Roman
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-552-05812-5
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Erstes Kapitel
HANDGRIFFE INS WEIHWASSER oder ALS DAS LESEN NOCH GEHOLFEN HAT Der Tag, an dem der Chefredakteur sich selbstmorden ging, war ein heiterer. Linde Winde strichen durch die Stadt und übers Land. Es waren Habichte und Bussarde in der Luft. Und auch Segelflugzeuge, die von einer mittelgebirgigen Hochfläche aus, weiter draußen überm Land vor der Stadt gelegen, sich in den Himmel hinauf hatten ziehen lassen und nun die von den städtischen Dächern in der frühen Junihitze abstrahlende Thermik für ihr Kreisen, ihr Kurven und Gleiten nutzten. An jeder Ecke war also ein hohes, von Tragflächen wegsirrendes Pfeifen und ein über Vogelschnäbel kollernd gestoßenes Girren zu hören. Und aus der Aktenablage des örtlichen Amtsgerichts drangen Liebeslaute, im Basso profundo ausgekeucht vom Amtsgerichtsdirektor, verziert mit den Koloraturen, ausgejuchzt von einer amts- und stadtbekannten Lady, Gattin eines nichts sehenden, nichts hörenden, nichts sagenden brav-äffischen Biedermanns, die es außerehelich gerne mit höher gestellten Persönlichkeiten trieb, erst dem Amtsgerichtsdirektor, später einem Chefarzt, dem sie anlässlich eines Spitalaufenthalts so lange ihre, wie sie es zu nennen pflegte, »wunde Stelle« zeigte, bis dieser gar nicht mehr anders konnte, als seinen Balsam dranzugeben. Jetzt aber, in der Aktenablage des Amtsgerichts, jubelte sie derart duettmäßig, dass die schräg gegenüber im Untersuchungsgefängnis einsitzenden Delinquenten es hören konnten – und die Nachricht davon trotz der Knastmauern in die Stadt hinausdrang. Wo sie auf höchst interessierte Ohren traf, denn derartige Affären wurden in unserer kleinen Stadt gerne und ausführlich bewispert. Alles zusammen ergab die wohl fröhlichste, freilich auch unpassendste Trauermusik. Abgesehen davon, dass noch keine Hintergrundmusik aus den paar Kaufhäusern, Aufzügen und Restaurants unserer kleinen Stadt zu hören war, und die akustischen Horizonte des Daseins vom Pfiff der Dampflokomotiven im engen Tal gezogen wurde, höchstens hie und da überwölbt vom seltenen Brummen eines Flugzeugmotors. Es war eine stillere Zeit. Man musste sich seinen Lärm damals selber machen. Es sollte sich später herausstellen, dass der Tag, als der Chefredakteur sich selbstmorden ging, ein heiterer und an sich harmloser Tag, wie ein Fädchen war. Wenn man an ihm zog, aber darauf kam man erst später, lag ein durchwirktes Gewebe an Tagen und Jahren vor einem. Ein Stoff, in den sich viel, wenn nicht alles wickeln ließ. Dennoch löste der Tod des gar noch nicht Alten ein gewaltiges »Psssst!« in den Hirnen und Herzen der Leser aus, und das waren ausnahmslos alle Bürger unserer kleinen Stadt. Eine Art Bewegung, die einem Kehren glich: unters Gewebe des Stoffs. Man bekam es mit einer Art seltsamer Angst zu tun. Der junge Mann spürte diese Angst auf seiner Stirn. Dorthin hatte die Tante, als er morgens aus dem Haus ging, mit dem Zeige- und Mittelfinger ihrer rheumaverkrüppelten Hand rührend mühevoll ein Kreuzeszeichen gemacht, nachdem sie ihre Finger in ein kleines Weihwasserbecken aus getriebenem Silber getunkt hatte, das neben ihrer Wohnzimmertür an der Wand hing, überwölbt von einer Gottesmutter samt Jesusknaben auf dem Arm, die, aus einem einzigen großen Silberblech kunstvoll gehämmert, als mild übers Familienleben wachende Schutzfigur alle Ein- und Ausgänge zu segnen hatte. Schon die erst vor gar nicht langer Zeit verstorbene Großmutter hatte dem jungen Mann, als er noch ein Kind war, aber von allen immer nur »Junger Mann!« gerufen wurde, als wolle man ihn vor allem Kindischen warnen oder ihn auf ein Leben mahnend einstimmen, das »kein Schleckhafen« (was meinen sollte: kein Zuckerschlecken) sein werde – schon die Großmutter also, die ganz besonders vor allem Zuckerschleckerischen zu warnen stets aufgelegt war, hatte dem jungen Mann allmorgendlich das weihwasserbenetzte Kreuzeszeichen auf die Stirn gefingert, auf die ein paar widerspenstige haarwirbelige Locken herunterfielen. Das Kreuzeszeichen war sozusagen als Segens- und Warnprophylaxe für den ganzen kommenden Tag gedacht. Auf dass der Herr den jungen Mann besprenge und ihn reinwasche, damit er »weißer als Schnee« werde. Worauf der junge Mann allerdings keinerlei Lust verspürte. Zumal der Schnee damals, sofern er als städtischer Schnee in Betracht kam, eher eine graue Färbung annahm und »weißer als Schnee« keine sonderliche Verlockung darstellte. Und als die Tante »Geschieht ihm recht!« und »Wer geht auch schon zur Zeitung!