E-Book, Deutsch, 200 Seiten, Format (B × H): 155 mm x 224 mm
Ein Ratgeber für Erwachsene mit ASS und deren Betreuerinnen und Betreuer
E-Book, Deutsch, 200 Seiten, Format (B × H): 155 mm x 224 mm
ISBN: 978-3-456-76209-8
Verlag: Hogrefe AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zielgruppe
Menschen mit ASS, Angehörige und Betreuer_innen, Psycholog_innen
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychologie / Allgemeines & Theorie Psychologie: Sachbuch, Ratgeber
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Medizin, Gesundheitswesen Medizin, Gesundheit: Sachbuch, Ratgeber
- Sozialwissenschaften Pädagogik Teildisziplinen der Pädagogik Sonderpädagogik, Heilpädagogik
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Medizinische Fachgebiete Psychiatrie, Sozialpsychiatrie, Suchttherapie
Weitere Infos & Material
3 Autismus bei Erwachsenen
In diesem Kapitel beschreiben wir kurz, was Autismus ist und wie diese Störung sich bei Erwachsenen äußert. Dabei werden sowohl Verhaltensmerkmale als auch kognitive Theorien über den Autismus behandelt. Anschließend widmen wir uns den Problemen, die Menschen mit Autismus erleben, und stellen verschiedene Methoden der Behandlung und Begleitung vor. Autismus auf drei Ebenen Autismus lässt sich auf drei verschiedenen Ebenen beschreiben: auf der biologischen, der kognitiven und der Verhaltensebene (Frith, 2003). Die Ursache des Autismus liegt auf biologischer Ebene und sehr wahrscheinlich in den Genen (Rutter, 2005). Auch die jüngsten Fortschritte der genetischen Forschung haben «das Gen» für Autismus leider noch nicht identifiziert. Es ist noch unklar, welche einzelnen Gene bei der Entwicklung einer Autismus-Spektrums-Störung (ASS) eine Rolle spielen. Außerdem wurden in biologischer Hinsicht auch auf anderen Gebieten Besonderheiten entdeckt, zum Beispiel im Spiegelneuronensystem (Dapretto, 2006). Die Stellung einer Diagnose innerhalb des Autismusspektrums ist auf biologischer Ebene leider noch nicht möglich. Auf kognitiver Ebene wird beschrieben, wie Menschen mit Autismus Informationen verarbeiten. Wir wissen zum Beispiel, dass sie relativ stark sind in der Wahrnehmung von Details. Leider ist auch auf diesem Gebiet noch nicht klar, wie Erwachsene mit Autismus genau funktionieren, und unsere neuropsychologischen Tests sind nicht spezifisch und zuverlässig genug, um eine Diagnose im Autismusspektrum stellen oder ausschließen zu können. Da unser Wissen und unsere Instrumente auf biologischem und kognitivem Gebiet noch unzureichend sind, können wir Diagnosen im Autismusspektrum nur aufgrund des Verhaltens stellen, das ein Mensch zeigt. Diese Verhaltensmerkmale sind im DSM-IV-TR (in dem die Kriterien für psychiatrische Erkrankungen beschrieben werden) wie folgt dargestellt: «Beschränkungen in der sozialen Interaktion, Beschränkungen in der Kommunikation und stereotype Verhaltens- und Aufmerksamkeitsmuster.» In den folgenden Abschnitten beschreiben wir die Verhaltensmerkmale und die kognitiven Besonderheiten von Erwachsenen mit Autismus. Verhaltensmerkmale Einschränkungen der sozialen Interaktion Menschen mit Autismus haben Schwierigkeiten, sich in andere Menschen einzufühlen und sie einzuschätzen. Relativ intelligenten Menschen mit Autismus gelingt es mitunter, das Verhalten anderer Menschen zu interpretieren, aber sie tun das vor allem mithilfe von Argumenten, nicht, indem sie die Ursache nachempfinden können. Sie haben bewusst gelernt, «wie