Smith | Im Hotel | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Smith Im Hotel

Roman

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-641-19715-5
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In einem alten Hotel in einer schottischen Stadt treffen fünf sehr unterschiedliche Frauen aufeinander: die Journalistin Penny, die im Hotel übernachtet, die warmherzige Rezeptionistin Lise, die Obdachlose Else, die vor dem Hotel bettelt, und die junge Clare, die herausfinden will, was mit ihrer Schwester Sara wirklich passiert ist. Denn das fünfte weibliche Wesen, um das es hier geht, ist der Geist des Zimmermädchens Sara, das vor kurzem im Hotel verunglückt ist, und dieser Geist versucht starrsinnig, am Leben festzuhalten, was diese eine Nacht für alle fünf Frauen zu einer ganz besonderen macht ...

Ali Smith wurde 1962 in Inverness in Schottland geboren und lebt in Cambridge. Sie hat mehrere Romane und Erzählbände veröffentlicht und zahlreiche Preise erhalten. Sie ist Mitglied der Royal Society of Literature und wurde 2015 zum Commander of the Order of the British Empire ernannt. Ihr Roman »Beides sein« wurde 2014 ausgezeichnet mit dem Costa Novel Award, dem Saltire Society Literary Book of the Year Award, dem Goldsmiths Prize und 2015 mit dem Baileys Women's Prize for Fiction. Mit »Herbst« kam die Autorin 2017 zum vierten Mal auf die Shortlist des Man Booker Prize sowie auf Platz 6 der SWR-Bestenliste, für »Sommer« erhielt sie den George Orwell Prize. 2022 wurde Ali Smith mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet.
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Vergangenheit
 
 
 