« murmelte und jede weitere Nachfrage nach dem Warum und Woher des Todes des Chefredakteurs in einer kurzen, herzlichen, wiewohl nervösen Abschiedsumarmung erstickte, da war es, als vollziehe sie nur, was ihr wiederum ihre Mutter über den Tod hinaus aufgetragen habe: den jungen Mann vor der Zeitung zu bewahren. Notfalls mit Weihwasser. Schon das Kind, das der junge Mann einmal war, spürte das Entsetzen, die geradezu panische Angst der Großmutter vor allem, was die Leute draußen, das hieß außerhalb der von der Gottesmutter überm Weihwasserkesselchen bewachten Wohnstube, über das denken und reden könnten, was nur sie und ihre Familie etwas anging. Und das war etliches. Zum Beispiel wenn ihr Mann nächtens lauthals in den Straßen seine schöne Tenorstimme erhebend von einem Wirtshausbesuch heimkehrte. Oder wenn er seine dürftige Rente mit dem Schreiben kleiner Artikel in der örtlichen Zeitung aufbesserte oder alljährlich berüchtigte Glossen, ebenfalls in der Lokalzeitung, zum Jahresschluss verfasste, in denen er die Silvesterknallerei geißelte und stereotyp vorschlug, das verpulverte Geld »lieber den Armen zu geben«. Nicht nur bei solchen Anlässen drohte das von einer gewaltigen melierten Haarfülle überwölbte stark ovale Gesicht der Großmutter mit der hohen Stirn, den klaren, leicht wässrigen, aber immer wie in einen Güte-Abgrund hineinleuchtenden Augen, dem schmalen Mund und dem spitzen Kinn schier in Scham und Schande zu zerfließen. Oft kamen ihr dabei auch die Tränen. Sie las die Zeitung. Aber eigentlich nur, um sich zu vergewissern, dass diese sie nichts anging. Ihre Erregungen wie ihre Informationen entnahm sie dem Radio, dem Medium, das unendlich weit weg und zugleich so nahe und greifbar war, dass man es ausschalten konnte. Als in Ostberlin ein Arbeiteraufstand von russischen Panzern zusammengeschossen wurde, als die gleichen Panzer wenige Jahre später in Prag, Warschau und vor allem Budapest Rebellionen, die nach Freiheit und Gerechtigkeit verlangten, niederwalzten, hörte das Kind, das der junge Mann einmal war, in jenen ganz aufregenden und aufwühlenden fünfziger Jahren die Großmutter am Radio laut schreien vor Pein und Entsetzen. Und als sie dann, zwar unter großen Erstickungsschmerzen, starb, aber völlig mit sich, ihrem Glauben, ihrem Gott im Reinen und naturgemäß versehen mit den dazu notwendigen Sakramenten der heiligen katholischen Kirche, war ihr einziger großer Kummer, dass sie die Stationen ihres ganzen Lebens wie in einer Prozession draußen auf der Straße an sich vorüberziehen sah. Und nicht im Wohnzimmer. Wie ihr überhaupt die Straße, »die Gass’«, wie sie immer sagte, das Peinigendste, das Fremdeste war. Sie blieb, wie ihre gleichaltrigen Nachbarinnen, am liebsten und besten in ihren vier, von der Mutter Gottes beschützten Wänden. Dort war Sicherheit. Hier waren die Ordnungsmächte am Werk, auf die Verlass war. Und die größte unter ihnen hieß: Unverrückbarkeit. Jede noch so kleine Verrückung wurde zum Unglücks- und Ernstfall. Wenn irgendetwas nicht an seinem Platz war oder blieb, schien der ganze Kosmos gefährdet, der auf einem Gefühl gründete, für die Ewigkeit geschaffen zu sein. Jedes Haus schien da auf seinem Posten gegenüber den anderen Häusern eine Ewigkeitsgarantie zu sein, einsam in den Himmel ragend, auch wenn sie eng beieinanderstanden, wobei die jeweiligen Bewohner nur sich selbst im Baublick hatten. So wurde eigentlich jede Nachbarschaft zu einem feindlichen Gebiet auswärtiger Rücksichtnahmen oder Rücksichtslosigkeiten, je nachdem. Der diesbezügliche Schlachtruf lautete denn auch: »Was sollen bloß die Leute denken!«, was zu einer unaufhörlichen Selbstbekämpfung in Form einer Selbstbeschränkung führte, einer gewollten Einschränkung der freien Entfaltung, durchaus auch unter Zähneknirschen, wenn der Nachbar »Mein ist der Zaun!« behauptete und man »um des lieben Friedens willen« keinen Krach »da draußen« wollte, solange man drinnen unbeschadet davonkam. Was nicht hinderte, dass das jeweilige nachbarliche Drinnenbleiben unter ständiger Beobachtung und Bewisperung stand. So wurde konstatiert, dass sich die eine Nachbarin den einzigen Luxus eines Heraustretens dadurch leistete, dass sie in ihrem Gartenhaus Hühner hielt, die sie zweimal am Tag, morgens, wenn sie die Gefiederten aus dem Häuschen, und abends, wenn sie das Geflügel wieder hineintrieb, mit einem »Allez, allez, vous, vous!« in hoher Stimmlage vor sich her scheuchte. Nicht, dass sie dabei Französisch hätte sprechen wollen. Sie passte sich einfach dem Sprachgebrauch unserer kleinen Stadt an, die noch in Zeiten des sogenannten Siebzigerkrieges (1870/71) viele Gefangene aus der Armee Kaiser Napoleons III. beherbergt hatte, die hier lebten, litten und starben und ihre Sprache im täglichen Umgang mit der Bevölkerung, der sie zu Diensten zu sein hatten, dem örtlichen Dialekt gleichsam injizierten. So setzten sie aber nur die Tradition unfreiwillig einwandernder und sich...