E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-99200-155-2
Verlag: Braumüller Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Unentschuldigt
Der letzte Tag vor einem Umzug. Außerhalb der Unterrichtszeit, an einem späten Nachmittag. Ich will nicht mit hinein ins Schulhaus, alles war schon das letzte Mal, dann gehe ich nicht wieder zurück, doch Mutter sagt: Du wirst sehen, es ist niemand da. Und es geht ganz schnell. Ich mache mich klein, verstecke mich hinter ihr, als sie die Flügeltüre des Gebäudes aufstößt. Doch auf dem gewundenen Geländer der freistehenden Treppe, auf den marmornen glänzenden Stufen, die heute kein Ende zu nehmen scheinen, sind wir von allen Seiten sichtbar. Ich fühle mich ausgeliefert und gehe schnell, zähle die Fugen zwischen den Absätzen, doch bevor wir oben angelangt sind, höre ich plötzlich meinen Namen rufen, aufgelöst durch den Hall des großen Raumes, aber dennoch deutlich erkennbar und sehr laut. Eine meiner ehemaligen Mitschülerinnen steht mit ihrer Mutter neben der Treppe. Das Mädchen ruft erstaunt noch einmal meinen Namen und winkt jetzt auch, doch ich drehe den Kopf weg und tue so, als ob ich nichts gehört hätte. Ich möchte unsichtbar sein, wie Perseus eine Tarnkappe aufsetzen und fliehen. Ich drücke die Hand meiner Mutter fest und ziehe sie die letzte Stufe hoch, wo wir hinter der Wand verschwinden können. Sie versteht und strebt schweigend mit mir auf die Bürotüre zu, wobei sie darauf achtet, dass sie die Absätze ihrer Schuhe nicht ganz aufsetzt. Ich lasse mich in einen Stuhl gleiten und senke den Kopf über ein Buch, und tatsächlich spricht mich keine der Sekretärinnen an, während Mutter die allerletzten Formalitäten erledigt. Ich wage erst aufzuatmen, als wir die ans Schulareal angrenzenden Straßen verlassen haben. Ich weiß, ich werde nie mehr hierher zurückkommen. Noch nicht oder nicht mehr. Ich habe mich daran gewöhnt, mit einem Fuß da zu sein und mit dem anderen bereits wieder weg. So tut es nicht zu sehr weh, wenn wir gehen. Meine Anwesenheit hat immer etwas Provisorisches, stets Widerrufbares. Wieder eine neue Schule, neue Lehrer, neue Schüler. Es gibt viele Gründe umzuziehen: Zuerst war es der Wegzug aus dem Haus, in dem Vater geblieben ist, die Ruhe abseits der Stadt, die Distanz zu allem, eine neue Arbeitsstelle für Mutter, dann die zu große Ruhe auf dem Land, die zu weit voneinander entfernten Schulhäuser von Simon, Martin und mir. Eine preisgünstige Wohnung. Eine andere Stadt. Und schließlich, Jahre später, ein anderer Mann. Ich bin die Neue, die andere. Auf die niemand gewartet hat. Wegen der eine neue Bank ins Klassenzimmer gestellt werden muss. Die im Sportunterricht die gewohnte Aufteilung der Klasse in zwei gleich starke Mannschaften verunmöglicht. Die nirgends richtig dazugehört, die eingeschweißten Mädchengrüppchen stört, aber bei den Jungs nur jeweils kurze Zeit gelitten ist, damit sie nicht als „Mäitlischmöcker“ verlacht werden. Einer macht mich mit einer Bemerkung so wütend, dass ich ihn angreife. Das hat er nicht erwartet, denn Mädchen greifen doch keine Jungs an. Nach einigen Sekunden, in denen er mich noch perplex ansieht, beginnt er zu kämpfen. Wir sind fast gleich stark, ich mit meinem rasenden Zorn. Wie zwei Katzen umkrallen wir uns auf dem harten Asphaltboden, aus dem die Wurzeln des mächtigen Baumes auf dem Schulhof emporstoßen. Um uns herum eine brüllende Meute. Ich wende die Verteidigungsstrategien an, die ich in den Auseinandersetzungen mit meinen Brüdern gelernt habe. Ich bin ein Kung-Fu-Kämpfer, ich bin Bruce Lee, ich bin ein begabter Martial-Arts-Novize, ich weiche den harten Fäusten und Fußtritten des Gegners aus, versuche meine Schläge gezielt zu setzen, dränge ihn auf den Baum zu, ich werde ihn besiegen – doch da packt er mich am Haar, zerrt mich wieder zu Boden, will sich auf meine Arme setzen, aber ich strample, schreie, kratze, er kann mich nicht festhalten. Als unser wilder Ringkampf verbissenes Gerangel geworden ist, taucht plötzlich ein Lehrer auf, mehr erschrocken über unser Außer-Rand-und-Band-Sein als in autoritärer Mission. Ich bin erleichtert, dass er uns trennt, denn meine Kräfte haben nachgelassen, lange hätte ich nicht mehr standhalten können. Scham durchläuft mich, als uns der Lehrer auseinanderzerrt und irgendetwas sagt, was Lehrer in solchen Situationen sagen, meine Hosen sind an den Knien aufgescheuert und darunter brennt das Blut, doch auch der Junge sieht zerzaust aus und die Schüler starren uns an, aber das macht nichts, denke ich, ich werde ja ganz bald wieder fort