Sterling | Heiliges Feuer | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 0 Seiten

Sterling Heiliges Feuer

Roman
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-641-13429-7
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

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ISBN: 978-3-641-13429-7
Verlag: Heyne
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Ein zweites Leben bekommt man nicht geschenkt
Ende des 21. Jahrhunderts erscheint die Welt wie ein Paradies: ökologische und soziale Differenzen sind überwunden, Krankheiten und Kriege existieren nicht mehr und auch der Menschheitstraum vom ewigen Leben rückt dank neuer Behandlungsmetahoden in greifbare Nähe. Auch die 94-jährige Mia Ziemann beschließt, sich einer medizinischen Behandlung zu unterziehen, die ihre Zellen entgiftet und von Grund auf genetisch regeneriert - ein Eingriff, für den sie allerdings einen hohen Preis bezahlen muss ...

Bruce Sterling wurde 1954 in Brownsville, Texas, geboren. Nach seinem Journalismus-Studium veröffentlichte er 1977 seinen ersten Roman 'Involution Ocean', dem noch zahlreiche weitere folgten, darunter 'Schismatrix' (1989) und 'Schwere Wetter' (1996). Zudem verfasste er mehrere Sachbücher und schreibt Artikel für verschiedene amerikanische Magazine. Bruce Sterling gilt, gemeinsam mit William Gibson, als Mitbegründer des Cyberpunk und ist einer der führenden Köpfe der Viridian-Design-Bewegung im Netz. 2003 wurde er Professor für Internetforschung und Science Fiction an der European Graduate School. Der Autor lebt heute in Turin, Italien.

