E-Book, Deutsch, 429 Seiten
Spierling Ungeheuer ist der Mensch
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-406-70419-2
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Geschichte der Ethik von Sokrates bis Adorno
E-Book, Deutsch, 429 Seiten
ISBN: 978-3-406-70419-2
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Auf die Fragen nach dem richtigen Handeln und dem guten Leben hat die westliche Philosophie in den vergangenen 2400 Jahren sehr verschiedene Antworten gegeben. Volker Spierling greift elf grundlegende ethische Positionen heraus, die er im Kontext der sich in der Geschichte wandelnden Weltsichten und Revolutionen des Denkens reflektiert und vertieft vorstellt.
Ist der Mensch ein grässliches, unfassbares Ungeheuer oder ein sanftmütiges, einsichtiges Wesen? Der Aufgabe, Antworten auf diese und andere für die Ethik entscheidende Fragen zu geben, sind Philosophen auf unterschiedliche Weisen begegnet. Während Augustinus das Gute in der Liebe zu Gott findet, erhebt Nietzsche den überwältigenden Lebenswillen zum Prinzip des Handelns. Die elf chronologisch angeordneten Kapitel werden mit Stichworten zu Leben und Werk der Philosophen eingeleitet, die die Verflechtung mit dem Geschehen ihrer Zeit sowie die Bedeutung ihrer Schriften unterstreichen. Eine Zusammenschau am Ende des Buches gibt anhand einiger Hauptmotive einen kurzen Überblick über die Positionen von Sokrates bis Adorno.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
1;Cover;1
2;Titel;3
3;Zum Buch;429
4;Über den Autor;429
5;Widmung;4
6;Impressum;4
7;Inhalt;5
8;Vorwort;11
9;Anfänge der Westlichen Philosophie;15
9.1;Mythos und Logos;15
9.2;Sophistik;21
10;Sokrates: «Um Einsicht, Wahrheit und möglichste Besserung deiner Seele kümmerst du dich nicht und machst dir darüber keine Sorge?»;27
10.1;Leben und Werk;27
10.2;Der göttliche Auftrag;29
10.3;Wissen und Scheinwissen;31
10.4;Apologie;33
10.5;Die Frage nach dem Guten;36
10.6;Den Tod vor Augen;42
11;Platon: «Die Idee des Guten muß erkannt haben, wer einsichtig handeln will, sei es in persönlichen oder in öffentlichen Angelegenheiten»;45
11.1;Leben und Werk;45
11.2;Was ist der Mensch?;48
11.3;Der überhimmlische Ort;49
11.4;Das Schöne selbst;52
11.5;Seele und Staat;57
11.6;Das Höhlengleichnis und die Idee des Guten;59
11.7;Seelenwanderung;67
12;Aristoteles: «Leben nach der Vernunft»;71
12.1;Leben und Werk;71
12.2;Wirkliches Leben;73
12.3;Die richtige Mitte treffen;76
12.4;Edle und niedere Gesinnung;80
12.5;Denken des Denkens;85
13;Lucius Annaeus Seneca: «Solange wir atmen, wollen wir Menschlichkeit üben»;91
13.1;Leben und Werk;91
13.2;Torheit der Menge;93
13.3;Die Stoa;95
13.4;Sittliche Vollkommenheit;97
13.5;Unerschütterlichkeit des Weisen;98
13.6;Vernunft und Leidenschaft;100
13.7;Humanitas;104
14;Aurelius Augustinus: «Die rechte Ordnung der Liebe»;107
14.1;Leben und Werk;107
14.2;Liebe zu Gott;110
14.3;Der innere Mensch;116
14.4;Die verdammte Menschenmasse;121
14.5;Elend und Jammer des Erdenlebens;125
14.6;Gottesstaat und Teufelsstaat;128
15;David Hume: «Die Moralität wird durch das Gefühl bestimmt»;131
15.1;Leben und Werk;131
15.2;Die metaphysikfreie Wissenschaft vom Menschen;134
15.3;Kausalität;139
15.4;Substanz;142
15.5;Beziehungswelt der Gefühle;145
15.6;Gefühl und Vernunft;148
15.7;Sein und Sollen;151
15.8;Modell der vollkommenen Tugend;153
16;Immanuel Kant: «Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne»;161
16.1;Leben und Werk;161
