Vom Erwerb eines Viertels des Wahnsinns
E-Book, Deutsch, 520 Seiten
ISBN: 978-3-7557-9058-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Helmut Steiner, 1956 in Krems an der Donau in Niederösterreich geboren, wuchs in einer Arbeitersiedlung am Stadtrand von Krems auf. Er studierte in Wien und verbrachte danach mehrere Jahre in Deutschland. Er lebt und arbeitet in Thürnthal (NÖ). In jungen Jahren als Musiker und Komponist aktiv, hat er über das Schreiben einen neuen Zugang zu kreativem Schaffen gefunden und bedient mit Lyrik, Kurzgeschichten und Romanen ein breites Spektrum der Literatur. "Wahnviertel" ist nach dem Prosadebüt "Die Monate mit R" der zweite Roman des Autors. Mit "Novemberwind", "Zwischen den Zeilen" und "Klageliedern" liegen bereits drei Gedichtbände vor.
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Ein neuer Priester
Zeus war eingeschlafen, lag auf der Bank und schnarchte. Jemand rüttelte an seiner Schulter. Er schlug die Augen auf und erntete den zornigen Blick seines Gegenübers. „Hier kannst du dich nicht niederlassen! Das ist mein Weingarten und ich dulde keine Landstreicher auf meinem Grund und Boden!“, führte der Mann ruhig, aber bestimmt aus. Zeus setzte sich auf und musterte den Ankömmling. Er mochte wohl so um die siebzig sein, wirkte aber noch kräftig und stattlich. Genauer betrachtet hatten sie sicher dieselbe Konfektionsgröße. Zeus stand auf und stellte sich neben ihn, um ihre Körpergröße zu vergleichen. Er schüttelte seinen Kopf und sein verfilztes Haar ordnete sich zu wohlgeformter Lockenpracht. Verstohlen schielte der Mann ihn an: „Wer bist du?“ „Ich bin Zeus.“ „Von den Gedersdorfer, oder von den Hadersdorfer Zeissen?“, fragte der Ignorant. Mit dieser unsinnigen Frage hatte Zeus nicht gerechnet und er fuhr ihn barsch an: „Zieh dich sofort aus!“ „Wie kommst du darauf, dass ich mich hier in meinem Weingarten ausziehen soll? Ich bin Weinbauer und mir gehört der halbe Weinberg hier!“, setzte der Bauer erbost entgegen. „Weil ich dein oberster Gott bin und mir die ganze Welt gehört!“, mahnte Zeus energisch. Zwar hätte er jetzt lieber sein Chiton und Himation übergeworfen, doch Hose, Hemd und das helle Sakko mit grüner Bordüre passten wie angegossen. Widerwillig und fluchend trabte der Weinbauer im karierten Hemd und weitem zu kurzem Beinkleid vor ihm her. „Ich brauche keinen zweiten Gott. Ich habe schon einen! Für den zahle ich auch Steuern“, begehrte der Bauer auf. „Ja, aber das ist kein richtiger Gott. Seine Lehre ist von meinen Söhnen abgekupfert und seine Wunder hatten wir längst vollbracht, als er als falscher Messias erfunden wurde. Die Steuern wirst du ab jetzt mir opfern. Und du redest nur mehr, wenn ich dich was frage. Du wirst mir dienen und mich anbeten! Wenn du das ordentlich gemacht hast, werde ich dich zu meinem Priester weihen.“ Der Bauer grunzte unwillig, stieg mürrisch über einen schmalen, dicht bewachsenen Pfad in einen Graben hinunter und lief so schnell er konnte zu seinem Auto. Doch als er das Fahrzeug starten wollte, verwandelte sich der Zündschlüssel in ein Rotschwänzchen. Das Vögelchen zwitscherte schadenfroh vom Zeigefinger des Gottes, als dieser sich in den Wagen setzte. Zeus fühlte sich etwas beengt am Beifahrersitz des Fahrzeuges: „Was ist das für ein seltsames Gefährt?“ Erstaunt glotzte ihn der Bauer an: „Das ist ein nagelneuer Mercedes-Benz E-Klasse!“ „Du fährst jetzt in das Städtchen da im Westen und suchst eine Kutsche aus, die meiner würdig ist!“, gebot Zeus schroff. Er rieb die Füße aneinander und entledigte sich des Lehms zwischen seinen Zehen: „Wie ist dein Name?“ „Ich heiße Johann“, antwortete der Bauer. Das geschwätzige Rotschwänzchen hatte wieder die Form des Autoschlüssels angenommen und der Landwirt fuhr aus dem Graben durch das Weinbaugebiet Richtung Stadt. Sie durchquerten ein kleines Industriegebiet, bis sie schließlich vor dem Glaspalast eines Autohändlers hielten. Hunderte Gebrauchtwagen füllten den riesigen Parkplatz vor dem Geschäft. Drinnen im Verkaufssalon glänzten die Neuwagen. Vor dem protzigen Eingangsportal hielt der Winzer an und wandte sich grinsend an Zeus: „Wir werden einen Haufen Geld brauchen für deine Kutsche.“ „Das werde ich aus deiner Opferbüchse nehmen. Wo hast du sie versteckt?“, fragte Zeus lächelnd. Zerknirscht zeigte Johann auf sein Sakko: „Meine Geldbörse steckt in der Innentasche.“ Zeus griff nach der Brieftasche und öffnete sie: „Da sind nur Plastikkarten und das Bild eines hässlichen Weibes!“ „Mein Taschengeld steckt in dem Fach dahinter. Das wird aber höchstens für das Betanken deiner Kutsche reichen.