Buch, Deutsch, Band 3, 235 Seiten, PB, Format (B × H): 139 mm x 207 mm, Gewicht: 344 g
Reihe: Lektionen
Buch, Deutsch, Band 3, 235 Seiten, PB, Format (B × H): 139 mm x 207 mm, Gewicht: 344 g
Reihe: Lektionen
ISBN: 978-3-940737-95-3
Verlag: Theater der Zeit GmbH
Wir alle schauspielern im Alltag. Wenn wir flirten, verhandeln, streiten, loben, feilschen oder kritisieren. Wir nehmen eine Rolle ein, verkörpern ein Image und wollen ein bestimmtes Bild von uns produzieren. Im Alltagstheater sind wir mehr oder weniger erfolgreiche Darsteller unseres Selbst. Und doch gibt es in diesem alltäglichen Schauspiel Menschen, die das Spielen zu ihrem Beruf gemacht haben. Diese professionellen Menschen nennt man Schauspieler. Sie wiederholen das Theater des Alltags, verwandeln es in die sekundäre Realität der Bühne, um ein Publikum zu unterhalten, zu rühren, zum Lachen zu bringen oder zu belehren. Die schauspielerische Tätigkeit ist die älteste Kunst der Mitteilung und ihre Erscheinungsformen sind so vielfältig wie die Geschichte des Menschen.
In diesem dritten Band der Lektionen wird ein Überblick gegeben über die Erfindung des Schauspielens als Beruf. Zwanzig Quellen, die systematisch unterteilt und kommentiert sind, stellen die wichtigsten Schauspieltheorien dar
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Einleitung von Bernd Stegemann I. SchauspielenUrsprung des Dramas aus dem Gottesdienste Quelle 1 von Philipp Eduard Devrient Von Herkunft und Wesen der Schauspielkunst Quelle 2 von Julius BabZur Philosophie des Schauspielers Quelle 3 von Georg SimmelZur Anthropologie des Schauspielers Quelle 4 von Helmuth PlessnerDramatische Gestaltung Quelle 5 von Erving GoffmanII. Schauspielen als Beruf. Die Erfindung des bürgerlichen Schauspielers im 18. Jahrhundert von Bernd StegemannDas Paradox über den Schauspieler Quelle 6 von Denis DiderotIII. Stanislawski und die Folgen von Bernd StegemannHandlung „Wenn“. Vorgeschlagene Situationen Quelle 7 von Konstantin Sergejewitsch StanislawskiVon den physischen Handlungen Quelle 8 von Konstantin Sergejewitsch StanislawskiWerkgeheimnisse der Schauspielkunst Quelle 9 von Michael TschechowDas emotionale Gedächtnis Quelle 10 von Lee StrasbergÜber das Schauspielen Quelle 11 von Sanford MeisnerIV. Bertolt Brecht oder Der moderne Schauspieler von Bernd StegemannAus einem Brief an einen Schauspieler Quelle 12 von Bertolt BrechtSchauspielerausbildung Quelle 13 von Bertolt BrechtKleines Organon für das Theater Quelle 14 von Bertolt BrechtZur Frage der Maßstäbe bei der Beurteilung der Schauspielkunst Quelle 15 von Bertolt BrechtV. Vielfalt des Schauspielens: Masken-, Körper- und Volkstheater von Bernd StegemannKleines Handbuch des Schauspielers Quelle 16 von Dario FoÜber den Schauspieler Quelle 17 von Edward Gordon CraigDer schauspieler und die über-marionette Quelle 18 von Edward Gordon CraigDie Prinzipien der Biomechanik Quelle 19 von Wsewolod Emiljewitsch MeyerholdWenn ich möchte, dass ein Schauspieler weint, geb’ ich ihm eine Zwiebel Quelle 20 von Heiner GoebbelsWeiterführende Literatur
I.
