Die Geschichte der Philosophie neu erzählt
E-Book, Deutsch, 379 Seiten
ISBN: 978-3-7518-2065-3
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Barbara Stiegler ist Professorin an der Universität Bordeaux-Montaigne und Ehrenmitglied des Institut universitaire de France. Bei Gallimard veröffentlichte sie bereits zahlreiche Werke über Nietzsche.
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EINLEITUNG
Das Leben und die Lebewesen im Telegrafenzeitalter
In einem seiner letzten Bücher schreibt Nietzsche, dass er sich ab dem Sommer 1876 mit nichts anderem mehr beschäftigt hat als mit Naturwissenschaften, Medizin und Physiologie.1 Während jede Lektüre für seine schwachen Augen zu einer Herausforderung wurde, begann er ab jenem Zeitpunkt, physikalische Theorien und Grundlagen der Medizin und Biologie seiner Zeit frenetisch zu studieren. Wie lässt sich eine solch radikale Wahl rechtfertigen? Zur Erklärung dieses Umschwungs schreibt Nietzsche in demselben Abschnitt, er dürste nach Wirklichkeit: die Realitäten fehlten geradezu innerhalb meines Wissens […] – Ein geradezu brennender Durst ergriff mich: von da an habe ich in der Tat nichts mehr getrieben als Physiologie, Medizin und Naturwissenschaften.2 Nicht dass er so naiv gewesen wäre zu glauben, Physik und Biologie seien in der Lage, die Wirklichkeit zweckmäßig und besser als alle anderen Formen des Empfindens und Denkens zu erfassen. Doch ebenso wie die strengsten Physiker und Biologen seiner Zeit spürte auch Nietzsche, dass sie ein gemeinsames Ziel verfolgten: die Überwindung der starren Kategorien des Denkens sowie seiner kollektiven Fiktionen, um vielleicht, mochte es auch nur durch näherungsweise Darstellungen sein, zu fassen zu bekommen, was die Wirklichkeit im Allgemeinen und leben im Besonderen bedeuten konnte. Warum hat sich Nietzsche dazu entschieden, sich mit Leib und Seele den Wissenschaften vom Leben und von der Gesundheit zu widmen? Diese Frage sucht das vorliegende Buch zu beantworten, wie der Titel eindeutig zu verstehen gibt: Nietzsche und das Leben. Unter »Leben« darf hier nicht so etwas wie ein unbestimmter Ausgangspunkt verstanden werden, denn für Nietzsche genügt es nicht, das »Wesen« der Alten und das »Bewusstsein« der Modernen gegen den »Leib« oder das »Leben«, so wie die Philosophen diese Ausdrücke oft in einem allgemeinen und unscharfen Sinne gebrauchen, einzutauschen. Diesen radikalen Wechsel, der das Leben und den Leib als neuen Anfangspunkt des Denkens setzt, kann die Philosophie seiner Meinung nach nur dann vollziehen, wenn sie sich in ernsthafter und präziser Weise damit auseinandersetzt, was uns die Lebenswissenschaften über die Entwicklung der Arten, die Lebensfunktionen von Organismen und die notwendigen Bedingungen ihres Erhalts lehren. Aus seiner emsigen und zumeist kritischen Lektüre biologischer Theorien behält Nietzsche zwei wesentliche Einsichten. Auch er gelangt zu der Überzeugung, dass das Leben zwei grundlegende Aktivitäten voraussetzt, die bis heute alle Geschichte der Lebewesen bedingen. Auf der einen Seite setzt sie die Evolution voraus, eine Annahme, die sich ab dem Ende des 18. Jahrhunderts zu verbreiten beginnt und mit Darwins Revolution sowie dem durch das Erscheinen von Der Ursprung der Arten im Jahre 1859 hervorgerufenen Schock auf brachiale Weise durchsetzt. Doch auf der anderen Seite setzt sie eine weitere Aktivität voraus – sofern Nietzsche zufolge die Evolutionstheorie niemals ausreicht, um das Leben einzufangen. Diese andere Aktivität, die allen Lebewesen zutiefst eignet, ist die Ernährung, die Nietzsche in »Einverleibung« umtauft. Mit diesem Ausdruck erfindet er einen Begriff, mithilfe dessen er den Akt des Sichernährens (trophein) neu zu denken vermag, der bereits in der Antike als wesentliches Merkmal des Lebendigen galt,3 und zwar ausgehend von dem, was die heutige Physiologie »Metabolismus« nennt: die Gesamtheit aller organischen Wechselbeziehungen zwischen Lebewesen und ihrer Umwelt. Durch diese sehr weit gefasste Deutung der Ernährung als Einverleibung kann er vor allem dem Gedächtnis eine zentrale Rolle zuweisen, jenem Vermögen also, Anderes in sich aufzunehmen und von ihm eine Spur zu bewahren (sei diese nun bewusst oder unbewusst, psychisch oder somatisch, individuell oder kollektiv), worin Nietzsche das erkennt, was das Leben als solches ausmacht: Die Entstehung des Gedächtnisses ist das Problem des Organischen. Wie ist Gedächtniß möglich?4 Indem er sich die Lehren der Biologie seiner Zeit aneignet – die Evolutionstheorie, jedoch auch die Theorien der Physiologie –, gelangt Nietzsche zu einer völlig neuen Schlussfolgerung innerhalb der Geschichte des Denkens: Evolution und Einverleibung sollten