16.2;Die Kritik der reinen Vernunft als Grundlage von Kants Ethik;166
16.3;I. Vernunftkritik und Metaphysik;170
16.3.1;Transzendentalphilosophie – die Umänderung der Denkart;170
16.3.2;Anschauungsformen und Kategorien;176
16.3.3;Transzendentale Apperzeption – die Urbedingung aller Erkenntnis;181
16.3.4;Ideen – das Blendwerk objektiver Behauptungen;185
16.3.5;Grenzbestimmung;194
16.4;II. Ethik und Postulierte Metaphysik;195
16.4.1;Der gute Wille;195
16.4.2;Der kategorische Imperativ;201
16.4.3;Freiheit – eine andere Ordnung der Dinge;207
16.4.4;Metaphysik der Menschenwürde;211
17;Georg Wilhelm Friedrich Hegel: «Der Geist ist die sittliche Wirklichkeit»;217
17.1;Leben und Werk;217
17.2;Geist und Geschichte;221
17.3;Wissen als Vermittlung;224
17.4;Objektiver Geist;231
17.5;Moralität und Sittlichkeit;234
17.6;Die sittliche Lebenswelt – Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat;238
17.7;Die Weltgeschichte;247
18;Arthur Schopenhauer: «Tiefgefühltes, universelles Mitleid mit allem, was Leben hat»;253
18.1;Leben und Werk;253
18.2;Die Welt;257
18.3;Animal metaphysicum;262
18.4;Metaphysik aus empirischen Erkenntnisquellen;269
18.5;Die Metaphysik des Willens;274
18.6;Antimoralische Potenzen;280
18.7;Das Mitleid;286
18.8;Nichts;293
19;Friedrich Nietzsche: «Jenseits von Gut und Böse»;297
19.1;Leben und Werk;297
19.2;Perspektiven-Optik des Lebens;303
19.3;Verführung der Sprache;311
19.4;Wille zur Macht;315
19.5;Gott ist tot oder Der Nihilismus steht vor der Tür;319
19.6;Umwertung der Werte;326
19.7;Spiel des Lebens;335
20;Theodor W. Adorno: «… daß Auschwitz nicht sich wiederhole …»;339
20.1;Leben und Werk;339
20.2;Athen und Auschwitz;345
20.3;Ausdruck und Begriff;353
20.4;Hinter der Gardine;360
20.5;Moral des Denkens;361
20.6;Philosophie nach Auschwitz;361
20.7;Dialektik der Aufklärung;365
20.8;Kulturindustrie;370
20.9;Negative Dialektik;374
21;Anhang;383
21.1;Die Positionen von Sokrates bis Adorno im Überblick;385
21.2;Anmerkungen;407
21.3;Siglen der verwendeten Primärliteratur;410
21.4;Literaturauswahl;418
ANFÄNGE DER WESTLICHEN PHILOSOPHIE
Mythos und Logos
«So ward Zeus’ Wille vollendet.» Homer, Ilias (Beginn des ersten Gesangs) Die Grundlage des griechischen Daseins ist der Mythos (gr. Erzählung, Rede). Die Götter- und Heldengeschichten, wie sie von alters her von Homer (ca. 8.Jh. v. Chr.) und Hesiod (ca. 7.Jh. v. Chr.) oder durch den Sagenstoff um Orpheus (ca. 6.Jh. v. Chr.) überliefert werden, spiegeln existentielle Grunderfahrungen des Menschen. In die bildhafte Vorstellungswelt dieser Mythen sind starke Begierden und tiefe Leidenserfahungen eingeschrieben, schuldhafte Selbstbehauptungen des Menschen gegenüber Göttern wie generell die Konflikthaftigkeit des Lebens. Die Welt der griechischen Mythen mit ihren Erzählungen vom Anfänglichen, vom Ursprünglichen kann verstanden werden als eine Vorform der Philosophie. Bei dem komplexen Thema Mythologie gilt es zunächst zu unterscheiden zwischen der (für uns heute nicht mehr nachvollziehbaren) Wirklichkeit des unmittelbar gelebten, tatsächlichen Mythos und dem in späterer Zeit adaptierten, gedachten Mythos. Anfangs wird der Mythos, der mit Kult und Ritus verbunden ist, nicht für eine Fabel oder ein Märchen gehalten. Er gilt vielmehr als verpflichtende Wahrheit, als heiliges Wort vom Göttlichen, als erfahrbare Offenbarung der Gotterfülltheit allen Seins. Wenn Zeus auf griechischen Malereien die Schale mit der Opferspende ausgießt, dann opfert er dem alles umfassenden Urgöttlichen und Uranfänglichen, das sogar die Götter noch trägt, selbst aber keinen Namen mehr hat.