E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Staudinger Ruhe in Frieden, bevor du stirbst
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7751-7634-7
Verlag: Hänssler
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie Gott meine Krankheit gebrauchte, um mir das wahre Leben zu zeigen
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-7751-7634-7
Verlag: Hänssler
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Rebekkah Staudinger (Jg. 1997) ist bilingual als älteste Tochter eines Pastorenehepaares aufgewachsen und lebt in München. Sie ist Psychologin, Predigerin, Sprecherin, Worshipperin und Autorin. Bereits als Kind war es ihr Herzenswunsch, dass Menschen weltweit Jesus persönlich erleben und in der Intimität mit Jesus und der Einheit mit dem Heiligen Geist leben. Als sie mit 7 Jahren an Morbus Crohn erkrankt und 2016 nach einer Stammzellentransplantation im künstlichen Koma liegt und knapp überlebt, lernt sie zum ersten Mal, was es bedeutet, als Jesus sagte: 'Der Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und zu vernichten. Ich bin gekommen, damit sie das Leben in Fülle haben.' (Johannes 10,10; Züricher). Nach einem Sabbatical mit Jesus, studiert sie Psychologie, leitet ehrenamtlich die Jugend in der Freikirche 'Quelltor' ihrer Eltern, und schreibt ihre Autobiografie 'Ruhe in Frieden, bevor du stirbst'. Ihre Sehnsucht ist es, den Himmel auf die Erde und Menschen zu Gott zu bringen. Dafür gebraucht sie ihre Begabung, mit Worten Herzen zu bewegen, den Einzelnen wahrzunehmen und dem Heiligen Geist Raum zu geben. Sie führt Menschen in Gottes Gegenwart und ist der festen Überzeugung, dass dort, wo Jesus ist, Menschen Heilung und Freiheit erleben. In ihrer Freizeit reist sie gerne, um Gottes Königreich auszudehnen, genießt guten Kaffee, gutes Essen, ein gutes Workout und die Natur - allein mit Jesus, ihrem Freund, ihrer Familie oder Freunden.
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Survival – Fight or flight
»Willkommen zurück!«
Die Worte des Arztes drangen nur undeutlich an mein Ohr.
»Wir sind froh, dich zu sehen, Rebekkah!«
Das musste eine der Krankenschwestern gewesen sein.
»Du hast uns einen ziemlichen Schrecken eingejagt«, sagte nun mein behandelnder Arzt, dessen Stimme ich wiedererkannte.
Ich verstand nicht wirklich, was sie meinten, war aber auch nicht in der Verfassung, nachzufragen. Ich war gerade erst aufgewacht, und nicht mal das war mir bewusst.
»Das Schlimmste liegt nun hinter dir«, ergänzte ein anderer Arzt.
Was meinte er nur damit? Als mein behandelnder Arzt näher an mein Bett herantrat, sah ich Erleichterung in seinem Gesicht. Wir umarmten uns. Ich weinte. Und so langsam kam die Erinnerung wieder und ich begriff, was er mit »Schrecken« gemeint hatte. »Ich wurde gekidnapped«, sagte ich ihm.
Verstohlene Blicke. Schweigen.
Ich begriff nicht, was los war, denn in meiner Erinnerung sah meine Vergangenheit so aus:
Vor der letzten Operation hatten sie mich in eine Spezialklinik nach England gebracht. Meine Mama flog als Einzige mit, aber als ich in meinem Einzelzimmer nach ihr fragte, sagten sie mir nicht, wo sie war, und wollten mich an einen neuen Ort verlegen. Ich erinnerte mich an Flughäfen, an meine Entführer, die sich als Ärzte und Krankenschwestern ausgegeben hatten. Ich erinnerte mich an eine Wohnung in Deutschland, wo ich mehrere Wochen von einer Frau gefangen gehalten wurde, die sich als meine Mum ausgab?… und an viele Kinderaugen. Die Frau hatte mich eines Morgens aus dem zweiten Stock eines leeren Wohnblocks auf die Straße zu einem Lastwagen gezerrt. Ich ahnte Schlimmes, doch ich hatte nicht mit dem gerechnet, was ich nun sah. Als der Fahrer ausstieg und die schwere Tür öffnete, blickte ich in schmutzige, tränenverschmierte Kindergesichter, die mich mit panischen Augen anstarrten. Handelte es sich etwa um illegalen Menschenhandel? Bevor ich weiter nachdenken konnte, drängte mich der Fahrer auf die Ladefläche, und ich stieg schnell ein, bevor er mich noch mal berühren konnte. Als ich mich auf den dreckigen, kalten Boden setzte, schloss er die Tür wieder, und es wurde dunkel.