fortan als die zentralen Probleme der Philosophie gelten. Die Entstehung des absoluten Flusses Genau in dem Moment aber, da Philosophie und Biologie schließlich Notiz von ihnen nehmen, stellt Nietzsche fest, dass beide vitale Aktivitäten bedroht sind, und mit ihnen die Bedingungen des Lebens selbst. Mit der industriellen Revolution, der Globalisierung des Warenverkehrs sowie den neuen Kommunikationstechniken, die die Gesellschaft im 19. Jahrhundert von Grund auf verändern, sehen sich die Lebewesen einer vollkommen neuartigen Lebensumwelt gegenüber, in der Nietzsche sich als einer der ersten fragt, ob das Leben nicht nur bloß gelebt werden kann, sondern überhaupt noch möglich ist. Denn es sei daran erinnert: Weder, was wir heute recht unbestimmt »Globalisierung« nennen, noch die neuen Kommunikationstechniken, die sie erst möglich gemacht haben, noch die durch die industrielle Revolution hervorgerufene Umwelt- und Gesundheitskrise haben den Beginn unseres Jahrhunderts abgewartet, um unsere Lebensweise zu erschüttern. Die atemberaubende Beschleunigung dieses Prozesses, der bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Gesellschaften zu verändern begann, hat einhundertfünfzig Jahre vorher, zu Nietzsches Lebzeiten, eingesetzt. Man bedenke, dass er 1844 das Licht der Welt erblickt, zeitgleich mit dem Telegrafen, und dass seine philosophische Arbeit in den 1870er Jahren anhebt, während das Telegrafennetz unter den erstaunten Blicken seiner Zeitgenossen in rasanter Weise seine Wirkungen entfaltet. Mit dem Telegrafen verbreiten sich auch Eisenbahn und Dampfmaschinen, während im Verbund mit all diesen Neuerungen die Massenmedien regelrecht explodieren. Für Nietzsche sind diese Umwälzungen von solcher Heftigkeit, dass sie unser Denkvermögen lähmen: Prämissen des Maschinen-Zeitalters. – Die Presse, die Maschine, die Eisenbahn, der Telegraph sind Prämissen, deren tausendjährige Conclusion noch Niemand zu ziehen gewagt hat.5 Dasselbe notiert er 1877: »Wir hören wohl das Hämmern des Telegraphen aber verstehen es nicht.«6 Das Hämmern des Telegrafen verstehen, seine Auswirkungen auf die Seele und das Bewusstsein, jedoch auch auf den Leib untersuchen, eben dies macht sich Nietzsche zu seiner Aufgabe. Die massivste Auswirkung dieser Umwälzungen bildet für ihn zunächst die Entstehung dessen, was er »absoluten Fluß«7 nennt. Die Entdeckung, dass »Alles Fluß«8 ist, hat ihre Ursache in der Beschleunigung der Lebensrhythmen sowie in der zunehmenden Auflösung aller Eingrenzungen. Mit dem fließenden Werden aller Wirklichkeiten verflüssigen sich letztere gleichsam vor den Augen seiner Zeitgenossen, bis dass sie jegliche Form verlieren, die noch irgend von Dauer sein, geschweige denn Festigkeit besitzen könnte: Die ehemaligen Mittel, gleichartige dauernde Wesen durch lange Geschlechter zu erzielen: unveräußerlicher Grundbesitz, Verehrung der Älteren (Ursprung des Götter- und Heroenglaubens als der Ahnherren). Jetzt gehört die Zersplitterung des Grundbesitzes in die entgegengesetzte Tendenz: eine Zeitung (an Stelle der täglichen Gebete) Eisenbahn Telegraph. Centralisation einer ungeheuren Menge verschiedener Interessen in Einer Seele: die dazu sehr stark und verwandlungsfähig sein muß.9 Die Beschleunigung der Lebensrhythmen lässt die Menschen des 19. Jahrhunderts erkennen, dass sie in einen absoluten Fluss eingetaucht sind, in dem sich jede stabile Entität als eine Illusion, als zerbrechlich und vorläufig erweist. Diese Entdeckung zerstört auf brutale Weise jedwede Sicherheit gewährende Abstützung durch den Glauben und durch Orientierung, die die früheren Gesellschaften gegeben hatten. Doch ebenso stößt sie auf die Lehre von Heraklit, einem der ersten griechischen Philosophen, der bereits verkündet hatte, dass alles im »Fluss des Werdens« begriffen sei und nichts mit sich selbst identisch bleibe. An die Stelle einer strukturierten Zeitlichkeit, die in der Folge und gegen Heraklit mit der von Platon durchgesetzten griechischen Metaphysik eine Trennung zwischen der Zeit der Veränderung und jener des Bestehens oder der Ewigkeit eingeführt hatte, tritt von Neuem die Entdeckung eines »absoluten Flusses«, der aber dieses Mal alle notwendigen Stauungen bedroht. Unter »Stauung« (oder »Stase«) verstehe ich hier nicht allein ihre biologische und medizinische Bedeutung: »das (vorübergehende) Stillstehen oder Aussetzen von Körperfunktionen oder Ähnlichem«,10 sondern auch alle Formen von Festigkeit oder Stockung, die den Fluss des Werdens dank langsamerer Rhythmen, die durch den Leib erfunden werden, entweder zu verschleiern oder tatsächlich zu verlangsamen vermögen. Wenn zwar das Telegrafenzeitalter den absoluten Fluss nicht erzeugt oder...