[3] In der archaischen Zeit umschließt das mythische Weltbild vollständig das Bewusstsein, das noch unmittelbar eins ist mit der erlebten religiösen Wirklichkeit. Zu diesem ursprünglichen Weltbild, das Weltdeutungen und Orientierungen gibt, gehört die Entstehung des Kosmos, der Götter und der Menschen. Wenn zum Beispiel der Priester den Mythos der Kosmogonie vorträgt, dann ereignet sich im Augenblick des Sprechens die Weltschöpfung, eine Offenbarung des immergleichen ewigen göttlichen Seins. Auch in den klassischen griechischen Tragödien, die ein Teil des alljährlichen Gottesdienstes in Athen sind, ereignet sich der Mythos als religiöses Geschehen. Die Statue des Dionysos wird in das Theater gebracht, damit der Gott die Tragödien mitansehen kann. Die Aufführungen sind ein kultisches Spiel und damit mehr als ein bloß ästhetisches Phänomen. Aischylos, der gewaltigste Tragiker, zeigt zum Beispiel in den «Persern» die frevlerische Hybris des Menschen, der sich über die von den Göttern gesetzten Schranken hinwegsetzt und deshalb durch die von ihnen verhängte Verblendung in sein Unheil rennen muss. Lernen und Erkennen durch Leid ist der Weg, den der Perserkönig Xerxes geht. «Denn wenn die Götter listigen Trug ersinnen, welcher sterbliche Mann wird dann entkommen?» (Aischylos, Die Perser, Vers 93f.) In der Zeit vor der Entstehung der Philosophie beherrscht der Mythos das Denken. Die ursprüngliche religiöse Erfahrung der mythischen Welt vergöttlicht und vermenschlicht die Erscheinungen. Der Mensch des Mythos vermag nicht auf prüfende Distanz zur Welt und zu sich selbst zu gehen. Noch fehlt die Einsicht, dass die Welt etwas anderes sein kann als ihre Deutung. Das Denken, ohne erforschenden Bezug auf Welt und Ich, ist unfrei. Der Mythos ist die Sache selbst, ein Bewusstsein ohne Verwunderung und Fraglichwerden, eine schicksalhafte Fügsamkeit. Um die Wende vom 7. zum 6.Jahrhundert v. Chr. leben die sogenannten sieben Weisen. Es sind von Legenden umrankte halbmythische Persönlichkeiten, Denker und Staatsmänner, die namentlich und zeitlich nicht genau festlegbar sind. Von ihnen stammen, von späteren Autoren unsicher überlieferte lapidare Spruchweisheiten, erste moralische Anweisungen zu einer gelingenden Lebenspraxis. Beispiele dieser Reste uralter Philosophie sind: «Erkenne dich selbst» (vermutlich Thales, Inschrift über dem Apollontempel in Delphi); «Preise den Gestorbenen glücklich» (Chilon); «Nichts zu sehr» (Solon); «Den rechten Augenblick erkennen» (Pittakos); «Die meisten Menschen sind schlecht» (Bias); «Maßhalten ist das Beste» (Kleobulos); «Gefährlich ist vorschnelles Wesen» (Periander, Fragm.,65f.[4]). Etwa im 6.Jahrhundert v. Chr. bahnt sich in den griechischen Kolonien in Ionien, der asiatischen Westküste der heutigen Türkei, eine tiefgreifende langwierige Revolution des Geistes an. Vereinfacht kann dieser Wandel durch die Formel «Vom Mythos zum Logos» gekennzeichnet werden. Logos (gr. gesprochenes Wort, Begriff, Unterredung, Vernunft) meint hier ein freies Denken aufgrund selbst gebildeter abstrakter Begriffe statt vorgegebener mythologischer Bilder. Neben dem Mythos, der weiterhin bestehen bleibt und seine Bedeutung beibehält, entwickeln sich alternativ zu ihm die Philosophie und mit ihr die Voraussetzungen zukünftiger ethischer Reflexionen und Theoriebildungen. Die ersten vor Sokrates