E-Book, Deutsch, Band 1/2018, 84 Seiten, Format (B × H): 210 mm x 280 mm, Gewicht: 220 g
Das Wechselspiel von Außen- und Innenwelt
E-Book, Deutsch, Band 1/2018, 84 Seiten, Format (B × H): 210 mm x 280 mm, Gewicht: 220 g
Reihe: Spektrum Spezial - Biologie, Medizin, Hirnforschung
ISBN: 978-3-95892-228-0
Verlag: Spektrum der Wissenschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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TRANSPARENZ
DAS DURCHSICHTIGE
GEHIRN
Ein neuer Ansatz, Hirngewebe zu präparieren, gewährt Wissen schaftlern tiefe Einblicke ins Zentralnervensystem. Karl Deisseroth ist Professor für Biotechnologie und Psychiatrie an der Stanford University (Kalifornien). ?? spektrum.de/artikel/1432728 AUF EINEN BLICK
TIEFE EINSICHTEN 1 Das Gehirn lässt sich funktionell nur verstehen, indem man seine individuellen Zellen analysiert und dies mit übergreifenden Betrachtungen des ganzen Organs kombiniert. 2 Wasser-Lipid-Grenzflächen im Hirngewebe streuen einfallendes Licht in alle möglichen Richtungen, was das Gewebe undurchsichtig macht. 3 Neue Gewebe-Hydrogel-Techniken stabilisieren wichtige Hirnstrukturen wie Proteine und Nukleinsäuren und entfernen dann die Lipide. Dabei entsteht ein Präparat, das tiefe Einblicke in die Hirnanatomie erlaubt. Unser Zentralnervensystem ist ein überaus verworrenes Netzwerk aus zahllosen parallel verlaufenden und sich überkreuzenden Fäden. Diese dünnen Zellfortsätze, Axone genannt, übertragen elektrische Signale zwischen Neuronen. So wie die lang gestreckten Kettfäden eines Textilgewebes dessen Schussfäden überschneiden, kreuzen auch die ausgedehnten Axone der Projektionsneurone die Fortsätze zahlreicher anderer Nervenzellen. Um die Funktionsweise des Gehirns zu verstehen, müssen Forscher entschlüsseln, wie sich diese neuronalen Knäuel auf der Ebene individueller Zellen organisieren. Zugleich dürfen sie dabei nicht die Gesamtperspektive vernachlässigen, die das ganze Hirn in den Blick nimmt. Für solche Einblicke brauchen wir spezielles Rüstzeug, denn unser Gehirn ist weder flach wie ein Textilgewebe noch durchsichtig. Im gesamten Organ, insbesondere in den Membranen der Nerven- und Gliazellen, streuen Fettmoleküle (Lipide) einfallende Lichtstrahlen in alle möglichen Richtungen. Das ist der Grund, warum wir nicht in es hineinblicken können. Bildgebende Verfahren bilden in aller Regel nur seine obersten Zellschichten ab, aber nicht die darunterliegenden Bereiche. Eine neue Technik ermöglicht es Wissenschaftlern nun, tief in das intakte Gehirn mit seinem verworrenen Nervengeflecht hineinzusehen – es quasi durchsichtig zu machen. Sie hilft sowohl, einzelne Zellfortsätze nachzuverfolgen, als auch, deren molekulare Eigenschaften zu ermitteln. Die Methode stützt sich auf so genannte Hydrogele: wasserunlösliche Polymere, die sich zu einem dreidimensionalen Netzwerk zusammenlagern und dabei wässrige Zellstrukturen einschließen und konservieren. Hydrogele können Hirngewebe mit einem räumlichen Innenskelett aus Kunststoff ausstatten. Das geschieht in drei Schritten. Zunächst bringt man in das Gehirn eines Versuchstiers oder eines verstorbenen Menschen ein durchsichtiges Gel ein, das sich mit wichtigen Schlüsselmolekülen verbindet – allen voran Proteinen und Nukleinsäuren – und ihre räumliche Lage sowie ihre Struktur stabilisiert. Im