Buch, Deutsch, Band 27, 144 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 205 mm
Reihe: exil-literaturpreise
das buch zu den exil-literaturpreisen 2023
Buch, Deutsch, Band 27, 144 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 205 mm
Reihe: exil-literaturpreise
ISBN: 978-3-901899-90-4
Verlag: edition exil
zum 27. mal vergibt der verein exil die exil-literaturpreise zur förderung der literatur von autor*innen, die aus einer anderen kultur und erstsprache kommen und in deutscher sprache schreiben. jedes jahr bietet die reihe "preistexte" der edition exil einen profunden einblick in diese textwelten und offenbart das potenzial eines schreibens auf deutsch aus dem blickwinkel der mehrsprachigkeit.
der hauptpreis 2023 geht an anastasiya savran für ihren text „platz für enge“. die weiteren preise erhalten wania laila castronovo, sara köhnlein, lorena pircher,lisa-viktoria niederberger, estera calin und die schüler*innen der wortwerkstatt der ahs st. ursula in wien 1230 (betreut von frau mag.a johanna schmidt).
neben den prämierten texte enthält die anthologie interviews mit allen autor*innen.
Weitere Infos & Material
Platz für Enge
Anastasiya Savran
Erstmals hat Vater sich vor drei Monaten vor mir versteckt. Damals, es war Ende Februar, hatte er versucht, sich unauffällig in das Büro zu schleichen. So auch am heutigen Samstag: Als sei er für uns unsichtbar, tippelt er langsam zur Tür; wir haben gerade unser Frühstück beendet, genießen eine Tasse Tee – eine jahrelange Familientradition.
Mein Vater war noch nie ein guter Lügner. Seine gekräuselte Stirn, das minimale Zucken seiner Augenbraue, wenn er etwas verheimlicht, oder einfach nur dieser wacklige Gang spuckt früher oder später das aus, dem er gerade keine Worte gibt. So auch jetzt: Der weiche Teppich dämpft anfangs noch seine Schritte, aber bei den letzten Metern zur Tür, dort wo das Parkett entblößt vor ihm liegt, versucht er den über Jahre entstandenen quietschenden Parkett-Pfad zu meiden, und geht seitlich daran vorbei. Mutter hingegen versteckt ihre inneren Vorgänge nie von uns.
Als mein Vater in seinem Büro das Radio aufdreht, viel zu laut, verspannt sich Mutters Kiefer, und sie starrt düster in den kalten Tee. Dreihundertsieben Sekunden zähle ich, bis das laute und raue Geräusch von Schluchzen, das einfach nicht aufhört, aus dem Büro dringt. Mutter fährt kerzengerade hoch, läuft über den quietschenden Parkett-Pfad, reißt die Tür zum Büro auf. Das Radio dröhnt,Vater sitzt geknickt in seinem Bürosessel, die rechte Hand umklammert sein Smartphone, die linke Hand ist zur Faust geballt.
„Die Verbindung ist abgebrochen“, gibt er heiser von sich. Damit ist alles erklärt.
„Warum versteckst du dich auch vor uns?!“, wirft Mutter auf Russisch ins Büro hinein.
„Die Verbindung ist abgebrochen!“, flucht Vater auf Ukrainisch.
„Lasst gut sein“, beschwichtige ich auf Deutsch.
Natürlich sorgt sich Vater um seine Mutter, meine Oma. Fast drei Jahre sind vergangen, seit wir meine Oma, Cousinen, Cousins, Mutters und Vaters Kinderfreunde und Studienkollegen besucht haben. In den ersten zwei Jahren sind es die Einreise- und Quarantänebeschränkungen aufgrund der Pandemie gewesen, die einen Besuch in der Ukraine und Russland unmöglich machten. Und seit… Seit 2022 herrscht Krieg. Und seit 2022 gibt es immer häufiger dieses Schweigen. Solche Wortwechsel.
Ich schließe die Augen und konzentrierte mich auf den dämlichen Popsong, der aus dem Radio dröhnt. Zum zweiten Mal dieser Druck um uns herum. Zum zweiten Mal dieses angespannte Schweigen.
„Lasst uns den Tee fertig trinken…“, dringt Vaters Stimme nach einer viel zu langen Pause zu mir.
„Der ist längst kalt. Ich setze einen neuen auf“, sagt Mutter auf Deutsch.
„Gute Idee“, sage ich auf Ukrainisch.