lebenden Philosophen, die sogenannten Vorsokratiker, sind Denker, die die Natur erforschen (ca. 600–450 v. Chr.). Der erste westliche Philosoph überhaupt ist Thales aus Milet (ca. 624–546 v. Chr.). Er ist der älteste der oben genannten sieben Weisen. Seine Werke wie auch die aller anderen vorsokratischen Denker sind verloren oder nur als Fragmente erhalten. Die Vorsokratiker suchen die Natur mit einem noch nie dagewesenen Modell des Erklärens geistig zu durchdringen und zu erforschen. Thales erklärt beispielsweise das Phänomen Erdbeben erstmals ohne Rückgriff auf die religiös-mythologische Überlieferung. Für ihn ist es nicht mehr der wütende Meeresgott Poseidon, der seinen Dreizack so heftig in die Erde rammt, dass sie erbebt. Thales behauptet vielmehr, dass die Erde als Scheibe auf dem Wasser schwimmt und gelegentlich bebt, wenn sich dieses heftig bewegt. An die Stelle eines persönlichen Ur-hebers tritt eine unpersönliche Ur-sache. Eine begriffliche Konstruktion ersetzt die bildhafte mythische Personifikation. Dies ist der Beginn einer Entmythologisierung der Naturbetrachtung. Philosophie entsteht als Frage nach dem Anfang (gr. arché, lat. principium: Anfang, Ursprung, Ursache, Prinzip). Für Thales beispielsweise ist das Wasser das Prinzip von allem. Die Welt besteht und entwickelt sich aus dem Urstoff Wasser, aus Feuchtigkeit. Der Gedanke ist ausgesprochen philosophisch. Er macht eine Aussage über den Ursprung der Dinge, er kommt ohne mythische Erzählung aus und er fasst schließlich alles in eins zusammen (vgl. Nietzsche, NS,813). Thales spricht von der Einheit des Seienden und nennt sie weder Gott noch Mensch, sondern Wasser. Philosophie entspringt aus dem Mythos und im Widerspruch zum Mythos. Die Naturphilosophen führen die unbeständigen Erscheinungen der Natur auf einen Urgrund zurück, der den Wechsel aller Dinge ermöglicht, selbst aber bleibenden Bestand hat. Gesucht wird, wenn auch noch nicht ausdrücklich als Problem formuliert, was schon immer ohne Zutun von Menschen und Göttern vorhanden ist. Einheit und Wandel werden mit Hilfe des Begriffe bildenden Logos zusammengedacht. Im Hinblick auf eine letzte fundamentale Gemeinsamkeit der Naturerscheinungen wird nach dem Wesen der Welt geforscht. Anaximenes bestimmt es als Luft, Pythagoras als Zahl, Empedokles als Elemente, Demokrit als Atome. Einzelne Philosophen treten aus der kollektiven Geschlossenheit des Mythos heraus und suchen unabhängige Erklärungen der Natur. Von ethischer Bedeutung ist Pythagoras (6. Jh. v. Chr.). Der Ordensgründer und Mathematiker lehrt die Unsterblichkeit der Seele und die Seelenwanderung, die er von den orphischen Mysterien (Dionysosreligion) übernimmt. Dieser Lehre zufolge ist die Seele wegen früherer Verfehlungen zur Strafe in einen menschlichen oder tierischen Leib eingekerkert und mit diesem leiblichen Übel und Schmutz verhängnisvoll bestraft. Aufgabe des Menschen ist die moralische Reinigung der Seele durch asketische Enthaltsamkeitsgebote (z.B. den Verzicht auf Fleischgenuss). Der ganze Himmel ist Harmonie und Zahl, eine große schöne universale Ordnung, der auch die Seele zu entsprechen hat. Ziel ist die Erlösung von den Wiedergeburten, die endgültige Befreiung vom Körper und die körperlose Verähnlichung mit dem Göttlichen in der Region des Lichts. Ein wesentlich neuer Aspekt für das ethische Denken liegt darin, dass Pythagoras die Seele zum wahren Selbst des Menschen erhebt, der sich um sein wirkliches...