Buch, Deutsch, 252 Seiten, Format (B × H): 136 mm x 200 mm, Gewicht: 335 g
Deutschlands systemisches Erbe
Buch, Deutsch, 252 Seiten, Format (B × H): 136 mm x 200 mm, Gewicht: 335 g
ISBN: 978-3-947965-09-0
Verlag: Okapi-Verlag ein Imprint der Leetspeak Media GmbH
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Vorwort
Umdeutung der sozialen Realität
Postsystemische Konfrontation
Ungeliebte Systemtheorie
Synthetische Demokratie
Der Systembegriff im innerdeutschen Gebrauch
Natürliche Komparatisten
Volk und Elite
Das Idiotenproblem
Systemdynamik
Die Systemstabilisierer
Beobachter 2. Ordnung
Das Weimar-Analogon
Ökologische Kommunikation
Neue Weltordnung
De-Globalisierung
Naherholungsgebiete
Rückkehr der Reichen
Analoge Utopie
Vergessen und Erinnern
Neue Fortschrittserzählung
Die Erben Ostdeutschlands
Vorwort
Mit der Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten entstand vor nunmehr 30 Jahren ein historisch einzigartiges Konstrukt, in dem die Konfrontation des Kalten Krieges offensichtlich fortlebt. Die Prägungen der DDR-Diktatur scheinen immer noch derart gesellschaftsbildend zu sein, dass Ostdeutschland auch in der neuen Bundesrepublik als politisches und kulturelles Gegenüber betrachtet wird. Das ausgemacht Fremde in dieser Teilgesellschaft erfährt eine deutliche Ablehnung, ist aber im Umgang mit den Ostdeutschen nicht zu separieren. So gibt es weder im persönlichen Gespräch noch medial eine Kommunikation ohne ein belastendes systemisches Attribut. Dabei handelt es sich jedoch nicht um ein postsozialistisches Syndrom. Weder befragen die Westdeutschen einen Russen, Tschechen oder Ungarn nach dessen Systemeinbindung, noch praktizieren dies die Ostdeutschen bei US-Amerikanern, Franzosen oder Schweden. Der Grund für diese Verhaltensanomalie ist das Missverständnis der Wiedervereinigung. Man feiert zwar eine nationale Vereinigung und das Vorhandensein einer gemeinsamen Identität, befindet sich jedoch in einem starken Dominanzverhältnis mit enormen Disparitäten zwischen den Teilgesellschaften. Die Nichtanerkennung dieses schizophrenen Zustandes in der gesellschaftlichen Kommunikation produziert unablässig Irritationen im kollektiven Bewusstsein. Vor allem werden die neuen Bundesländer in politischen Prozessen der Bundesrepublik als systemische Störung wahrgenommen. Oft erweisen sich jedoch die ostdeutschen Problemlagen als eine Projektion gesamtdeutscher Krisensymptome. Welche komplexe Funktionalität den Ostdeutschen und Ostdeutschland tatsächlich zugewiesen werden kann, ist so weitgehend unklar geblieben.
Dieses Buch versucht, die ostdeutsche Gesellschaft in ihrer Eigenständigkeit als Teilsystem der Bundesrepublik zu verstehen, und will die Binnenbeziehungen der großen sozialen Kollektive sichtbar machen. Dazu ist hauptsächlich zu klären, inwieweit der Osten von einer postsozialistischen Entwicklung bestimmt wird oder sich wie ein reaktives Gebilde westdeutscher Politik verhält. Zur Reduzierung der Komplexität dieser Beziehungen bietet sich das Instrumentarium der Systemtheorie an, die in der DDR wie in der Bundesrepublik eine interdisziplinäre wie ideengeschichtliche Tradition hat bzw. hatte. Den wichtigsten Zugang zu einer rationalisierten Beziehungsrealität schafft die Loslösung der sozialen Kommunikation aus ihren ideologischen Kontexten.
