E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-7392-9335-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Pete Smith wurde 1960 als Sohn einer Spanierin und eines Engländers im westfälischen Soest geboren. An der Universität Münster studierte er Germanistik, Philosophie, Publizistik und Kunstgeschichte. Nach seinem Magister-Examen arbeitete er zunächst als Kulturredakteur an einer Zeitung, bevor er sich als freier Schriftsteller niederließ. Er schreibt Romane, Kinder- und Jugendbücher, Kurzgeschichten und Essays. Für seine Bücher wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Robert-Gernhardt-Preis des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst. Einige seiner Romane sind in andere Sprachen übertragen worden, etwa ins Japanische und Dänische. Smith lebt in Frankfurt am Main.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1
„Seht nur! Schon wieder eine! Ich glaub, ich werd verrückt!“ Sie lagen auf dem Sportfeld unterhalb der Burg und sahen hinauf in den glänzenden Nachthimmel. Sarah schien völlig weggetreten. Immer wieder stupste sie Levent an und deutete nach oben, wo sich den vier Freunden in der Tat ein überwältigendes Schauspiel bot. Selbst Nelson, der das Weltall kannte wie kein anderer im Internat, konnte sich nicht daran erinnern, jemals zuvor eine schönere Nacht als diese erlebt zu haben! Der Himmel war übersät mit Sternen, Myriaden winziger Leuchtdioden, einige strahlend hell, andere matt und weißlich glänzend, manche schienen zu blinken, während das blasse Licht weit entfernter Gestirne zu einem einzigen Sternennebel verschwamm. Von Zeit zu Zeit wischten Silberfäden über den tiefschwarzen Himmel, immer an einer anderen Stelle, Sternschnuppen und Feuerkugeln, deren unvermutetes Aufflackern wie ein göttliches Augenzwinkern, wie ein kosmischer Schabernack erschien. Unwillkürlich musste Nelson an seinen Opa denken. Vor vielen Jahren einmal hatte ihm sein Großvater die Sternbilder erklärt: Pegasus und Orion, Andromeda und Kepheus, die Nördliche Wasserschlange, Luchs und Jungfrau. „Aber was sind alle Sterne dieser Welt gegen das kleine Glück einer Sternschnuppe?“, hatte er seinen Vortrag beendet. „Wenn du am Nachthimmel eine entdeckst, dann darfst du dir etwas wünschen, mein Junge. Schließ die Augen, denk fest daran, und dein Wunsch geht bestimmt in Erfüllung. Aber nur wenn du niemandem davon erzählst. Wirklich niemandem, hörst du?“ Nelson schloss die Augen. Er musste nicht lange überlegen. Eigentlich hatte er nur einen Wunsch. Allerdings wusste er, dass er sich noch etwas gedulden musste, bevor dieser Wunsch in Erfüllung gehen konnte. Drei Tage, dachte er. Und drei Nächte. Aber vielleicht… Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete er, wie Sarah ihren Kopf auf Levents Schulter legte. Er wischte den letzten Gedanken beiseite. Keine Chance, dachte er. Sonst hätte sie doch längst angerufen. Es war die letzte Ferienwoche vor Beginn des neuen Schuljahrs. Nelson konnte kaum glauben, dass bereits sein zweites Jahr im Hochbegabten-Internat Burg Rosenstoltz bevorstand. Vor zwei Tagen erst war er aus dem Urlaub zurückgekehrt und von Berlin aus gleich nach Köln weitergereist. Seine Eltern mussten arbeiten, und in der Hauptstadt hatte er sowieso keine Freunde. Was vor allem daran lag, dass er und seine Eltern erst seit gut einem Jahr wieder in Deutschland lebten. Da sein Vater viele Jahre als Botschafter im Ausland beschäftigt gewesen war, hatte Nelson seine Kindheit überall auf der Welt, nur nicht in seinem Geburtsland verbracht. Sie hatten in Indonesien, später in Bolivien, Venezuela und in Namibia gelebt. Vor einem Jahr hatte man seinen Vater zurückbeordert. Seither arbeitete er im Auswärtigen Amt in Berlin. Weil seine Eltern jedoch in ganz Deutschland nur eine einzige Schule ermitteln konnten, die imstande war, sowohl dem Wissensdurst als auch dem Lerntempo ihres Sohnes Rechnung zu tragen, hatten sie Nelson schweren Herzens auf ein 580 Kilometer entferntes Internat gegeben, eben jenes Hochbegabten-Internat Burg Rosenstoltz, das in der Nähe von Köln auf einem Hügel direkt über dem Rhein thronte. Sein Freund Luk, der in diesem Moment neben ihm lag und von Zeit zu Zeit gestelzte Kommentare über die fortwährenden Himmelserscheinungen von sich gab, war erst am Morgen wieder eingetrudelt. Er wolle sich in Ruhe auf das neue Schuljahr vorbereiten, hatte er verkündet. Aber Nelson war sich ziemlich sicher, dass auch ihm daheim einfach die Decke auf den Kopf gefallen war. Levent, der Älteste von ihnen, hatte die meiste Zeit seiner Ferien auf Burg Rosenstoltz verbracht. Er war Waise und kannte auch sonst niemanden, bei dem er die unterrichtsfreie Zeit hätte zubringen können. Immerhin kannte er Sarah, die im Dorf unweit der Burg wohnte. Mit ihr war er zwei Wochen in der Türkei gewesen. Die beiden waren seit geraumer Zeit