„Alle, die im Theater sitzen, werden verbunden durch ein Gefühl. Die Zwistigkeiten erblassen, die Unterschiede schmelzen, das Menschliche bricht vor. Die Duse spielt.“(1) Schauspieler und Schauspielerinnen sind in allen Epochen Menschen gewesen, die eine besondere Beachtung erfahren haben. Am Beginn der europäischen Theatergeschichte, im antiken Griechenland, löste sich der erste Schauspieler aus dem Chor der Sänger, die den Mythos einer Gottheit vortrugen. Dieser Protagonist stellte sich dem einigen Gesang entgegen und begann mit dem Antagonisten des Chores einen Wechselgesang. Ritual und Orgie, wie der Gottesdienst auch genannt wurde, Tanz, Gesang und Maskenspiel bildeten ein Fest, das zu den jährlichen Dionysien als Wettkampf aufgeführt wurde. Bald traten der zweite und dritte Schauspieler heraus und das Drama, wie es uns in der griechischen Tragödie überliefert ist, spielte sich vor den Augen der Gemeinschaft des Chores und der Bürger der Stadt ab. In der christlichen Geschichte Europas wurde dem Stand der Schauspieler lange mit Argwohn begegnet. Das fahrende Volk, die Spaßmacher und Jahrmarktsgaukler brachten die Menschen zum Lachen und entzogen sie dadurch der strengen Aufsicht der Kirche und der weltlichen Macht für die kurzen Momente des Theaters. Auch waren ihre Verwandlungskunststücke suspekt, da sie die fest gefügte Ordnung als veränderbar erscheinen ließen. Konnte das machtvolle Gewand etwa nur sein Kostüm sein, das man wechseln kann? Im elisabethanischen Theater ging diese anarchische Tradition des Volkstheaters eine historisch einmalige Verbindung mit dem schriftstellerischen Genie Shakespeares ein. Es entstand das Welttheater nicht nur dieser Epoche. Die Aufklärung, deren entfernte und etwas orientierungslose Kinder wir sind, erfand das Drama und den Schauspieler wiederum neu. Dieser sollte nun ein Stellvertreter des bürgerlichen Zuschauers sein. In seiner Kunst der Verkörperung suchten die ernsten Themen der normalen Menschen ein Mittel, um über sich selbst nachdenken zu können. In der Folge dieser Fähigkeit – stellvertretend für die Zuschauer Gefühle und Gedanken zu haben, Handlungen zu vollziehen und Erfahrungen zu machen – wurden die Schauspieler zu bewunderten Menschen. Virtuosen der Leidenschaft, Meister der Verführung, Titanen der Tatkraft und Künstlerseelen der Empfindung – all diese Eigenschaften wurden ihnen vom Publikum zugeschrieben. Von nun an sind sie die ideale Projektionsfläche für eine Existenz, die aus verdrängten Gefühlen, unterdrückten Handlungen und abgestumpften Empfindungen besteht. Was der Alltag aus den Menschen macht, wird in den Stunden des Theaters vergessen. Im Spiel des Schauspielers verzaubert sich das Leben wieder. Sein Feuer entflammt die Herzen, seine Verführung berührt die Seelen und sein sprachliches Geschick betört die Vernunft. Die Grenze zwischen der dargestellten Figur und seinem Darsteller verschwimmt. Bei diesem Romeo wäre man selbst gerne Julia und für dieses Gretchen könnte man noch mal wieder jung werden. Dass die Texte auswendig gelernt, die Gefühle hergestellt und die Leidenschaften aufgebläht sind, nimmt man gerne in Kauf für das Erlebnis, an einem gesteigerten Leben teilnehmen zu dürfen.
Die moderne Entwicklung der Theaterkunst kann und will diese Freude an der identifizierenden Projektion nicht weiter unterstützen. Sie zerstört im Gleichklang mit den Avantgarden der anderen Künste das genussvolle Verhältnis des Menschen zum Gegenstand seiner Betrachtung. Die Welt wird kriegerisch und unberechenbar. Die Dramen werden rauer, die Ästhetik der Theater verfährt ungnädig mit den Wahrnehmungsgewohnheiten seiner Zuschauer und das Spiel der Schauspieler muss sich dieser Entwicklung unterwerfen. Regisseure bestimmen nun die Interpretation und Spielweise. Der bewunderte Schauspieler wird zu einem Teil des großen Kunstwerks Theater.