 
Aaaa – ahhh was für ein Fall was für ein Flug was für ein Schwung was für eine Schwere was für ein Sturz ins Dunkel ins Licht was für ein Hinab was für ein Gleiten Poltern Krachen was für ein Segeln was für ein Schreck was für ein irres Gekreisch was für ein Knall-auf-Fall was für ein Hall was für ein Herz in meinem Mund was für ein Ende. Was für ein Leben. Was für eine Zeit. Was ich fühlte. Da. Hin. Dies ist die Geschichte, sie fängt am Ende an. Es war Hochsommer, als ich fiel; die Blätter waren an den Bäumen. Jetzt ist tiefer Winter (die Blätter sind schon lange ab), und das ist sie, meine letzte Nacht, und heute nacht wünsche ich mir nichts sehnlicher, als einen Stein im Schuh zu haben. Über das Pflaster hier vor dem Hotel zu gehen und beim Gehen einen Stein in meinem Schuh kullern zu spüren, einen kleinen spitzen Stein. Der drückt sich an verschiedenen Stellen in die Fußsohle, und es tut gerade so weh, daß es noch eine Lust ist, wie das Kratzen einer juckenden Stelle. Stellen Sie sich vor: Irgendwo juckt es. Stellen Sie sich vor: ein Fuß, darunter Straßenpflaster und ein Stein, und den drücke ich mit meinem ganzen Gewicht fest in die Haut meiner Fußsohle oder gegen die Knochen der größeren Zehen oder der kleineren Zehen oder die innere Wölbung des Fußes oder die Ferse oder den kleinen, ballrunden Muskel, der den Körper aufrecht und im Gleichgewicht und in Bewegung hält über der atemberaubend reglos-festen Oberfläche der Welt. Denn jetzt, wo es mir den Atem genommen hat, könnte man sagen, fehlt mir so ein Jucken stets und ständig. Sehne ich mich nach nichts anderem. Ich mache mir endlos Gedanken über Kleinigkeiten, um die ich mich nie geschert hätte, nicht für einen Moment, als ich noch am Leben war. Zum Beispiel, damit die Seele Ruh hat, über meinen Sturz. Wie lange hat der gedauert, wie lange ganz genau? Das wüßte ich zu gern, und ich würde das sofort wieder machen, vorausgesetzt, ich hätte Gelegenheit dazu, bekäme sie, die Gelegenheit, das Geschenk von einer Minute Leben, sechzig vollen Sekunden, so vielen. Ich würde es wieder tun, bekäme ich nur einen Teil davon geschenkt, und wieder mit meinem vollen Gewicht dahinter, wenn ich könnte (und diesmal würde ich mich absichtlich runterstürzen aaaa – ahhh, und diesmal würde ich beim Fliegen zählen, einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwa-ahhh), wenn ich ihn noch einmal spüren könnte, den Aufschlag, unten, von vier Stock weiter oben. Vom Kopf bis zu den Zehen: tot. Totes Bein. Toter Arm. Tote Hand. Totes Auge. Tot ich, vier Etagen zwischen mir und der Welt, mehr war nicht nötig, um mich fortzunehmen, das ist das Maß, die Strecke bis zum Tod, das kurze Wiederse –. Ziemlich hohe Räume, großzügig, ziemlich vornehm. Niemand könnte behaupten, ich hätte keinen feinen Abgang gehabt; die Zimmer waren neu und geschmackvoll ausgestattet mit guten harten, teuren Betten, mit Stuck an den Wänden im ersten und im zweiten und mit einem breiten imposanten Treppenhaus, an dessen Rückseite ich hinabfiel. Einundzwanzig Treppenstufen zwischen den Stockwerken und sechzehn bis ins Kellergeschoß: ich fiel sie alle. Ein ganz schönes Stück von einem dicken Teppich eine Etage weiter oben zum anderen dicken Teppich eine Etage weiter unten, obwohl der Boden im Keller ja Stein ist (die blanke Härte, wie ich weiß) und der Fall kurz war, weniger als eine ganze glorreiche Sekunde pro Etage, meiner Schätzung nach, jetzt, so lange nach dem Schluß-Aus. Das war was! Der Fall. Das Gefühl. Das Auf-und-Los; der Flug bis zum bitteren Ende, ganz bis runter in den Staub. Staub schmecken, das wär was. Man fände ja jederzeit welchen, nicht wahr, zu jeder beliebigen Zeit, wenn man das wollte, in Zimmerecken, unter den Betten, oben auf den Türkanten: zusammengerollte Haare und getrocknete Fitzel, Flöckchen von was, das mal Haut war, die vielen glorreichen Rückstände atmender Wesen, auf ihren Kern reduziert und zusammengeklebt mit den verbrauchten Resten der Netze und Schüppchen von Motten, den durchsichtigen Schichten des abgebrochenen Flügels einer Schmeißfliege. Sie könnten sich leicht (Sie können das ja, wann immer Sie lustig sind) die Hand mit Staub beschmieren, das kostbare bißchen Staub zwischen Zeigefinger und Daumen zerreiben und zuschauen, wie es den Fingerabdruck färbt, Ihren, der einzigartig ist, der von keinem andern. Und dann könnten Sie den Finger ablecken; ich könnte ihn mit der Zunge ablecken, wenn ich wieder eine Zunge hätte, wenn meine Zunge feucht wäre, und könnte schmecken, was es ist. Wunderschöner Dreck, grau und alt, der Schmier, der vom Leben bleibt, am knochigen Dach eines Mundes klebenbleibt und nach fast nichts schmeckt, was immer noch besser ist als nichts. Schmecken können, ich würde alles dafür geben. Wenigstens Staub schmecken können. Denn jetzt, wo ich fast hin bin, bin ich mehr da, als ich es je war. Jetzt, wo ich nichts als Luft bin, möchte ich sie bloß atmen. Jetzt, wo ich für immer verstummt bin, haha, bin ich bloß auf Wörter Wörter Wörter aus. Jetzt, wo ich nicht einfach die Hand ausstrecken und anfassen kann, will ich nichts anderes. So ging es zu Ende: Ich stieg in den, den. Den Lift für das Essen, sehr kleiner Raum, der an Seilen hängt und wartet über einem Schacht aus nichts, ich hab das Wort vergessen, er hat einen eigenen Namen. Die Seitenwände, Boden und Decke waren alle aus silberfarbenem Metall. Wir waren im obersten Stock, dem dritten; dort, wo vor zweihundert Jahren die Räume der Dienstboten waren, als es die im Haus noch gab; danach war das Haus ein Bordell, und da oben hat man die billigen Mädchen, die kränklicheren oder älteren, hingesteckt zum Verkauf ihrer Waren, und jetzt ist es ein Hotel, und jedes Zimmer kostet jede Nacht Geld, die kleineren Zimmer immer noch ein bißchen weniger, weil die Decken vom Boden aus leichter zu erreichen sind im obersten Stock des Hauses. Ich trug das Geschirr raus und stellte es auf den Teppich. Paßte auf, daß nichts überschwappt. Es war erst mein zweiter Tag. Ich war gut. Ich stieg rein, um zu beweisen, daß ich es konnte; rollte mich zusammen wie eine Schnecke in ihrem Gehäuse, meinen Nacken und meinen Rücken hineingezwängt, fest oben an das Metalldach gepreßt, das Gesicht zwischen den Armen, die Brust zwischen den Schenkeln. Ich bildete einen vollkommenen Kreis, und der Raum schwankte, das Seil riß, der Raum fiel aaaa – ahhh und zerbrach am Boden und ich mit. Die Decke kam runter, der Boden kam rauf, mir entgegen. Mein Rücken machte knack, mein Hals machte knack, mein Gesicht machte knack, mein Kopf machte knack. Der Käfig um mein Herz herum machte knack, und mein Herz kam heraus. Ich glaube, daß es mein Herz war. Es sprang aus meiner Brust heraus und quetschte sich in meinen Mund. So fing es an. Und zum erstenmal (zu spät) erfuhr ich, wie mein Herz schmeckt. Ein Herz zu haben, das fehlt mir. Das Geräusch, das es früher gemacht hat, fehlt mir, die Wärme, die es aussenden konnte, das Wachsein, das es mir ermöglicht hat. Ich geh hier von Zimmer zu Zimmer und sehe Betten, ruiniert nach der Liebe und nach dem Schlaf, dann Betten, die gesäubert und hergerichtet sind, wieder darauf warten, daß Körper in sie gleiten; frische Bettücher sind zurückgeschlagen, Betten, die den Mund offen haben und sagen Willkommen, beeil dich, steig rein, der Schlaf kommt. Die Betten sind so einladend. Überall im Hotel machen sie jeden Abend den Mund auf für die Körper, die in sie gleiten, gemeinsam oder allein; alle diese Leute mit ihren schlagenden Herzen gleiten an einen Platz, der für sie freigemacht wurde von anderen Leuten, die jetzt weg sind, Gott weiß, wohin, die denselben Platz noch Stunden vorher wärmten. Ich wollte mich erinnern, wie das war: schlafen mit dem Wissen, daß du wieder aufwachst. Hab sie genau beobachtet, die Körper, und gesehen, was ihre Herzen sie tun lassen. Hab sie hinterher schlafen sehen; ich hab am Fußende befriedigter Betten gesessen, unbefriedigter Betten, schnarchender, achtloser Betten, schlafloser Betten, den Betten von Menschen, die dort aber niemanden gespürt haben, niemanden im Zimmer außer sich selbst. Beeilung. Der Schlaf kommt. Die Farben vergehen. Der Verkehr, sah ich, war heute farblos, die ganze Winterstraße war verblaßt, zu lange dem Wind und der Sonne ausgesetzt. Heute war sogar die Sonne farblos, der Himmel auch. Ich weiß, was das bedeutet. Ich hab die Plätze gesehen, an denen früher Grün war. Ich sah fast kein Rot mehr, und Blau gar keines. Das Rot wird mir fehlen. Das Blau wird mir fehlen, das Grün. Die Gestalten von Frauen und Männern werden mir fehlen. Der Geruch meiner Füße im Sommer wird mir fehlen. Geruch überhaupt wird mir fehlen. Meine Füße. Der Sommer. Gebäude und wie die Fenster haben. Die leuchtenden Verpackungen um Lebensmittel. Kleine Münzen, die nicht viel wert sind, ihr Gewicht in der Tasche oder in der Hand. Einen Song hören wird mir fehlen, und eine Stimme, die aus dem Radio kommt. Feuer sehen. Gras sehen. Vögel sehen. Ihre Flügel. Ihre glänzenden. Die Dinger, mit denen sie sehen. Die Dinger, mit denen wir sehen, wir haben zwei davon, sie sitzen im Gesicht über der Nase. Das Wort ist mir entfallen. Eben hatte ich es noch. Bei Vögeln sind sie schwarz und wie Perlen. Bei Menschen sind es kleine Löcher, von Farbe umgeben: blau, grün oder braun. Manchmal können sie grau sein, grau ist auch eine Farbe. Das Sehen wird mir fehlen. Mein Fall wird mir fehlen, der mich erledigt, der mich aaaa – ahhhh zu dem gemacht hat, was ich heute bin. So ein Mist, für immer, für immer und ewig Welt ohne Ende und dann schließlich doch Ende, Amen. Ich...


