistufigen Prozess: Diagnose, Prognose und Motivation.51 Während die Diagnose der Problemanalyse dient, sucht die Prognose nach einer (einfachen) Lösung. Schließlich widmet sich die Motivation der Frage, was die Rolle des Betroffenen bei der identifizierten Problemlösungsmethode sein kann. Ein weiterer bedeutender Aspekt ist das unmittelbare soziale Umfeld eines sich radikalisierenden Individuums und inwieweit andere Personen als Verstärker Einfluss auf dessen Entwicklung nehmen. Ebenso spielt die Erfahrung von Gewalt eine Rolle, sei es als eigene traumatische Erfahrung oder als brutale Handlung gegen andere. Am Ende dieses Verlaufs, der unterschiedlich lange dauern kann, steht der Terrorismus. Eine derartige, stark vereinfachende Darstellung des Baustein-Modells erhält natürlich erst anhand realer Fälle zusätzliche Substanz. Persönliche Krise oder traumatisches Erlebnis (Frust)
Eine persönliche Krise oder ein traumatisches Erlebnis können eine Person empfänglicher für extremistische Ideologien machen. Diese Erfahrungen begünstigen die Entfremdung von der Gesellschaft und den Vertrauensverlust in die Regierung und andere Institutionen. In einer solchen Phase können extremistische Gruppierungen eine Art Auffangnetz oder Ersatzfamilie bieten und eine vermeintlich einfache Lösung für komplexe Probleme präsentieren. Prototypisch für diese Kategorie der Traumatisierung ist Salman Abedi, jener Attentäter, der am 22. Mai 2017 einen Selbstmordanschlag bei einem Konzert von Ariana Grande in der Manchester Arena verübte.52 Dabei kamen 22 Menschen ums Leben, über 500 wurden verletzt. Abedi wuchs in einer unterprivilegierten Familie auf, die aus Libyen stammte. Sein Vater war ein islamistischer Aktivist, der gegen Muammar Gaddafi kämpfte und später in Manchester politisches Asyl erhielt. Abedi war nicht religiös und hatte keine Verbindung zu extremistischen Gruppen, bis er im Jahr 2011 nach Libyen reiste und dort den tobenden Bürgerkrieg erlebte.53 Dieses traumatische Erlebnis, kombiniert mit persönlichen Schwierigkeiten,54 führte dazu, dass er radikalisiert wurde und sich schließlich einer terroristischen Gruppe anschloss. Die britischen Behörden fanden heraus, dass Abedi in der Vergangenheit regelmäßig in Moscheen ging, die von extremistischen Predigern frequentiert wurden. Es wird vermutet, dass er durch diese Kontakte weiter radikalisiert wurde und sich schließlich dazu entschloss, den Anschlag in Manchester durchzuführen. Die Unterstützung, die er erfuhr, dürfte jedoch vorwiegend inspirativ gewesen sein. Dennoch, die Hintergründe der Tat sind nach wie vor nicht restlos aufgeklärt. Salman Abedi wird als der Haupttäter des Anschlags in Manchester angesehen, aber es wird angenommen, dass er Unterstützung von anderen Personen erhalten hat.55 Die britischen Behörden führten in der Folge des Anschlags eine umfangreiche Untersuchung durch, um mögliche Mittäter und Hintermänner zu identifizieren, darunter den Bruder des Attentäters, Hashem Abedi.56 Ähnlich verlief die Radikalisierung von Richard Reid, der auch als „Schuhbomber“ bekannt ist.57 Reid war ein Konvertit zum Islam und hatte in seiner Kindheit üble Erfahrungen gemacht, die ihn langfristig psychisch belasteten. Im Jahr 2001 versuchte er ohne Erfolg, auf einem Flug von Paris nach Miami einen Sprengstoff, versteckt in seinem Schuh, zur Explosion zu bringen. Reid wurde von mehreren Passagieren, die sein verdächtiges Verhalten bemerkten und ihn schließlich überwältigten, daran gehindert, den Zünder auszulösen. Das Flugzeug wurde nach Boston umgeleitet, wo Reid von den Behörden in Gewahrsam genommen wurde. Der gescheiterte...