soziale Kontakte funktionieren». In subtileren sozialen Situationen reicht diese Strategie allerdings nicht aus, und es fehlt ihnen an Einfühlungsvermögen für eine adäquate Einschätzung. Außerdem gelingt es Menschen mit Autismus nicht, Freundschaften zu schließen und zu erhalten. Bei denen, die das doch fertigbringen, beobachten wir oft, dass es sie überproportional viel Zeit und Energie kostet. Ein Teil der Menschen mit Autismus hat wenig bis gar keinen Bedarf an Sozialkontakten; andere haben wohl das Bedürfnis, wissen aber nicht, wie sie es erfüllen können. Obwohl es für Menschen mit Autismus schwierig ist, Kontakte zu knüpfen, ist häufig zu beobachten, dass sie von Kollegen sehr geschätzt werden. Darüber hinaus sind Menschen mit Autismus oft sehr ehrlich. Sie neigen kaum dazu andere zu betrügen oder auf den Arm zu nehmen. Einschränkungen der Kommunikation Es fällt Menschen mit Autismus oft schwer, in der Kommunikation gut auf den anderen einzugehen. Sie sprechen zu wenig oder zu viel und haben Schwierigkeiten, die Erwartungen ihrer Gesprächspartner zu erspüren. So kommt es vor, dass sie zu lange über dasselbe Thema reden und nicht merken, wann andere das Interesse verlieren. Bei Menschen mit Autismus hat Kommunikation normalerweise die Funktion, Informationen zu übermitteln. Smalltalk ist daher nicht unbedingt ihre Sache. Außerdem neigen sie dazu, Sprache wörtlich zu nehmen, und verstehen darum Scherze und bildliche Redewendungen nicht immer richtig. Daneben haben sie Schwierigkeiten, nonverbale Kommunikation (etwa durch Gesten und Körperhaltung) richtig einzuschätzen und anzuwenden. Ein weiteres Problem liegt für sie darin, sich Dinge vorzustellen, die zur Zeit nicht vorhanden sind. Menschen mit Autismus gehen oft sehr kreativ mit Sprache um und haben einen eigenen Humor. Ein Teil der Menschen mit Autismus ist sehr genau im Sprachgebrauch. Dadurch können sie gut sprachliche Fehler und Eigenheiten erkennen. Stereotype Muster Menschen mit Autismus denken und arbeiten im Allgemeinen sehr detailliert. Mit ihren Hobbys und Interessen beschäftigen sie sich daher intensiver als andere. Sie widmen ihnen mehr Zeit, und es fällt ihnen schwerer aufzuhören, wenn ihre Umgebung es verlangt. Der Vorteil ihrer detailverliebten Arbeitsweise besteht darin, dass sie sehr viel Wissen auf bestimmten Gebieten ansammeln und dadurch anderen als wandelndes Lexikon dienen können. Außerdem neigen Menschen mit Autismus stark dazu, Tätigkeiten immer auf dieselbe Art und Weise auszuführen. Dadurch entwickeln sie Verhaltensroutinen (Aktivitäten, die immer nach demselben Muster ausgeführt werden). Sie haben oft Schwierigkeiten, wenn ihre Routine unterbrochen wird; Veränderungen allgemein bereiten ihnen Probleme. Für andere Menschen bedeutet Urlaub zum Beispiel Ruhe und Entspannung, aber für Menschen mit Autismus gilt das in der Regel nicht. Im Urlaub ist die Umgebung anders als zu Hause, sodass sie sich nicht an ihrer täglichen Routine festhalten können. Menschen mit Autismus sind im Allgemeinen sehr konsequent und zuverlässig. Was sie tun, machen sie gut, und kennen oft die beste Methode, die Dinge anzugehen. Kognitive Merkmale Menschen mit Autismus denken im Allgemeinen anders als andere Menschen. Sie verarbeiten Informationen auf ihre eigene Art. In der Literatur werden vor allem Besonderheiten beschrieben auf dem Gebiet der Theory of Mind, der zentralen Kohärenz und der Exekutivfunktionen. Die Besonderheiten auf diesen