Soysal | Vor dem Morgengrauen | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Soysal Vor dem Morgengrauen


1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7317-0010-4
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-7317-0010-4
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Als die Polizeibeamten zur Tür hereinstürmen, weiß Oya gar nicht, wie sie eigentlich in die Razzia geraten ist. Alle im Raum sind wie erstarrt und fragen sich fassungslos, wie es dazu kommen konnte. Oya war der Einladung zum Abendessen bei Ali, einem Arbeiter in der örtlichen Textilfabrik, gefolgt und sitzt als einzige der anwesenden Frauen neben den Männern, die sich über Politik und ihre Lebenspläne streiten. Mit der Verhaftung gerät das Leben der jungen Frau, die wegen ihrer Kritik an der Militärdiktatur in der Provinzstadt Adana bereits in der Verbannung ausharren muss, erneut aus den Fugen. Die anschließende lange Nacht in Gewahrsam lässt Erinnerungen an die Gemeinschaft der Unterdrückten aufsteigen. Vor allem der Widerstandsgeist der Frauen, die all ihre Kraft gegen ihre Ausgrenzung aufbieten, verleiht Oya Mut. Sevgi Soysals 1975 erschienener Roman Vor dem Morgengrauen wurde als ein überwältigender Chor von unterdrückten, verletzten und aufgebrachten Stimmen aus allen Winkeln der türkischen Gesellschaft gefeiert. Die Autorin setzt darin Frauen aller Schichten und ihrem Kampf um die Freiheit ein Denkmal.

Sevgi Soysal (1936-1976) wurde in Istanbul geboren und wuchs als Tochter eines türkischen Vaters und einer deutschen Mutter in Ankara auf. Dort studierte sie Archäologie und hörte an der Uni Göttingen Vorlesungen in Theaterwissenschaft. Ihr vehementer Einspruch gegen soziale Ungerechtigkeit, die Ungleichheit der Geschlechter und den Militarismus in der Türkei nach dem Putsch von 1971 brachten ihr Gefängnis und Verbannung ein, doch das hielt sie nicht vom Schreiben ab. Unter anderem wurde sie 1974 mit dem renommierten Orhan-Kemal-Preis ausgezeichnet. Ihre feministisch geprägten Bücher sind moderne Klassiker und werden international wiederentdeckt.
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DAS VERHÖR


Die Bridge-Partie ist in vollem Gange. Im Wohnzimmer des pensionierten Oberst Muzaffer Bey, Direktor der Akdeniz Sanayi-Fabrik, kann man vor Zigarettenqualm die Hand nicht vor Augen sehen. Der Glanz des Kristallleuchters hat sich getrübt, als hätten die Gäste beim Empfangstag seiner Gattin den bösen Blick darauf gelenkt. Dabei hat Nurten Hanim sich noch heute Morgen vor ihrer Hausangestellten aufgepflanzt und hat sie dieses kostbare Stück, das man extra aus Beirut hergeschmuggelt hat, polieren lassen. Zum Glück sind die Männer der Bridge-Partie unter sich, sodass Nurten Hanim dieser traurige Anblick erspart bleibt. Und die anwesenden Gäste kümmert der Kronleuchter nicht. Muzaffer Bey und sein Partner, der Herzspezialist Necmettin Bey, sind gerade dabei zu verlieren. Muzaffer Bey zieht ein langes Gesicht, er ärgert sich über seinen Partner, der, statt sich auf das Spiel zu konzentrieren, die ganze Zeit redet.

»Ja, mein Bester, die Parapsychologie hat bewiesen, dass zwei Menschen, die sich an verschiedenen Orten aufhalten, mittels Gehirnströmungen miteinander kommunizieren können.«

Zekai Bey, Polizeidirektor der Ersten Abteilung der Polizeibehörde von Adana, freut sich über Necmettins Geschwätzigkeit. Sie erhöht seine Chancen, und so wirft er ihm einen neuen Brocken hin.