“ „Mein Sohn will das Bargeld abschaffen, weil ich mich mit Computern und virtuellen Währungen weniger gut auskenne. Er will mich entmachten und selbst die Weltherrschaft ergreifen, der dreiste Bengel“, seufzte Zeus und schob die bunte Kundenkarte einer Lebensmittelkette wieder in die Börse. „Oh, das kenne ich! Ich bin schon entmachtet. Mein Sohn hat die Herrschaft bereits übernommen“, stöhnte Johann. Zeus zog einen grünen Hunderter aus dem hinteren Fach der Börse: „Wie viele solcher Scheine werden wir brauchen?“ „Mehr als tausendmal so viele. Vielleicht sogar zweitausend Scheine!“, meinte Johann enttäuscht. Zeus schielte auf den Geldschein, streckte seine Hand aus und murmelte unverständliche, exotisch klingende Worte. Hunderteuroscheine türmten sich auf der Handfläche. Der Bauer hetzte einigen zu Boden flatternden Scheinen hinterher und stopfte sie in seine Hosentaschen. An einer Theke neben einem gläsernen Schauraum lehnten zwei gelangweilte Verkäufer. Einer der beiden verfiel in törichtes Gelächter, als Johann auf ihn zu ging. Der Zweite hatte die Geldbündel in den Händen des Weinbauern registriert und riss sich zusammen. Johann wedelte mit den Banknoten Richtung Zeus, der bereits um die Fahrzeuge im Ausstellungsraum schlich: „Ich suche was Gediegenes für den Herren dort.“ Zeus beendete seinen Rundgang und hielt an der seitlichen Glasfront des Schauraums. Verzückt schaute er auf einen neuen Range Rover, der außerhalb des Geschäftes vor einem Bürotrakt parkte: „Die Karossen hier drinnen sind zu minder für mich. Ich will den Wagen da draußen!“ Wieder lachte der unbedarfte Verkäufer. Sein Lachen erstarrte zu Stein, als Zeus seinen Arm hob. Verschreckt wechselten die Blicke des zweiten Angestellten zwischen Johann und seinem versteinerten Kollegen. „Dieses Auto gehört nicht in unser Programm. Das ist der Wagen unseres Chefs“, stammelte er verlegen. Johann wies mit seinem Daumen über die Schulter und flüsterte: „Das wird den da hinten nicht interessieren. Wie es so ausschaut, bekommt der immer, was er will.“ Der Chef des Ladens betrat die Verkaufshalle. Erst musterte er die Kunden, dann eilte er hinter die Theke, klopfte mit dem Zeigefinger auf seinen versteinerten Verkäufer und lachte, während er begann, die von Johann auf das Verkaufspult gelegten, sauber gestapelten Geldscheine zu zählen. „Herrlich, dass ich deinen Kollegen nicht mehr kündigen muss! Wir werden ihn hinten vor der Werkstatt als abschreckendes Beispiel aufstellen!“, raunte er zu seinem Angestellten. „Der Zauberer da drüben will ihren Rover“, flüsterte der Verkäufer. Der Chef grinste fröhlich: „Den kann er sofort haben. Ich habe erst eine Leasingrate für die Kiste bezahlt. Kümmere dich sofort um die Formalitäten!“ „Ich komme wohl zu spät hierher. Wer hat dieses Gesindel vor mir mit Wahnsinn geschlagen?“, donnerte Zeus und die gläserne Seitenwand der Halle rieselte aus den Stahlrahmen. Während er zu seiner neuen Kutsche schritt, kritzelte Johann seinen Namen und seine Adresse auf einen Zettel: „Wickelt alles über mich ab. Meinen Benz lasse ich einstweilen hier!“ Zeus und Johann zogen eine Spur der Verwüstung durch das nahe gelegene Städtchen. Erst machte Zeus einen Supermarkt am Stadtrand dem Erdboden gleich, weil er den Schokoriegel nicht fand, der ihm im Tierheim seine Kräfte zurückgegeben hatte. Dann demolierte er auf der anschließenden Suche nach passenden Ledersandalen zwei Schuhgeschäfte und eine Boutique. Zum Glück lotste ihn Johann zum Stand eines Imkers am Markt, wo er sich an verschiedensten Kostproben Wachauer Honigs satt schleckte. Auch hatte er Johanns Flehen nach passender, standesgemäßer Kleidung erhört und gestattete ihm, einen dunkelblauen Anzug zu erstehen. Doch zu Johanns Leidwesen befahl Zeus ihm noch eine Mütze zu erwerben, die klar zum Ausdruck bringen sollte, dass er sein Diener war. Keiner der beiden Hutläden führte eine derartige Kopfbedeckung, doch die ältere Dame im zweiten Geschäft zeigte Erbarmen, durchstöberte ihr Lager und fand schließlich die Dienstkappe ihres verstorbenen Mannes, der Portier im Stahlwerk gewesen war. Johann schämte sich mit der Kappe, hatte sie unter seiner Anzugjacke versteckt, als er durch Seitengassen zurück zum Parkplatz schlich. Er hatte jede Menge Kunden in der Stadt, die ihn jetzt in seiner neuen Rolle als Diener eines fragwürdigen Gottes nicht sehen durften. Zu seiner anfänglichen Furcht vor dem seltsamen Tyrannen hatte sich aber nun die Neugier gesellt. Über eine gewisse Form der Macht schien sein Gebieter zu verfügen, doch er bezweifelte, dass die ihm bisher dargebotene Magie auch für die Beherrschung der ganzen Welt reichte. Zumindest hatte er ein paar Hunderter am Parkplatz in seine Hosentasche gerettet, ohne dafür von seinem Herrn gescholten worden zu sein. Es könnte auch durchaus von...