zweiten Schritt entfernt man alle Gewebebestandteile, die für die strukturelle Erforschung des Gehirns uninteressant sind oder einfallendes Licht streuen, beispielsweise Lipide. Drittens tränkt man das Präparat mit verschiedenen Fluoreszenzfarbstoffen und anderen Markern, um Zellfortsätze und relevante Moleküle besser sichtbar zu machen – das Gel ist nicht nur durchsichtig, sondern erlaubt auch, solche Substanzen rasch einzubringen. Diese Technik eröffnet zahlreiche neue Möglichkeiten. Wissenschaftler nutzen sie, um den Zusammenhang zwischen dem Aufbau eines Nervengewebes und seiner Funktion zu erforschen – egal ob es um Handlungen oder Wahrnehmungen, Bewegungen oder Gedächtnis geht. Sie hilft zudem aufzuklären, wie Parkinson, Alzheimer, multiple Sklerose, Autismus, Drogensucht oder Angststörungen entstehen. Und vermutlich kann sie auch die Krebsdiagnostik verbessern. Weil die Methode so viele Vorzüge hat, wenden Forscher sie mittlerweile auch an anderen Organen und Geweben des gesamten Körpers an. Ein durchsichtiges Gehirn hervorzubringen, ist so schwierig, dass es selbst in hunderten Millionen Jahren der Evolution großer Tiere nicht auftrat. Dabei kann Unsichtbarkeit einen großen Selektionsvorteil bedeuten; sie erleichtert es beispielsweise, Raubtieren zu entgehen. Bestimmten Fischen fehlt etwa das rötliche Protein Hämoglobin, was ihnen eine gewisse Durchsichtigkeit verleiht. Dies bedeutet allerdings, dass die Tiere ohne typisches Wirbeltierblut zurechtkommen müssen – ein hoher Preis, den es sich offenbar trotzdem zu zahlen lohnt. Doch selbst diese Tiere haben kein optisch transparentes Zentralnervensystem entwickelt, trotz immensen evolutionären Drucks: Ihr Gehirn ist nur teilweise lichtdurchlässig. Anscheinend findet die Evolution keinen Weg, ein großes lebendes Gehirn durchsichtig zu machen. Wenn Licht ein Nervenzellgewebe passiert, wird es gestreut, denn an der Oberfläche der Zellen existieren Fett-Wasser-Grenzflächen. Sie brechen hindurchtretende Lichtstrahlen, weil sich die Photonen in lipidhaltigen Phasen langsamer bewegen als in wässrigen. Das kompliziert aufgebaute Hirngewebe weist zahllose Grenzflächen auf – es lenkt das Licht also schon nach kurzer Wegstrecke in alle möglichen Richtungen ab, und zwar in praktisch nicht vorhersagbarer Weise. Dieser Effekt lässt sich nicht einfach technisch oder per Evolution aufheben. Die Lipidschichten, aus denen die Membranen der Hirnzellen bestehen, spielen eine überaus wichtige Rolle als elektrische Isolatoren, die Ionenflüsse kanalisieren. Ohne sie würden sich die elektrischen Impulse der Zelle nicht entlang ihrer Axone fortpflanzen, und es gäbe keine elektrische Signalübermittlung im Gewebe. Ironischerweise ist ausgerechnet das Gehirn, das wir für funktionelle Untersuchungen am wenigsten stören dürfen, zugleich jenes Organ, das optische Einblicke am massivsten erschwert. Im Jahr 2009 wandte ich mich der bislang ungelösten Herausforderung zu, das intakte reife Säugerhirn durchsichtig zu machen – und zugleich zu ermöglichen, diverse Moleküle in dem Organ anzufärben. Hunderte von Laboren weltweit hatten damals damit begonnen, eine Technik anzuwenden, die meine Kollegen und ich zwischen 2004 und 2009 entwickelt hatten. Sie erlaubt es, ausgewählte neuronale Strukturen im Gehirn mit Licht ein- und auszuschalten. Diese