»Sehr interessant. Ich habe in der Zeitschrift auch schon was darüber gelesen. Da hat eine Frau aus Chicago behauptet, dass sie auf diese Weise mit ihrem Sohn in Kontakt steht, der in Korea kämpft.«

»Das kann sein. Auch die These von der Unsterblichkeit der Seele …«

Muzaffer Bey wirft einen wütenden Blick zum Kellner an der Tür. Er findet immer jemanden, an dem er seine Wut auslassen kann. Der Kellner liest den Gesichtsausdruck seines Herrn gleich richtig und trägt augenblicklich die Tabletts mit den klebrigen Überresten der Kanapees hinaus. Kurz darauf kommt er mit einem neuen Tablett wieder, darauf frisch gefüllte Whiskygläser mit Eiswürfeln.

Zekai Bey langt gut gelaunt nach einem Whisky. Er hat heute Abend eine Glückssträhne. Dann greift er das Thema wieder auf.

»Was der Mensch nicht alles erfasst, nicht wahr?«

»Insbesondere der weiße Mensch. Denn die weiße menschliche Spezies ist ja viel früher als die schwarze auf der Welt erschienen, und wegen dieses Vorsprungs hat sie strukturell eine höhere Begabung entwickelt. Als die gelbe Rasse und dann noch die schwarze dazukamen, mussten diesen Primitiven die Weißen aufgrund ihrer Überlegenheit wie Götter vorkommen.«

»Also entwickelt sich Ihrer Meinung nach der Verstand durch die Wiedergeburt der Seele immer weiter?«

»Daran gibt es keinen Zweifel! Ganz eindeutig ist Genie nichts anderes als die unsterbliche Seele, wie sie sich von Körper zu Körper weiterentwickelt, um ihre Bestimmung zu erfüllen.«

»Da ist jemand am Telefon für Sie, mein Herr.«

Weder Zekai noch Necmettin Bey scheinen den Kellner zu hören. Muzaffer Bey erkennt die Chance zur Unterbrechung des Spiels und fährt den Kellner an: »Sprich gefälligst lauter, Junge!«

Der Kellner tritt einen Schritt näher an Zekai Bey heran. »Da fragt jemand am Telefon nach Ihnen, mein Herr.«

Zekai Bey wendet sich halb zerstreut, halb unwillig an den Kellner. »Wer?« Obwohl er genau weiß, woher er angerufen wird.

»Ich weiß nicht, mein Herr.«

»Von der Polizeibehörde?«

»Sie haben nichts gesagt, mein Herr. Wahrscheinlich möchten sie es Ihnen persönlich mitteilen.«

Zekai Bey ist im Begriff, ihn zusammenzustauchen: Wie kannst du mich stören, ohne zu wissen, wer es ist?, da fällt ihm wieder ein, dass er sich nicht in seinem eigenen Territorium befindet. Da Muzaffer Bey den Kellner nicht tadelt, kann man nichts machen. Missmutig steht er auf.

Die ganze Polizeibehörde weiß, dass Zekai Bey drei Nächte die Woche, ohne Ausnahme, in den immer gleichen Häusern der Stadt Bridge spielt. Auch die Telefonnummern dieser Adressen sind bekannt. Und obwohl er seinen Leuten stets einschärft, ihn in dringenden Fällen unbedingt anzurufen, wimmelt Zekai Bey sie, wenn sie es dann wirklich tun, meist ab. Wenn die Sache sich am nächsten Tag dann doch als wichtig herausstellt, lässt er seinen Ärger an den anderen aus. Deshalb haben die Beamten aufgehört, denen am anderen Ende der Leitung zu sagen, dass sie von der Polizei- behörde anrufen. Immer müssen diese Mistkerle einen stören! Er hätte sie wieder abgewimmelt, aber er erwartet an diesem Abend einen wichtigen Anruf. Vielleicht ruft jemand vom Hotel Koza an, überlegt er.

»Wer ist da?«

»Ich bin’s, Abdullah, Herr Direktor.«

Die Beamten sagen »Herr Direktor« zu Zekai Bey, als würden sie »Herr Kommandant« sagen, wie bei der Armee.