Wir fuhren los. Ich wusste nicht, wohin es ging oder woher die anderen Kinder kamen. Sie tuschelten in Sprachen, die ich nicht kannte, doch eins teilten wir: die Angst, die uns auch ohne Worte ins Gesicht geschrieben stand. Je länger ich ihnen jedoch in ihre Gesichter blickte, desto mehr spürte ich, wie neue Hoffnung und Zuversicht in mir aufkamen. Ich wusste: Wir brauchten einen Ausweg. Die Autofahrt schien Stunden zu dauern. Als wir endlich anhielten, drang der Geruch von Ställen in das Innere des Wagens. Waren wir auf einem Bauernhof? Draußen hörte man bereits die Schritte und die Stimme eines anderen Mannes. Wir brauchten Hilfe und hatten nur diese eine Chance. Wie zuvor abgesprochen lenkte eine Mitgefangene die zwei Männer ab, während ich das Handy des Fahrers klaute und meine Mum endlich kontaktierte. Vergebens, wie es schien, denn sie brachten uns trotzdem in einen dunklen Keller. Die Stille war kaum auszuhalten. Doch nach Stunden hörten wir endlich Lärm: Sirenen von Rettungswagen, die Motorengeräusche von Hubschraubern und die Stimmen von Polizisten und vielen Eltern, die besorgt nach ihren Kindern riefen. Die Tür ging auf und Eltern stürmten herein. Zwischen den vielen unbekannten Gesichtern sah ich auch meine Mum. Wir waren endlich wieder vereint?…
Die Angst, die Hilflosigkeit und Panik, die ständige Suche nach Strategien, die vielen unterschiedlichen Orte und die Zeit – all das schien so real. Doch als ich meinem behandelnden Arzt davon erzählte, schien er verwirrt und sah meine Mum fragend an.
Meine Mum. Sie saß rechts neben mir auf einem Stuhl, doch als ich sie anblickte, schien dieser Stuhl zu schweben. Ich lag in einem Bett, hatte aber das Gefühl, darin zu stehen. Die automatische Tür, durch die die Ärztinnen und Ärzte mein Zimmer betraten, wirkte auf mich wie eine Schranke, über die alle, wie Pferde über ein Hindernis, in mein Zimmer sprangen. Die Uhr war an der Wand gegenüber von meinem Bett befestigt, doch ich hätte schwören können, dass sie auf dem Fußboden lag. Ich war verwirrt und fühlte mich verloren. Ich fühlte mich so, wie du dich vielleicht gerade beim Lesen meiner Erinnerung gefühlt hast: hineingeworfen in eine unvorhersehbare Situation. Verwirrt darüber, was passiert ist und was geschehen wird.
An diesem Tag im Februar 2016 betraten viele Ärztinnen und Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern mein Zimmer. Manche Gesichter kannte ich, andere nicht. Sie wirkten alle erleichtert, einige weinten, andere lachten mir zu. Sie schienen mich zu kennen – oder zumindest meinen Namen. Immerhin wussten sie im Gegensatz zu mir, was in den letzten drei Wochen meines Lebens geschehen war.
Doch eins hatten wir gemeinsam: Niemand von uns kannte die Zukunft, die nächsten Tage, Wochen, Monate oder Jahre. Niemand von uns wusste, dass es Tage brauchen würde, bis ich realisieren würde, von welchem »Schreck« mein behandelnder Arzt gesprochen hatte. Oder dass meine Mum in den nächsten Tagen immer wieder neu erzählen würde, was sie und ich die letzten drei Wochen durchlebt hatten. Denn in Wahrheit lag ich auf der Intensivstation der Kinderklinik und war gerade aus einem dreiwöchigen künstlichen Koma aufgewacht. Nur hatte ich davon zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung.
Is this real life? – Wahrnehmung und Wirklichkeit
Viele verschiedene Medikamente liefen durch meine Blutbahnen. Deswegen vergaß ich immer wieder, was meine Mum mir gerade zum wiederholten Male gesagt hatte: »Du bist nach zwei Notoperationen fast gestorben und wurdest nach der zweiten Operation in ein künstliches Koma versetzt. Du hast ein multiples Organversagen erlitten und nach vielen unsicheren Nächten, Gott sei Dank, überlebt.«
Das war die Kurzversion, denn die Details dazwischen konnte ich gar nicht begreifen. Und während ich frustriert, ängstlich und panisch war, beruhigte mich meine Mum immer wieder mit den Worten: »Ich erkläre dir alles in Ruhe, wenn du dich erholt hast.« Denn obwohl ich wach war, war ich noch nicht bei Sinnen.