Heute hat sich der Beruf des Schauspielers in zahlreiche einzelne Professionen aufgesplittert. Wollte man diese multiplen Anforderungen in einem Überblick darstellen, so würde man auf die vier großen Bereiche menschlicher Darstellungskunst kommen: dramatisches Spiel, episches Spiel, Performance und Laienspiel.
Die bürgerliche Geschichte des Schauspielers beginnt im 18. Jahrhundert mit der Anforderung, dass sein Spiel in einer vorgestellten Realität des Dramas und der Bühne glaubwürdig sein möge. Die Figur, die er spielt, soll nachvollziehbar handeln und emotional berühren. Damit die Figur auf der Bühne so wirkt, muss ihr Darsteller die Gefühle und Handlungen glaubwürdig herstellen können. Was jedoch unter „glaubwürdig“ verstanden wird, ist den Moden des Geschmacks unterworfen. Die Techniken der schauspielerischen Darstellung ändern sich mit diesen Moden, um die immer neuen Gewänder der Glaubwürdigkeit erzeugen zu können. Im Theater war das Spielen hinter der Vierten Wand seit dem Ende des 19. Jahrhunderts für viele Jahrzehnte das bestimmende Paradigma. Der Schauspieler ließ seine Figur auf der Bühne, die meistens ein Zimmer war, so agieren, als gäbe es keine Zuschauer. Diese saßen hinter der vorgestellten „Vierten Wand“ und waren die abwesenden Zeugen des Dramas. Der Film hat diese Spielweise für sich übernommen und perfektioniert. Die Schauspieler spielen auf dem Filmset vor dem Auge der Kamera weder mit dieser noch nehmen sie die Künstlichkeit des Aufbaus wahr. Sie blenden während ihres Spiels das technische Arrangement und alle Zuschauer am Set aus, um ihre Figur als realen Menschen erscheinen zu lassen. Denn die dargestellte Figur hat natürlich kein Bewusstsein davon, dass sie gefilmt wird. Um dieses doppelte Bewusstsein als Filmschauspieler oder Schauspieler hinter der Vierten Wand herstellen zu können, benötigt er eine Technik, die eine besonders konsequente Form der Stanislawskischen psychophysischen Handlungen darstellt. (Siehe Kapitel 2 und 3)
Der epische Spieler hingegen hat eine ältere Tradition. Der Volksschauspieler verfügt über die Technik, sich auf einem Jahrmarkt Aufmerksamkeit zu verschaffen. Er muss seinen Auftritt so gestalten, dass sich im allgemeinen Trubel die Blicke auf seine Figur richten. Ein buntes Kostüm, eine laute Stimme, eine akrobatische Einlage, eine auffällige Maske – alle diese Theatermittel sind notwendig, damit sich überhaupt ein Publikum aus dem Treiben des Marktes herausbildet. Ist die Theatersituation einmal hergestellt, muss sie durch ununterbrochene Reize weiter am Leben erhalten werden.