Zekai Bey regt sich auf. »Was gibt’s, warum stört ihr mich?«

»Wir haben Anarchisten bei einer geheimen Versammlung festgenommen, Herr Direktor.«

»Und, was ist? Werft sie in die Zelle. Sagt der Ausnahmezustandsbehörde Bescheid. Muss ich euch euren Job erklären? Fangt an mit dem Verhör … Ich komme morgen und …«

»Die wissen Bescheid, Herr Direktor. Der Herr Oberst ist hier bei mir. Er erwartet Sie …«

Zekai Bey reißt sich sofort zusammen. »Warum sagst du das nicht gleich, du Idiot! Mach dem Herrn Oberst einen Kaffee! Wo hast du ihn empfangen? Um Himmels willen! Mach mein Büro auf! Und schalt den Elektroofen ein. Ich komme sofort!«

»Jawohl, Herr Direktor!«

Zekai Bey entschuldigt sich, dass er gehen muss. Alle zeigen Verständnis. Es ist bekannt, dass Zekai Bey seit einiger Zeit ein bedeutender Mann ist, der viele Verpflichtungen hat. Muzaffer Bey ist wegen seiner schlecht laufenden Partie gar nicht böse darüber.

Zekai Bey dagegen ärgert sich. War das jetzt nötig, wo er gerade dabei war zu gewinnen? »Was meinen Sie, wird der Ausnahmezustand noch weiter andauern?«, das fragen sie ihn alle ständig. Und wer, wenn nicht er, hat das dann am Hals? Kümmert sich Ismet Bey etwa darum? Wenn es nach ihm ginge, könnte der Ausnahmezustand ewig andauern. Ismet Bey ist Zekai Beys Spielpartner und gleichzeitig Filialdirektor der Internationalen Industrie- und Handelsbank von Adana. Ihn juckt es nicht, dass die Partie unterbrochen wird, als sie gerade dabei sind zu gewinnen. Natürlich nicht, sein Leben besteht aus nichts anderem als mit dem Geld anderer Leute zu spielen.

Zekai Bey steigt in seinen Dienstwagen, ohne den Mantel richtig angezogen zu haben. »Beim Hotel Koza anhalten!«

Dort angekommen, steigt der Fahrer eilig aus dem Wagen, um Zekai Bey die Tür zu öffnen, aber er ist nicht schnell genug, Zekai Bey ist schon an der Rezeption. »Ist Abuzer Bey schon da? Ich meine den Libanesen.«

»Der Herr ist noch nicht eingetroffen.«

»Sobald er da ist, soll er mich unter dieser Telefonnummer anrufen … Einen Moment, am besten geben Sie ihm diese Karte. Ich habe alles Nötige draufgeschrieben.« Zekai Bey verlässt das Hotel genauso schnell, wie er es betreten hat.

Der Rezeptionist ruft ihm hinterher. »Einen Moment, mein Herr …«

Zekai Bey hält nicht an. Er schaut sich nur kurz um und eilt weiter. Nachdem er eingestiegen ist, bedeutet er dem Fahrer zu warten.

Der Rezeptionist kommt ganz außer Atem angelaufen und reicht ein Paket in den Wagen. »Das wurde für Sie hinterlegt, mein Herr.«

Er fragt den Mann nichts. Nimmt ohne hinzusehen das Paket. Nachdem der Wagen losgefahren ist, winkt er dem Rezeptionisten nur nachlässig zu. Im Paket sind zwei Stangen Kent-Zigaretten. Er reißt die Folie von einem der Päckchen auf und nimmt sich eine Zigarette. Zündet sie an. Bevor er sein Feuerzeug wieder in die Westentasche steckt, streicht er einmal sanft darüber. Es ist ein besonderes Feuerzeug mit fast ebenmäßiger Oberfläche, das sich in der Hand gut anfühlt. Was diese Ungläubigen nicht alles herstellen!

Turgut Bey hat ihm dieses Feuerzeug im Gegenzug für ein paar Dienste während der Handelskammerwahl zukommen lassen. Man weiß, womit man ihm eine Freude bereiten kann.