Die Bundesrepublik hat die Integration Ostdeutschlands im wesentlichen als ein zu bewältigendes ökonomisches und soziales Projekt betrachtet. Wobei man für die aufzunehmende Gesellschaft lediglich einen passiven Part mit weitgehender Unterordnung vorsah. Dem lag die Annahme zugrunde, dass mit dem Scheitern der DDR das soziale und kulturelle Gedächtnis ihrer Bürger entwertet sein sollte. Dass die Ostdeutschen in einer solchen Disposition eine neue Art der Fremdbestimmung erkannten und diese nicht so ohne weiteres hinnehmen würden, lag außerhalb jeglichen politischen Kalküls. Deshalb wurde 1994 die dazu passende Metapher des Alterspräsidenten des 13. Deutschen Bundestages, Stefan Heym, nicht ernst genommen, ja belächelt: „Die Schlange verschluckt den Igel, die Schlange wird Verdauungsschwierigkeiten haben.“
Dabei ging es dem Schriftsteller, der auch die US-amerikanische Staatsbürgerschaft besaß, nicht darum, in den Ostdeutschen ein Gefahrenmoment für den Vereinigungsprozess zu sehen. Er verfügte aber über genug Fantasie, um sich vorstellen zu können, dass der Osten das Potenzial hatte, den Westen in seiner politischen Statik nachhaltig zu verändern. Heute kann man sagen, dass die alte Bundesrepublik mit der Wiedervereinigung unbewusst die Destabilisierung ihrer liberalen Demokratie riskiert hat. Denn der Osten mit seinen speziellen Problemlagen wirkte als Katalysator für die krisenhaften Prozesse, denen die westlichen Gesellschaften ohnehin schon ausgesetzt waren.
Aber auch das bloße Verschwinden der DDR und der Zusammenbruch des Ostblocks beeinflussten grundsätzliche gesellschaftliche Entwicklungen im Westen. Das fehlende systemische Gegenüber und die historische Bestätigung der eigenen Ordnung bedeutete, neoliberale Entwicklungen weniger kritisch zu hinterfragen. Die gesellschaftlichen Diskurse wurden zunehmend selbstreferenziell geführt. Der Mangel an Konkurrenz verminderte die Resilienz und die Fähigkeit, äußere Störungen im System erfolgreich ausregulieren zu können. Der „Sieg“ über den Kommunismus führte zu einer Krise des Selbstverständnisses des Westens. Die Hoffnung, eine freie liberale Ordnung weltweit etablieren zu können, ist am strategischen Unvermögen gescheitert, neue politische Entwicklungen zu erkennen. Die Vision von einer globalen freien Welt konnte jedoch nicht durch eine neue Fortschrittserzählung ersetzt werden.
Die Ostdeutschen sind zwar formal in das neue System integriert, bleiben jedoch durch ihre mangelnde funktionale Repräsentanz im System skeptische Beobachter. Sie beurteilen die Demokratie nicht nach ihren unscharf definierten Eigenwerten, sondern nach deren Leistungsfähigkeit in den gesellschaftlichen Steuerungsprozessen, oder mit dem Credo von Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl formuliert: „Entscheidend ist, was hinten rauskommt.“ Die Indoktrinationserfahrung in der DDR hat gegenüber verbrämt ideologischen Politikangeboten Skepsis wachsen lassen. Der ostdeutschen Bevölkerung ist durch den Systemwechsel der historische Vorteil einer bi-optionalen Erfahrung zugewachsen. Dazu kommt eine Transformationserfahrung, die für das Verhalten in einer kommenden gesellschaftlichen Transformation von Bedeutung ist. Das durch die DDR-Zeit geprägte kollektive Gedächtnis hält ungefragt die lebensweltlichen Erinnerungen einer alternativen Gesellschaftsorganisation bereit. Was die Ostdeutschen spektakulär in die Rolle der Störer bringt, ist ihr in der Diktatur erprobtes kommunikatives Instrumentarium, welches sie im Zustand einer als verordnet empfundenen Ohnmacht einsetzen. In den neuen Bundesländern bilden sich disparate Identitäten aus, die neben den Generationen der DDR-Sozialisation auch die Nachwendegenerationen betreffen.
Die Strategien, politische Entwicklungen in den neuen Bundesländern zu beeinflussen, sind nicht nur gescheitert, sie haben sogar eine gegenteilige Wirkung hervorgerufen. Die beiden, im systemischen Sinn fortbestehenden Teilgesellschaften verbindet ein kommunikatives Bedingungsgefüge, das eine eigenständige Entwicklung des dominanten Westens nicht mehr möglich macht. In der Bundesrepublik beginnen durch den Klimawandel, eine einsetzende De-Globalisierung, den demografischen Wandel und nicht zuletzt durch die Corona-Krise Transformationsprozesse, die durchaus eine ähnliche Symptomatik aufweisen, wie sie in der letzten Dekade der DDR zu beobachten waren. Ein Befund, der Ostdeutsche zu der Beobachtung verführt, die Bundesrepublik entwickele sich zur DDR 2.0.
Im Folgenden sollen systemische Zusammenhänge aufgezeigt werden, die durch die ideologische und Kampfesrhetorik weitgehend verstellt sind. Dies ist keine Momentaufnahme im 30. Jahr der Wiedervereinigung. Im Zentrum der Betrachtung stehen die langen Entwicklungslinien, die deutsche Geschichte mit den Möglichkeitsfeldern der Zukunft verbinden.