Das Spiel dieser Schauspieler ist von dem permanenten Zwang getrieben, die Aufmerksamkeit der Menge bei sich zu halten. Sie spielen im vollen Bewusstsein über die Wankelmütigkeit der Aufmerksamkeit ihrer Zuschauer. Ihr Spiel orientiert sich an diesen Schwankungen und kann durch Improvisationen und spielerische Erfahrung versuchen, Aufmerksamkeit zu bannen. Das epische Theater Bertolt Brechts nutzt diese doppelte Aufmerksamkeit des Spielers. Er spielt vor den Zuschauern und er spielt mit den Zuschauern. Durch das bürgerliche Theater sind die Zuschauer jedoch schon zu einem disziplinierten Publikum erzogen worden. Der Saal ist verdunkelt, man sitzt auf seinem Stuhl und bleibt für die Dauer der Vorstellung auch dort, und man kommentiert nicht laut das Gesehene. Man verhält sich gesittet und nicht wie auf einem Jahrmarkt. Da dieses Publikumsverhalten unumkehrbar erscheint, kann die doppelte Existenz des Schauspielers im epischen Theater nun für etwas anderes verwendet werden. Er muss seine spielerischen Energien nicht primär auf die Bannung der unruhigen Zuschauer richten. Er verwendet die gleiche doppelte Spielweise – er führt seine Figur vor und bleibt selbst als Spieler anwesend –, doch kann er nun diese hergestellte Theaterrealität kommentieren und lenken. Er hat dabei den Zuschauer im Blick, nicht um als Spieler die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu kontrollieren, sondern um ihnen eine doppelte Perspektive auf das Vorgeführte zu ermöglichen. Sie sehen die Vorführung, genießen diese, lachen oder ärgern sich – aber könnte nicht alles auch ganz anders sein? (Siehe Kapitel 4)
Die Performance spielt ihrem eigenen Verständnis zufolge nicht, sondern sie ist real. In der Welt des Jahrmarktes wäre die Vorführung gefährlicher Kunststücke oder die Dressur wilder Tiere am ehesten damit vergleichbar. In der Moderne hat diese Kunst eine steile Entwicklung genommen. Die Konfrontation des Zuschauers mit einer künstlich hergestellten Realität, in der jedoch die Grenze zwischen Verabredung und ungeplanten Ereignissen verschwimmt, übt einen besonderen Reiz aus. Es gibt ein Bewusstsein darüber, dass die Performance vor Zuschauern stattfindet, doch ist gerade die Ausblendung eines möglichen Kontakts ein wesentliches Element in der Autonomie des Performers. Der Performer wird seine Handlungen nicht beschleunigen, wenn er Unruhe und aufkommende Langeweile bemerkt. Er nimmt keine Rücksicht auf die Erwartungen der Zuschauer und hat nicht die Absicht, ihre Aufmerksamkeit durch ein Spektakel zu bannen. Auch der Performer agiert auf der Plattform der Aufmerksamkeit, die in der Folge der bürgerlichen Bildung entstanden ist: Der Zuschauer stellt sich und seine Bedürfnisse während des Kunstgenusses zurück. Doch nutzt er diese Errungenschaft gebildeter Aufmerksamkeit entgegengesetzt zum epischen Spieler. Es geht ihm in der Performance gerade um die Reaktion der Langeweile, der Genervtheit, der Unruhe und des Verlusts der anerzogenen Hemmungen. Er will den Betrachter performativ so verwickeln, dass dieser mit sich selbst einen Dialog über das gerade Erlebte beginnt. (Siehe Kapitel 5)
Schließlich bestimmt das Laienspiel seit der Erfindung des Theaters die Möglichkeiten des Schauspiels. Zu allen Zeiten haben die Menschen zu ihrer eigenen Unterhaltung Theater gespielt. Sie erfüllten damit manchmal rituelle Aufgaben, wie in der Antike oder noch heute bei den Oberammergauer Passionsspielen, in denen ein ganzes Dorf alle zehn Jahre die Passion Christi aufführt. Hiermit erfüllt die Dorfgemeinschaft ein Gelübde, das ihre Vorfahren zur Zeit der großen Pest abgelegt haben. In der jüngsten Entwicklung des Fernsehens hat sich eine neue Spielform des Laienspiels entwickelt. In dieser neuen, rabiaten Form des Laienspiels wird das alltagstheatralische Verhalten von Menschen durch ein Casting selektiert. Ist jemand ausgewählt, so soll er seiner Erscheinung entsprechend in einer fiktionalen Geschichte genau diesen Typus von Mensch darstellen. Das Type-Casting entscheidet über den Rahmen, in denen der Mensch seine Verhaltensweisen aus dem Alltag innerhalb des fiktionalen Rahmens wiederholen darf. Hierdurch entsteht ein neuer, bedenklicher Authentizitätseffekt. Da der Laie über keine handwerklichen Fähigkeiten verfügt und somit in seiner individuellen Eigenart schutzlos vor dem Auge der Kamera agiert, erscheint sein Verhalten eben nicht als Schauspiel, sondern als echt. (3) Die für das Laienspiel so wesentliche, da erkennbare Differenz zwischen den privaten Grenzen der Darstellung und den Anforderungen der Rolle verschwindet. Die Begrenztheit des Darstellungsvermögens wird der Figur zugerechnet. Diese ist so, dass sie sich nicht besser darstellen kann. Ob es sich hierbei noch um Schauspiel handelt oder lediglich um ein für das Gefilmtwerden produziertes menschliches Verhalten, ist sehr fraglich. Zumindest bestimmt auch diese Art des gefilmten Alltagsverhaltens das Bild des Schauspielers in unserer Gegenwart und führt bei jungen Menschen häufig zu einer verzerrten Vorstellung davon, was den Beruf des Schauspielers ausmacht.