Gebieten werden in diesem Abschnitt kurz vorgestellt. Theory of Mind Theory of Mind bezeichnet das Vermögen, sich in einen anderen hineinzuversetzen und so sein Verhalten zu verstehen, zu erklären und vorherzusagen. Dabei ist es wichtig zu erkennen, dass der andere möglicherweise etwas anderes denkt, fühlt oder erlebt als man selbst. Bei Menschen mit Autismus ist die Theory of Mind oft weniger entwickelt, und dadurch fällt es ihnen relativ schwer, soziale Situationen adäquat einzuschätzen (Baron-Cohen, Leslie & Frith, 1985). Aus diesem Grund versteht die Person mit Autismus Menschen in ihrer Umgebung manchmal nicht; auch umgekehrt ist das häufig der Fall. Für Menschen mit Autismus ist es wichtig, dass die Menschen in ihrer Umgebung klar sagen, was sie von ihnen erwarten. Das hilft ihnen dabei, mit anderen zusammenzuarbeiten und zu -leben. Zentrale Kohärenz Zentrale Kohärenz wird beschrieben als das Vermögen, Informationen zu einem sinnvollen, zusammenhängenden Ganzen zu integrieren. Während Menschen ohne Autismus bei Informationen in der Regel zuerst die grobe Richtung wahrnehmen, konzentrieren sich Menschen mit Autismus oft stark auf die Einzelheiten. Sie verarbeiten Informationen im Bottom-up-Verfahren und möchten zuerst sämtliche Details genau wissen. Erst danach können sie sich um den Zusammenhang und das große Ganze kümmern (Frith, 2003, Happé & Frith, 2006). Der Nachteil dabei ist, dass die Informationsverarbeitung sie mehr Zeit kostet und dass sie nicht immer ein Gesamtbild entwickeln, vor allem, wenn sie in den Details «steckenbleiben». Der Vorteil dabei ist, dass sie mehr Detailinformationen wahrnehmen und gründlicher auf den Stoff eingehen als andere; dadurch sammeln sie über das betreffende Thema letzten Endes oft mehr (Detail-)Wissen an. Exekutivfunktionen Die Exekutivfunktionen betreffen das Vermögen, adäquat auf eine sich ständig verändernde Umgebung zu reagieren. In Situationen, in denen neue Informationen auftauchen, sind wir gezwungen, flexibel zu reagieren. Wir müssen dann zum Beispiel unsere Pläne und unsere Reaktionsweise anpassen. Dazu müssen wir Informationen in Handlungen umsetzen. Mit diesen Aspekten haben viele Menschen mit Autismus Schwierigkeiten. Sie stecken oft in einem bestimmten Denk und Verhaltensmuster fest und haben Mühe, dieses bei Bedarf flexibel anzupassen (Ozonoff, South & Provencal, 2005; Rumsey, 1985). Dadurch bereiten ihnen Veränderungen am Arbeitsplatz, zum Beispiel bei Reorganisationen, oft Probleme. Leidensdruck bei Erwachsenen mit ASS Menschen mit Autismus müssen nicht unbedingt unter ihrer Störung leiden. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Autismus von vielen anderen psychiatrischen Störungen. Bei einer depressiven Störung entsteht immer Leidensdruck, bei Menschen mit Autismus schwankt das hingegen stark. Erwachsene mit Autismus, die wenig Kontakt brauchen, die keine Familie haben und die ihren Hobbys viel Zeit widmen können, müssen nicht unbedingt unter ihrem Autismus leiden. Der größte Teil der Erwachsenen mit Autismus erlebt allerdings sehr wohl Beschwerden. In diesem Abschnitt werden einige der am häufigsten auftretenden Probleme beschrieben. Niedergeschlagenheit Untersuchungen bei Erwachsenen mit ASS zeigen, dass der Leidensdruck sich oft in Gefühlen von Niedergeschlagenheit äußert (Ghaziuddin, Weidmer-Mikhail & Ghaziuddin, 1998). Das hat möglicherweise mit den Problemen zu tun, auf die sie in verschiedenen Lebensbereichen...