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1
  Mia Ziemann wollte wissen, wie man sich an einem Sterbelager kleidete. Im Netz riet man ihr zu Schlichtheit und Aufrichtigkeit. Mia war eine vierundneunzigjährige kalifornische Medizinökonomin, während der Todkranke, Martin Warshaw, vor vierundsiebzig Jahren auf dem College ihr Geliebter gewesen war. Mia rechnete mit einer vorbereiteten Erklärung. Höchstwahrscheinlich würde es eine Hinterlassenschaft geben. Die Unterhaltung würde sich darum drehen, Mr. Warshaws Leben nachträglich eine Ordnung aufzuprägen, um dem Bedürfnis nach Würde und Geschlossenheit, die im letzten Lebensabschnitt von besonderer Bedeutung waren, Genüge zu tun. Er würde sie nicht bitten, beim tatsächlichen Todeseintritt zugegen zu sein. Die Wiedervereinigung ehemaliger Geliebter am Sterbebett stellte eine Herausforderung an die Etikette dar, denn gesellschaftliches Wohlverhalten genoss gegen Ende des einundzwanzigsten Jahrhunderts einen hohen Stellenwert. Problemfälle wie dieser wurden in endlosen Kommentarrunden, Arbeitspapieren von Expertengremien, anekdotischen Testamenten, auf Ethikkongressen, in vereideten öffentlichen Anhörungen und Benimmleitfäden ausgiebig erörtert. Kein Aspekt des menschlichen Lebens war davor gefeit, mit aufmerksamem, besonnenem und reifem Rat bedacht zu werden. Mia hatte so viel von diesem Material studiert, wie sie verdauen konnte. Den Nachmittag verbrachte sie damit, sich mit Martin Warshaws finanziellen und medizinischen Daten vertraut zu machen. Sie hatte Martin seit fünfzig Jahren nicht mehr gesehen, seine berufliche Karriere aber bis zu einem gewissen Grad verfolgt. Martins Daten waren höchst aufschlussreich und informativ. Sein Leben wurde dadurch zu einem offenen Buch. Das war ihr Zweck. Mia fasste einen Entschluss: schwarze, flache Schuhe, Stützstrümpfe, einen reaktiven Gürtel und ein Korsett, ein knielanges Seidenkleid in Kastanienbraun und Grau, lange Ärmel, hoher Kragen. Ein Hut kam ihr durchaus angemessen vor. Keine Handschuhe. Handschuhe wurden zwar empfohlen, wirkten aber zu klinisch. Mia ließ sich das Blut filtern, die Haut enzymieren und unterzog sich anschließend einer knochentiefen Massage. Sie nahm ein Mineralbad und manikürte sich die Hände. Sie ließ sich das Haar waschen, laminieren, volumisieren, legen und lackieren. Sie erhöhte den Anteil gesättigter Fettsäuren in ihrer Kost. Die Nacht verbrachte sie unter einem Überdruckzelt. Am nächsten Morgen, dem 19. November, ging Mia in die Stadt, um sich einen dezenten Hut auszusuchen, einen Hut, der den Umständen wahrhaft angemessen wäre. Es war ein kalter Herbsttag in San Francisco. Von der Bucht wehte Nebel heran und sickerte durch die belaubten Flanken der Bürotürme. Sie spazierte umher, besah sich die Auslagen und spazierte weiter, lange Zeit. Sie fand nichts, was ihrer Stimmung entsprochen hätte. Ein Hund folgte ihr die Market Street entlang und bahnte sich geschickt einen Weg durchs Gewühl. In einem schattigen Säulengang streckte sie lockend die bloße Hand aus. Der Hund verharrte furchtsam, dann kam er näher und beschnüffelte ihre Finger. »Bist du Mia Ziemann?«, fragte der Hund. »Ja, die bin ich«, antwortete Mia. Menschen gingen vorbei, mit energischen, zielstrebigen Schritten und ernster Miene; ihre sauberen Schuhe scharrten über das rote Backsteinpflaster des Gehsteigs. Der Hund ließ sich unter Mias stetigem Blick auf die Hinterbeine nieder. »Ich bin dir von zu Hause gefolgt«, prahlte der Hund, rhythmisch japsend. »Das war ein weiter Weg.« Der Hund trug einen karierten Strickpullover, maßgeschneiderte Hundehosen und ein schwarzes Strickkäppchen. Die behandschuhten Vorderpfoten des Hundes taugten auch zum Greifen, ähnlich den Pfoten eines Waschbären. Sein rehbraunes Fell war kurz geschoren, und er hatte hübsche, große Augen. Die Stimme kam aus einem in den Hals implantierten Lautsprecher. Ein Auto hupte einen säumigen Fußgänger an, ein einzelner Ton, der die gedämpfte Geräuschkulisse des Zentrums von San Francisco unangenehm störte. »Ja, der Weg war weit«, sagte Mia. »Das hast du gut gemacht. Braver Hund.« Der Hund freute sich über das Lob und wedelte mit dem Schwanz. »Ich glaube, ich habe mich verlaufen, und ich bin ziemlich hungrig.« »Nur keine Sorge. Guter Hund.« Der Hund duftete nach Eau de Cologne. »Wie heißt du?« »Plato«, antwortete der Hund schüchtern. »Das ist ein hübscher Name für einen Hund. Weshalb bist du mir gefolgt?« Diese raffinierte Gesprächswendung überforderte das beschränkte Sprachvermögen des Hundes, daher wechselte er mit der unerschütterlichen Wendigkeit seiner Art einfach das Thema. »Ich lebe bei Martin Warshaw. Er ist sehr gut zu mir. Er füttert mich gut. Martin riecht auch gut. Aber … nicht mehr wie früher. Nicht wie …« Der Hund wirkte gequält. »Jetzt nicht mehr …« »Hat Martin dich beauftragt, mir zu folgen?« Der Hund dachte nach. »Er spricht von dir. Er will dich sehen. Du solltest ihn besuchen. Er ist unglücklich.« Der Hund beschnüffelte das Pflaster, dann sah er erwartungsvoll zu Mia auf. »Hast du einen Leckerbissen?« »Ich habe keinen Leckerbissen dabei, Plato.« »Das ist schade«, meinte Plato. »Wie geht es Martin? Wie fühlt er sich?« In den behaarten Augenwinkeln des Hundes zeigte sich eine unbestimmte Angst. Es war schon eigenartig, wie das Gesicht eines Hundes an Ausdrucksfähigkeit gewann, wenn er erst einmal Sprechen gelernt hatte. »Nein«, sagte zögernd der Hund. »Martin riecht unglücklich. Zu Hause ist es nicht mehr schön. Martin macht mich sehr traurig.« Er begann zu heulen. Die Bürger von San Francisco waren sehr tolerant, zivilisiert und kosmopolitisch. Ganz offensichtlich missbilligten es die Passanten, dass Mia einen Hund in der Öffentlichkeit zum Weinen gebracht hatte. »Schon gut«, sagte Mia beschwichtigend. »Beruhige dich. Ich begleite dich. Wir gehen gleich zu Martin.« Der Hund winselte, zu durcheinander, um ein Wort herauszubringen. »Bring mich zu Martin Warshaw«, sagte Mia. »Ja, gern«, sagte der Hund, dessen Miene sich wieder aufgehellt hatte. In sein Universum war wieder Ordnung eingekehrt. »Das kann ich. Das ist leicht.« Er führte sie freudig umherhüpfend zu einer Straßenbahn. Der Hund zahlte für sie beide, und an der dritten Haltestelle stiegen sie aus. Martin Warshaw hatte sich dafür entschieden, nördlich der Market Street in Nob Hill zu wohnen, in einem der in den 2060ern erbauten erdbebensicheren Hochhäuser, einem polychromen Wolkenkratzer. Den aufdringlichen Schönheitsnormen jener Zeit entsprechend war die Fassade bunt gekachelt und mit ausladenden Erkern und Balkonen durchsetzt. Im Innern herrschte betäubende Stille. In der Lobby wuchs ein Wäldchen durchdringend duftender Orangen- und Avocadobäume in bunten Zwei-Tonnen-Kübeln. In den Bäumen hüpften Scharen zwitschernder kleiner Finken umher. Mia folgte ihrer Hundeeskorte in einen graffitiverkrusteten Aufzug. Im zehnten Stock traten sie auf einen Gang mit Kopfsteinpflaster hinaus. Die Innenbeleuchtung des Gebäudes imitierte hyperrealistisch den Sonnenschein Nordkaliforniens. Mia bahnte sich einen Weg zwischen den Kübeln mit großen Jakarandabäumen hindurch und kaufte an einem Automaten vakuumverpacktes Hundefutter. Der Hund nahm das knochenförmige Gebilde mit höflicher Begeisterung entgegen. Duftende Glyzinen rankten an der Außenwand von Martins Wohnung empor. Auf eine Berührung der Hundepfote hin glitt die schwere Tür beiseite. »Mia Ziemann ist da!«, verkündete der Hund lautstark ins Leere hinein. Das Wohnzimmer wies die klinische Sauberkeit eines altmodischen Hotels auf: Kübelpalmen, ein Medienschrank aus Mahagoni, große Messingstehlampen, ein Teaktisch mit Glasplatte, darauf makellose Glassachen und luftdicht verschlossene Gläser mit Nussmischungen. Zwei große Ratten mit Steuerhalsbändern fraßen Laborfutter aus einer Schüssel auf dem Tisch. »Gibst du mir deinen Mantel?«, fragte der Hund. Mia legte den braunen Gabardinemantel ab und reichte ihn dem Hund. Darunter trug sie ihre gewöhnliche Einkaufskleidung: maßgeschneiderte Hosen und eine langärmlige Bluse. Sie war leger gekleidet; das ließ sich nicht ändern. Der Hund machte sich spielerisch an einem Garderobenständer zu schaffen. Mia hängte ihre Handtasche auf. »Wo ist Martin?« Der Hund führte sie ins Schlafzimmer. Auf einem schmalen Bett lag ein Sterbender in einem gemusterten japanischen Pyjama. Entweder er schlief, oder er war bewusstlos; sein faltiges Gesicht war erschlafft, sein dünnes, lebloses Haar zerzaust. Als sie ihn erblickte, hätte Mia beinahe kehrtgemacht und wäre fortgelaufen. Ein so starkes, elementares Gefühl wie den Drang, aus dem Zimmer, aus dem Gebäude, aus der Stadt zu flüchten, hatte sie seit Jahren nicht mehr empfunden. Mia hielt stand. Angesichts der unerbittlichen Realität des Todes wurden all der eingeholte Rat und alle Vorbereitung hinfällig. Sie stand da und wartete darauf, dass sie sich erinnerte – an irgendetwas. Dann endlich erkannte sie den Mann wieder, und das Gesicht des Sterbenden stellte sich scharf. Sie hatte Martin seit über fünfzig Jahren nicht mehr gesehen. Vor über siebzig Jahren hatte sie zuletzt mit ihm geschlafen. Doch unbestreitbar war dies Martin Warshaw. Das, was von seiner leiblichen Hülle übrig geblieben war. Der Hund stupste mit der kalten Schnauze Warshaws Hand an. Warshaw regte sich. »Mach die Fenster auf«, flüsterte er. Der Hund tippte auf einen Schalter in Bodennähe. Vorhänge rollten beiseite, und die wandhohen Fenster glitten auf und ließen die feuchte Pazifikluft herein. »Hier bin ich,...