Methode, die so genannte Optogenetik, kombiniert Laser, Glasfaseroptik und Genetik, um spezifische Nervenzellen im lebenden Gehirn zu aktivieren oder zu deaktivieren. Möglich wird das durch lichtempfindliche Proteine namens Opsine, die von Algen und Bakterien stammen. Die Technik ermöglicht, Hirnaktivitäten zu steuern, während die Versuchstiere rennen, springen, schwimmen, miteinander kommunizieren oder andere komplexe Verhaltensweisen zeigen. Im Sommer 2009 waren die größten Herausforderungen der Optogenetik im Wesentlichen bewältigt und die Technik einsatzbereit. Sie half dabei, tausende neue Erkenntnisse über die neuronalen Mechanismen des Verhaltens zu gewinnen – doch sie vermochte es nicht, eine andere wichtige Information zu liefern: ein hochauflösendes Bild nämlich, das die gehirnweite »Verkabelung« ausgewählter Hirnneurone darstellt. Ein zentrales Ziel von Forschern ist es, zu erkennen, inwiefern sich die Gesamterscheinung eines Systems auf seine Grundbausteine zurückführen lässt. Dazu nehmen sie einzelne Teile aus einem komplexen System heraus und untersuchen sie isoliert. Denn das ermöglicht Aussagen darüber, welche Eigenschaften des jeweiligen Teils ihm selbst zu eigen (intrinsisch) sind und nicht von anderen Elementen abhängen. Aber bei einem derart stark vernetzten System wie dem Gehirn stößt diese Strategie an Grenzen, denn Erkenntnisse über seine einzelnen Elemente erlauben häufig keinen Rückschluss auf die Gesamtfunktion. Auch bei einem Orientteppich geht das Muster verloren, wenn man die Fäden herauszieht, um sie separat zu betrachten. Weil das adulte Säugerhirn undurchsichtig ist, behalf man sich lange Zeit damit, es für Untersuchungen auseinanderzunehmen – typischerweise, indem man es zerschnitt. Dabei zerteilen Forscher das dreidimensionale Gewebe in hunderte oder tausende Scheibchen. Dies ist enorm zeitraubend und kostenintensiv, vor allem dann, wenn viele Gehirne untersucht werden müssen, um statistisch bedeutsame Ergebnisse zu erhalten (was bei Verhaltensstudien an Säugern die Regel ist). Überdies gehen dabei wichtige Informationen unwiederbringlich verloren. Bereits die Optogenetik hatte hier für große Verbesserungen gesorgt, denn sie half, die Funktionsweise des intakten Gehirns zu erforschen. 2009 begann ich intensiver darüber nachzudenken, was mein Team und ich auf diesem Gebiet noch tun könnten. Die Idee, die ich dabei verfolgte, war bereits 15 Jahre zuvor entstanden. Mitte der 1990er Jahre war ich davon fasziniert gewesen, neuronale Schaltkreise ähnlich denen des Gehirns im Labor nachzubauen, ausgehend von einzelnen Nervenzellen. Möglich wäre das, überlegte ich, indem man neuronale Stammzellen auf Polymergerüsten aussät und dort, biochemisch gesteuert, zu Nervenzellen ausdifferenzieren lässt. Während ich diesen Ansatz verfolgte, arbeitete ich mich in die Fachliteratur über Hydrogele ein. Hydrogele schienen mir als Gerüstmaterial besonders gut geeignet, da sie bioverträglich und zudem durchsichtig sind. Polymer in Neuronennetzen statt Neuronennetze im Polymer
Leider gelang es mir nie, hirnähnliche Neuronennetze aus einzelnen Zellen herzustellen: Das Projekt erwies sich als verteufelt anspruchsvoll. Dennoch schleppte ich meine Dokumentensammlung über Hydrogele in den folgenden 15 Jahren von Labor zu Labor, obwohl sie langsam...