Den Ärztinnen und Ärzten zufolge war es normal, dass ich vieles anders wahrnahm, denn mein gesundheitlicher Zustand war mit dem einer drogenabhängigen Person vergleichbar. Und so war es auch normal, dass ich, obwohl ich bereits im Bett lag, den Wunsch äußerte, dass ich mich endlich hinlegen wolle.
Der Orientierungssinn gehört zu den Fähigkeiten, die durch ein künstliches Koma oftmals als Erstes verloren gehen und auch am längsten brauchen, bis sie wieder komplett zurückkehren. Doch das war nicht die einzige Fähigkeit, die in Mitleidenschaft gezogen worden war. Ich konnte anfangs zum Beispiel auch nicht richtig reden. Dafür hatte ich allerdings eine »logische Erklärung« parat: »Meine Deutschlehrerin aus der Grundschule war gerade kurz hier und hat mir gesagt, ich soll einfach mehr Englisch reden«, erklärte ich meinen Ärztinnen und Ärzten lispelnd bei der Visite.
Sie wirkten nicht überrascht, denn auch Halluzinationen wie diese waren normal. Allerdings wunderte ich mich über ihre fehlende Reaktion und dachte: Vielleicht wissen sie ja, dass ich als Tochter einer Engländerin bilingual aufgewachsen bin, und sind deswegen nicht überrascht.
Doch insgeheim machte diese »logische Erklärung« nur allen wieder klar, dass ich noch nicht ganz bei Sinnen war – auch wenn ich tatsächlich weniger lispelte und besser schlucken konnte, wenn ich Englisch statt Deutsch sprach.
Während des Medikamentenentzugs kamen noch weitere Halluzinationen hinzu. Das machte es für mich schwierig, die Ereignisse, die ich während des künstlichen Komas und danach erlebte, zeitlich einzuordnen und voneinander zu trennen. Doch es gab interessante Zusammenhänge, die mir eine Einordnung ermöglichten. Während meine Mum jeden Tag von 7 Uhr morgens bis spätabends bei mir im Krankenhaus war, kamen mein Papa und meine Schwester oft erst abends nach der Arbeit und der Schule. Eines Abends, als ich noch im Koma lag, kamen sie ins Krankenhaus und erzählten meiner Mum, dass sie gerade fast einen Autounfall gehabt hätten. Auch wenn ich mich nicht daran erinnerte, erkannte ich meinen Paps nach dem künstlichen Koma eine ganze Weile nicht, denn in meiner Welt war er gestorben. Erst als er sagte: »Ich bin dein Papsi«, wurde mir klar, dass das nur mein Paps sein konnte.
Meine Welt. Das ist die Welt, mit deren Hilfe ich beschreibe, was ich in den drei Wochen während des künstlichen Komas erlebt habe. Diese Zeit scheint rückblickend wie eine Serie von Albträumen zu sein, in denen meine schlimmsten Ängste wahr wurden.
Dazu gehörte nicht nur der Verlust meines Vaters, sondern auch, dass ich in meiner Welt miterlebte, wie meine Schwester Jõ bei einem Brandunfall fast ums Leben kam. In meiner Welt wurde sie nach diesem Vorfall gerade aus dem Krankenhaus entlassen und ich freute mich, sie zu sehen. Ich tröstete sie über ihre kleine Narbe im Gesicht hinweg und half ihr dabei, sie mit Make-up abzudecken, sodass sie ausgehen konnte. Doch als sie sich weiterhin weigerte, das Haus zu verlassen, und untröstlich war, sagte ich zynisch zu ihr: »Stimmt. Du hast überlebt, aber siehst echt scheiße aus.« Leider waren die Worte »Du siehst echt scheiße aus« nicht nur in meiner, sondern auch in der realen Welt Worte, die ich nach dem Koma zu ihr sagte. Völlig aus dem Kontext gerissen. Was das Ganze nur noch schlimmer machte, war die Tatsache, dass es die ersten Worte waren, die ich nach dem Aufwachen zu ihr sagte, während sie, emotional mitgenommen, drei Wochen auf diesen Moment gewartet...