II.
Betrachtet man den Beruf des Schauspielers als eine Kunst, die man erlernen möchte, so stellen sich eine Menge Fragen. Die Lehrbücher mit dem „sicheren Weg zum Erfolg“ sind ebenso zahlreich wie die immer wieder nachwachsenden jungen Menschen, die von dem Wunsch erfüllt sind, Schauspieler oder Schauspielerin zu werden. Die erste Wahrheit bei all diesen Büchern ist, dass Schauspielen ein Beruf ist, den man nicht aus Büchern lernen kann.
Die Arbeit des Schauspielers ist die Mimesis von Menschen. Der Schauspieler arbeitet daran, eine geschriebene, erdachte oder beobachtete Rolle zu einer lebendigen Figur auf der Bühne werden zu lassen. Diese Arbeit der Mimesis heißt in ihrer ursprünglichen griechischen Bedeutung „tanzen lernen“. Tanzen lernt man bekanntlich, indem man mit jemandem tanzt, der es besser kann, oder indem man es einfach tut.
Die zweite Wahrheit zum Beruf des Schauspielers ist jedoch, dass die Art der Tänze, die Art des Spielens, die Art der Darstellungen, die ein Schauspieler in seiner Gegenwart erleben und erschaffen kann, dem Zeitgeist und den Moden unterworfen ist. Es gibt keine ursprüngliche Form des Schauspielens, auf die sich alle Spielweisen zurückführen ließen. (4) Die anthropologischen Konstanten wie das Spielvermögen, die Lust an der Nachahmung und die Freude am Betrachten dieser Nachahmungen sind jenseits ihrer historischen Form nicht erlebbar und beschreibbar. Ein Kind spielt nicht irgendetwas, sondern es spielt immer konkret. Es backt mit Förmchen Sandkuchen, die es verkaufen will, es spielt Verstecken oder im Rollenspiel Vater, Mutter, Kind. Die Art und Weise, wie es diese Spiele spielt, ist aus seiner Beobachtung der Welt erfahren, und durch diese spielerische Wiederholung der Welt lernt es, sich darin zu bewegen. (Siehe Kapitel 1 und 2)
Die Arbeit des Schauspielers, im mimetischen Spiel eine Rolle zu einer Figur zu machen, ist in den Epochen des Theaters immer wieder neu und anders verstanden worden. Das Verhältnis von Seele und Körper verändert sich. Die Gefühle haben immer wieder einen anderen Stellenwert in der Selbstbeschreibung des Menschen. Mal sind die Gefühle der in jedem Menschen lauernde Abgrund, den es zu beherrschen gilt (Antike und Barock), mal sind sie der Garant für ein ehrliches Miteinander (Aufklärung und Gegenwart). Je nachdem, wie das innere Verhältnis des Menschen als Doppelwesen von Seele und Körper gedacht wird, verändern sich seine Mittel, sich ausdrücken und selbst darstellen zu können. Die mimetische Arbeit des Schauspielers folgt diesen historischen Veränderungen und sucht nach dem „wahren“ schauspielerischen Ausdruck der jeweiligen Gegenwart. Die Fülle der Ratgeber und Schauspieltheorien ist also nicht nur der Sehnsucht nach dem schnellen Erfolg geschuldet, sondern zum Teil sind sie Reaktionen auf das sich wandelnde Verständnis des Schauspielens. Die Unterscheidung in praktische Ratgeber und die komplexen Versuche, Schauspielen als Kunst der Gegenwart denken zu wollen, ist manchmal schwer zu treffen, aber sehr ratsam, um oberflächliche Tipps von schauspieltheoretischem Handwerk unterscheiden zu können.