Morawetz, Silvia
Silvia Morawetz, geboren 1954 in Gera, studierte Anglistik, Amerikanistik und Germanistik. Sie hat bisher ca. 150 Werke aus den Gattungen Prosa, Lyrik, Essay und Hörspiel übertragen und ist die Übersetzerin von u. a. Henry Miller, Anne Sexton, Ali Smith, Hilary Mantel und Joyce Carol Oates. Sie erhielt Stipendien des Deutschen Übersetzerfonds, des Landes Baden-Württemberg und des Landes Niedersachsen.

Smith, Ali
Ali Smith wurde 1962 in Inverness in Schottland geboren und lebt in Cambridge. Sie hat mehrere Romane und Erzählbände veröffentlicht und zahlreiche Preise erhalten. Sie ist Mitglied der Royal Society of Literature und wurde 2015 zum Commander of the Order of the British Empire ernannt. Ihr Roman »Beides sein« wurde 2014 ausgezeichnet mit dem Costa Novel Award, dem Saltire Society Literary Book of the Year Award, dem Goldsmiths Prize und 2015 mit dem Baileys Women’s Prize for Fiction. Mit »Herbst« kam die Autorin 2017 zum vierten Mal auf die Shortlist des Man Booker Prize sowie auf Platz 6 der SWR-Bestenliste, für »Sommer« erhielt sie den George Orwell Prize. 2022 wurde Ali Smith mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet.


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