Stöbe, Norbert
Norbert Stöbe, 1953 in Troisdorf geboren, begann schon als Chemiestudent zu schreiben. Neben seiner Tätigkeit als Chemiker am Institut Textilchemie und Makromolekulare Chemie der RWTH Aachen übersetzte er die ersten Bücher. Sein Roman New York ist himmlisch wurde mit dem C. Bertelsmann Förderpreis und dem Kurd-Lasswitz-Preis ausgezeichnet. Seine Erzählung Der Durst der Stadt erhielt den Kurd-Lasswitz-Preis und die Kurzgeschichte Zehn Punkte den Deutschen Science Fiction Preis. Zu seinen weiteren bekannten Romanen zählen Spielzeit, Namenlos und Der Weg nach unten. Norbert Stöbe ist einer der bekanntesten deutschen Science-Fiction-Schriftsteller. Er lebt als freier Autor und Übersetzer in Stolberg.

Sterling, Bruce
Bruce Sterling wurde 1954 in Brownsville, Texas, geboren. Nach seinem Journalismus-Studium veröffentlichte er 1977 seinen ersten Roman „Involution Ocean“, dem noch zahlreiche weitere folgten, darunter „Schismatrix“ (1989) und „Schwere Wetter“ (1996). Zudem verfasste er mehrere Sachbücher und schreibt Artikel für verschiedene amerikanische Magazine. Bruce Sterling gilt, gemeinsam mit William Gibson, als Mitbegründer des Cyberpunk und ist einer der führenden Köpfe der Viridian-Design-Bewegung im Netz. 2003 wurde er Professor für Internetforschung und Science Fiction an der European Graduate School. Der Autor lebt heute in Turin, Italien.



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