sein. Diesmal aber kommen so schnell keine Anzeichen, dass wir demnächst wieder abreisen werden. Ich kann nicht immer hoffen, dass alles schnell vorübergehen wird, dass es bereits wieder das letzte Mal ist. Und das ist, merke ich jetzt, fast noch schwieriger. Vorher hatte ich es nicht nötig, eine Freundin zu finden. Was, wenn auch nach einem halben Jahr, einem Jahr hier niemand meine Freundin sein will? Die ersten Stunden Musikunterricht. Die Lehrerin zieht fünf Garnfäden durch das Zimmer. Wir dürfen zuerst nur zwischen den Linien stehen, später sollen wir auf den Linien stehen, es ist wie das Gummitwisthüpfen im Schulhof, wo wir immer wieder dieselben Abläufe durchspielen bis zum ersten Fehlsprung, wenn eine von uns den weißen, gerippten Hosengummi unerlaubterweise berührt oder er sich um ihre Knöchel wickelt. Der elastische Faden ist so leicht, man spürt ihn kaum, er schwingt und flimmert, wir tanzen mit Geistern durch die Luft. An einem Morgen irre ich mich im Stundenplan. Der Schulthek schlägt auf meinen Rücken, als ich die Straße hoch zum Schulhaus renne. Die Uhren im Schulhof zeigen mahnende Finger. Alle Gänge sind leer, meine Schritte erschreckend laut. Ich haste die Treppen hinauf, renne zu der Türe, hinter der sich meine Klasse befinden sollte. Doch ich wage es nicht, die Klinke hinunterzudrücken: Ich werde allein vorne stehen, alle Blicke auf mich gerichtet. Ich beuge mich zum Schlüsselloch vor, versuche zu horchen, ob ich wirklich vor der richtigen Türe stehe, doch die Hitze steigt mir ins Gesicht, das Blut saust in meinen Ohren, ich höre nur ein leises Gemurmel, das auch aus einem der anderen Zimmer kommen könnte. Vielleicht hat die Klasse das Zimmer wechseln müssen, aus irgendeinem nicht vorhersehbaren Grund. Befinde ich mich überhaupt im richtigen Stockwerk? Ich bin so schnell gerannt, dass ich vielleicht zu weit hinaufgelaufen bin. Doch ich wage nicht, den langen Gang wieder zurückzugehen, um mit einem Blick ins Treppenhaus abzuschätzen, auf welcher Höhe ich mich befinde. Vielleicht würde, wer auch immer jetzt in einem der Zimmer war, meine Schritte hören und hinausspähen, mich Säumige entdecken, auf frischer Tat ertappen. Jeden Moment kann sich die Türe vor mir öffnen und ein Lehrer oder eine Lehrerin steht vor mir, groß, erzürnt oder, was nicht angenehmer wäre, amüsiert. Vielleicht kommt der Abwart vorbei oder gar der Rektor. Es gibt keinen anderen Weg, ich muss so leise wie möglich von hier weg. Ich schleiche wie ein Indianer, behende, schnell und doch vorsichtig, sodass ich die Geräusche, die ich verursache, unter Kontrolle halten kann; gleiten, nein: schweben. Meine feuchten Hände hinterlassen auf dem Treppengeländer einen flüchtigen Beschlag, als habe ein Gespenst beim Vorbeifliegen einen Hauch auf dem kalten Metall hinterlassen. Ich schaffe es bis zur Haupttüre, bin der Falle schon fast entronnen. Draußen aber könnte mich jemand von diesen alten Leuten sehen, die den ganzen Tag schauen, was die Kinder wieder angestellt haben. Eltern anderer Schüler kennen mich auch, sie könnten mir begegnen. Ich halte meinen Blick auf den Asphalt der Straße gerichtet. Ich sage nichts, ich höre nichts, ich sehe nichts. Das Haus, in dem sich unsere Wohnung befindet, schaut mich vorwurfsvoll an. Hat sich da nicht ein Vorhang bewegt? Ich gehe und komme kaum von der Stelle. Mutter ist bei der Arbeit, Simon und Martin sind in der Schule. Alle befinden sich am richtigen Ort, nur ich nicht. Ich werde mich verstecken, bis es zwölf Uhr ist, suche dafür einen Platz, an dem ich vom Haus aus nicht gesehen werden kann. Der Himmel ist von einem trüben Hellgraublau überspannt, es wird hoffentlich nicht regnen. Ich fühle mich verrutscht, alles ist falsch. Der Lehrer hat schon längst mein Nichterscheinen notiert, eine seiner hässlichen schwarzen Kartoffeln ins Absenzenheft eingetragen, in der Kolonne, an deren Anfang mein Name steht. Das Haus, das wie dasjenige aussieht, in dem wir wohnen, wirkt fremd, ich bin nicht willkommen. Ich bin aus allem herausgefallen. Zu spät und am falschen Ort. Unentschuldigt. Ich kauere mich zwischen die Hauswand und die Hecke, beobachte die Straße, die Menschen, die nicht ahnen können, dass sie nah an mir vorbeigehen, ich lauere, ich warte auf die richtige Stunde, um wieder aufzutauchen. Die Kirchenglocke schlägt elf Mal, ich zähle flüsternd mit. Meine Blase beginnt zu drücken, aber ein Indianer weiß sich da zu helfen. Unter der Hecke wächst ein Kraut mit glatten Blättern. Ich beobachte die Ameisen, die über die toten Äste klettern, in eine Richtung rennen,...