immer mal wieder ein Paar. Nelson setzte sich auf und rieb die Hände gegeneinander. Ihn fröstelte, obwohl die Nacht lau und trocken war. Einige hundert Meter entfernt ragten die Türme von Burg Rosenstoltz in den glitzernden Himmel. Sein Herz machte einen Sprung, als ein weiterer Bolide aufleuchtete und im selben Augenblick ins Nichts verlosch. Er lächelte still. Sternenstaub, dachte er. Wie im Märchen. Nelson, dessen größte Leidenschaft die Astrophysik war, wusste natürlich, dass sie dieses nächtliche Schauspiel bloß millimeterkleinen Meteoren verdankten, die mit 30 bis 70 Kilometern pro Sekunde auf die Erdatmosphäre trafen und dort verglühten. Er wusste, dass es nicht das verglühende Teilchen selbst, sondern die Elektronen der Luftmoleküle waren, die aufgrund der Reibung am Nachthimmel aufleuchteten. Und selbstverständlich war ihm auch klar, dass die Häufung der Sternschnuppen in dieser Nacht nur darauf zurückzuführen war, dass die Erde den Meteor strom der Perseiden kreuzte, wie in den Sommermonaten eines jeden Jahres. Aber jenes Wissen blieb ohne Widerhall in seinem Herzen, weil es die Schönheit dieses Feenzaubers nicht zu erfassen vermochte. Es war genau dieses Gefühl, das sein Opa das kleine Glück einer Sternschnuppe genannt hatte. „Wieder eine“, bemerkte Luk, aber diesmal klang es schon nicht mehr so begeistert wie noch am Anfang ihres nächtlichen Picknicks. Zu viele Wünsche auf einmal, dachte Nelson, der ahnte, dass auch sein Freund im Grunde nur einen einzigen Wunsch hegte. Der Gedanke blitzte plötzlich auf. Wie eine Sternschnuppe. „Was ist?“, raunte er Luk ins Ohr. „Wollen wir Madonna einen Besuch abstatten?“ Luk sah ihn verdutzt an. „Du meinst jetzt? Jetzt sofort?“ „Warum nicht?“ Nelson rückte noch etwas näher an ihn heran. „Mitternacht vorbei, keine Lehrer auf der Burg, Kunkel schläft den Schlaf der Gerechten, und die beiden hier werden uns nicht allzu sehr vermissen, fürchte ich.“ Luk grinste. „Oo-kay“, hauchte er gedehnt. „Vielleicht ist ja Post für mich da.“ „Liebesgrüße aus der Zukunft“, entgegnete Nelson und grinste. Levents Kopf tauchte aus dem Schlafsack hervor. „Liebesgrüße? Zukunft? Was habt ihr vor?“ „Nur ein kleiner Spaziergang“, erwiderte Nelson leichthin. „Wollen das junge Glück ein paar ausgedehnte Momente allein lassen.“ Dabei zwinkerte er Levent zu und deutete mit dem Kopf auf Sarah, deren Silhouette mit der Levents zu einem Bild der stillen Eintracht verschmolz. Levent schnaubte verächtlich. „So viel Rücksicht bin ich von euch gar nicht gewohnt“, brummte er und blickte seine Freunde argwöhnisch an. „Sei doch nicht so“, warf Sarah ein. „Ist doch süß.“ Nelson vermutete, dass sie ganz bestimmt nichts dagegen hatte, wenn er und Luk sich eine Zeit lang verkrümelten. „Ich kann mir schon denken, wohin euch euer kleiner Spaziergang führt“, murmelte Levent. Nelson grinste. „Na dann.“ „Benehmt euch“, warf Luk den Turteltäubchen noch zu. Dann machten er und Nelson sich an den Aufstieg zur Burg. Als sie die Auffahrt zum Burghof erreichten und unter ihren Füßen der Kies knirschte, war sich Nelson mit einem Mal nicht mehr sicher, ob sie wirklich unbemerkt von Hausmeister Kunkel ihr unterirdisches Ziel erreichen würden. Der Schlüssel, den er ins Schloss des Eingangsportals steckte und vorsichtig herumdrehte, quiekte wie ein Ferkel, und die schwere Pforte knarzte beim Aufdrücken so jämmerlich, als ob sie für irgendeinen dämlichen Gruselschocker extra so präpariert worden wäre. Er und Luk hielten die Luft an und lauschten in die Nacht. Aber während von fern her das Grollen eines Flugzeugs an ihr Ohr drang, blieb es in den Fluchten der Burg totenstill. Sie zogen die Schuhe aus und flitzten die Treppen hinab in den Keller. Nelson knipste seine Taschenlampe an. Der Heizungsraum lag hinter einer schweren Eisentür. Hier hielt Hausmeister Kunkel jene Schlüssel versteckt, die er nur selten benötigte, weil sie Türen öffneten, die in die kaum genutzten Katakomben unterhalb der Burg führten. Das Versteck war so geheim, dass mindestens die Hälfte aller Internatsschüler davon wusste. Luk drehte an einem der Rohre, die nur zum Schein aus dem Heizungskessel ragten, und fischte ein Schlüsselbrett heraus. „Alois, wir haben dich ja so lieb“, flüsterte er und grinste. Er nahm einen kleinen Schlüssel vom Haken, dann liefen sie weiter. Vom Heizungsraum drangen sie tiefer in die Eingeweide der Burg vor. Die Lichtkegel ihrer Taschenlampen wischten über Wände, deren Felsgestein jahrtausende-, wenn nicht jahrmillionenalt war. Als sie ein in den Fels geritztes Kreuz entdeckten, hielten sie inne. Die Falltür zu ihren Füßen war kaum zu erkennen. Gemeinsam zogen sie sie auf und leuchteten nach unten. Eine in den rohen Stein gehauene Treppe führte 86 Stufen weit in die Tiefe. Nelson setzte einen Fuß auf die oberste Stufe. Kalt kroch es ihm das Bein hoch. Er kam nicht...