Der Wagen hält vor der Polizeibehörde. Mit raschen Schritten geht Zekai Bey hinein. In der Hoffnung, den Oberst nicht allzu lange warten gelassen zu haben, rennt er den Flur entlang. Schiebt Abdullah beiseite, der versucht, ihm etwas mitzuteilen, und öffnet die Tür zu seinem Büro. »Herr Oberst, entschuldigen Sie.«

Er verstummt. Das Zimmer ist leer. Schnell läuft er zurück. Fast wäre er mit Abdullah zusammengestoßen. »Wo ist der Oberst?«

»Er ist wieder gegangen, mein Herr.«

»Waaas?«

»Es war wohl nichts Wichtiges. Besser gesagt, erst schon und dann doch nicht.«

»Was soll das heißen, du Idiot?«

»Weiß ich nicht, Herr Direktor. Erst haben sie gesagt, durchsuchen, und dann haben sie sich nicht weiter drum gekümmert.«

»Donnerwetter. Und was hat der Oberst genau gesagt?«

Abdullah kratzt sich am Kopf. Egal was er jetzt sagt, die Schuld kann immer an ihm hängen bleiben. »Macht die Verhöre. Wenn nichts dabei rauskommt, lasst sie laufen!, hat er gesagt.«

Zekai Bey platzt der Kragen. »Was ist das hier für ein Saustall? Wer lässt hier wen laufen?«

Schnell beruhigt er sich wieder. Er kann seine Wut ja an Abdullah auslassen. »Wer hat euch gesagt, ihr sollt eine Razzia durchführen, ohne dass ich den Befehl gegeben habe?«

»Herr Direktor, es gab eine Anzeige …«

»Wer hat Anzeige erstattet?«

»Weiß ich nicht.«

»Mann, wieso gehst du irgendwohin, ohne zu wissen, was los ist?«

»Die Adresse haben die von oben durchgegeben, wir haben versucht, Sie zu erreichen …«

Zekai Bey erinnert sich an den früheren...


Soysal, Sevgi
Sevgi Soysal (1936–1976) wurde in Istanbul geboren und wuchs als Tochter eines türkischen Vaters und einer deutschen Mutter in Ankara auf. Dort studierte sie Archäologie und hörte an der Uni Göttingen Vorlesungen in Theaterwissenschaft. Ihr vehementer Einspruch gegen soziale Ungerechtigkeit, die Ungleichheit der Geschlechter und den Militarismus in der Türkei nach dem Putsch von 1971 brachten ihr Gefängnis und Verbannung ein, doch das hielt sie nicht vom Schreiben ab. Unter anderem wurde sie 1974 mit dem renommierten Orhan-Kemal-Preis ausgezeichnet. Ihre feministisch geprägten Bücher sind moderne Klassiker und werden international wiederentdeckt.

Braselmann-Aslantas, Judith
Judith Braselmann-Aslantas, 1981 geboren, ist freiberufliche Übersetzerin von Prosa und Lyrik aus dem Türkischen. Zuletzt erschien der Roman Als ob jeder mit jedem befreundet wäre von Baris Bicakci in ihrer Übersetzung, ein Band mit Gedichten von Birhan Keskin ist in Vorbereitung. Sie lebt im Ruhrgebiet.

Sevgi Soysal (1936–1976) wurde in Istanbul geboren und wuchs als Tochter eines türkischen Vaters und einer deutschen Mutter in Ankara auf. Dort studierte sie Archäologie und hörte an der Uni Göttingen Vorlesungen in Theaterwissenschaft. Ihr vehementer Einspruch gegen soziale Ungerechtigkeit, die Ungleichheit der Geschlechter und den Militarismus in der Türkei nach dem Putsch von 1971 brachten ihr Gefängnis und Verbannung ein, doch das hielt sie nicht vom Schreiben ab. Unter anderem wurde sie 1974 mit dem renommierten Orhan-Kemal-Preis ausgezeichnet. Ihre feministisch geprägten Bücher sind moderne Klassiker und werden international wiederentdeckt.



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