III.
Dieser Band der Lektionen stellt in fünf Kapiteln die wichtigsten schauspieltheoretischen Ansätze der Neuzeit vor. Hier wird ein Überblick gegeben, was seit der Erfindung des Berufs „Schauspieler“ an ästhetischen Konzepten und methodischen Unterweisungen gedacht und geschrieben wurde. Diese Geschichte des Schauspielens ist eine Orientierungshilfe. Unsere Gegenwart zeichnet sich dadurch aus, dass in ihr eine Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten gleichzeitig besteht. Die oben skizzierten vier unterschiedlichen Darstellungsweisen haben ihre jeweiligen historischen Wurzeln. Diese zu verstehen, kann helfen, um die Melange der aktuellen Spielweisen besser begreifen und erlernen zu können.
In Lektionen 4 Schauspielen Ausbildung wird versucht, ein Bild der gegenwärtigen
Schauspielausbildungen an den deutschsprachigen staatlichen Schauspielschulen zu geben. Die Schauspielausbildung wurde hierzu in fünf thematische Felder eingeteilt. Zu jedem Feld stellen Lehrer, die aktuell an Schauspielschulen unterrichten, die zu lernenden Fähigkeiten und Unterrichtsmethoden vor. Hier ist zu erkennen, dass die Methoden an den Schulen sich in allen Bereichen der historischen Möglichkeiten be dienen und jede für sich eine bestimmte Fokussierung vornimmt. Die dominierende Methode hierbei ist von Stanislawski und seinen Nachfolgern bestimmt.
Beide Bände zusammen wollen einen historischen Überblick über den wandelbaren Beruf des Schauspielers und zugleich einen Einblick in die Möglichkeiten seiner Ausbildung geben.
(1) Alfred Kerr: „Die Duse“, in: ders.: Essays Theater, Film, hg. von Hermann Haarmann und Klaus Siebenhaar, Frankfurt am Main 1991, S. 256.
(2) Historisch gesehen betritt die Schauspielerin sehr spät die Bühne. Die großen Frauenrollen der Antike und noch bei Shakespeare wurden von Männern gespielt. In diesem Buch wird nur vom „Schauspieler“ geschrieben, womit in unserer Gegenwart selbstverständlich weibliche und männliche Schauspieler gemeint sind.
(3) „Wer sich vor der Kamera so ungelenk gibt, kann nur echt sein. Der Laiendarsteller wird damit zum Hybridwesen: Er spielt jemand anderen, ohne dass sein Publikum dieses wahrnimmt. Gibt der Laie der Kamera seinen Körper preis, der oft stark übergewichtig, verlebt oder schwanger ist, muss außer der blauen Schminke, die vorhergegangene körperliche Gewalt bezeugen soll, nichts an ihm verändert werden. Der Darsteller soll sich so wenig wie möglich verstellen. Dass er meist nur über einen überschaubaren Wortschatz verfügt und selten mehrere Sätze in grammatisch korrekter Form vorbringt, ist sein kostbarstes Gut.“ Nina Pauer: „Der produzierte Prolet“, in: Die Zeit Nr. 32, 2010, S. 38.
(4) Die formale Bestimmung, dass Schauspielen das Agieren von A vor B ist, wobei ein C dargestellt wird, ist so allgemeingültig, dass sie für praktisch jedes menschliche Verhalten zutrifft.