E-Book, Deutsch, 228 Seiten
ISBN: 978-3-7392-9329-5
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Pete Smith wurde 1960 als Sohn einer Spanierin und eines Engländers im westfälischen Soest geboren. An der Universität Münster studierte er Germanistik, Philosophie, Publizistik und Kunstgeschichte. Nach seinem Magister-Examen arbeitete er zunächst als Kulturredakteur an einer Zeitung, bevor er sich als freier Schriftsteller niederließ. Er schreibt Romane, Kinder- und Jugendbücher, Kurzgeschichten und Essays. Für seine Bücher wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Robert-Gernhardt-Preis des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst. Einige seiner Romane sind in andere Sprachen übertragen worden, etwa ins Japanische und Dänische. Smith lebt in Frankfurt am Main.
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1
Das Gewitter kam näher. In den letzten Minuten hatte sich der Himmel über der Burg zusehends verfinstert. Von seinem Platz am Fenster überblickte Nelson die weite Ebene, an deren hinterem Rand es gerade hell aufflammte. Kurz darauf spürte er wieder dieses tiefe Grollen, das sich allmählich an die Burg heran schob. „Wenn wir über die Zeit reden“, hörte er Professor Winkeleisen sagen, „dann sollten wir uns zunächst darüber verständigen, welche Zeit wir meinen.“ Nelson sah auf seine Armbanduhr: 15.57 Uhr, acht, neun, zehn Sekunden. In einundzwanzig Minuten und zwanzig Sekunden würde das Gewitter über sie hereinbrechen. Plus/minus drei Sekunden. Darauf würde er selbst seinen geheiligten Kompass verwetten. „Isaac Newton betrachtete die Zeit als eine absolute Größe, die überall auf der Welt – und wenn ich Welt sage, dann meine ich nicht nur unsere winzige Erde, sondern das unermessliche Universum – in gleicher Weise zu bestimmen ist.“ Professor Winkeleisen räusperte sich. „Diese Vorstellung sieht die Zeit als einen Pfeil, der, vor Ewigkeiten abgeschossen, Ewigkeiten lang in gerader Richtung weiterfliegen wird. Die meisten Menschen glauben an diese Art von Zeit. Für sie entspricht eine Stunde auf der Erde exakt einer Stunde auf der Venus oder dem Jupiter oder wo immer Sie wollen.“ Der Wind jaulte um die Burg herum, peitschte über den Hof und fuhr so gewaltig in die uralte, knorrige Rotbuche, dass ihre bunten Blätter wie wild gewordene Schmetterlinge auseinander stoben. Nelson zwang sich, seinen Blick von den peitschenden Ästen und den dunklen Wolken zu lösen und nach vorn zur Tafel zu sehen, auf die sein Lehrer gerade mehrere Begriffe kritzelte: absolute Zeit (Newton) relative Zeit (Einstein) Ende der Zeit (Hawking) „Albert Einstein“, fuhr Professor Winkeleisen fort, „hat in seiner allgemeinen Relativitätstheorie dargelegt, dass Raum und Zeit ein vierdimensionales, gekrümmtes Gebilde namens Raumzeit formen. Alles, was Masse und Energie besitzt, verzerrt die umliegende Raumzeit. Zeit ist bei Einstein also nicht mehr absolut, sondern abhängig von Masse und Geschwindigkeit, also relativ. Können Sie mir folgen?“ Nelson blickte sich um. Einige seiner Mitschüler nickten, andere sahen uninteressiert zur Decke. Ein Arm schnippte in die Höhe. Fünf Finger mit langen, orange lackierten Nägeln zitterten durch die Luft wie aufgeregte Kolibris. „Judith?“ Ein Teenager mit halblangen, wasserstoffblond gefärbten Haaren und einer löchrigen, ausgewaschenen Jeans erhob sich und stöckelte auf hohen Pumps zur Tafel. „Wenn Zeit durch Masse gekrümmt wird“, begann sie und nahm einen Filzstift zur Hand, „bedeutet dies, dass die Zeit in großer Nähe zu einem superschweren Stern langsamer vergeht als in weitem Abstand dazu. Eine weitere Folgerung aus Einsteins Relativitätstheorie: Je höher die Geschwindigkeit, mit der ein Raumschiff unterwegs ist, desto langsamer vergeht für dessen Insassen die Zeit.“ Das Mädchen malte zwei Kreise auf die Tafel, darauf zwei Figuren, die sie A und B nannte. „Das bringt uns zum berühmten Zwillingsparadoxon: Zwilling A beginnt eine Reise durchs All, während Zwilling B daheim bleibt und die Kohle ranschafft. A bewegt sich mit annähernder Lichtgeschwindigkeit, wodurch die Uhr für ihn um einiges langsamer tickt als für Bruder B. Wenn A auf die Erde zurückkehrt, muss er feststellen, dass sein Zwillingsbruder längst in Rente ist und auch so aussieht, während er selbst in der Zwischenzeit kaum gealtert ist.“ Nelson hörte nur mit einem Ohr zu. Er kannte das in- und auswendig. Stattdessen beobachtete er seine Mitschüler und stellte zweierlei fest: Während sich die meisten Jungen streckten, um einen Blick auf den Paradiesvogel zu werfen, der da so unverschämt selbstsicher über Paradoxa philosophierte, begannen einige Schülerinnen miteinander zu tuscheln und unverhohlen Blicke wie giftige Pfeile auf Judith abzuschießen. „Völlig korrekt!“, bemerkte Professor Winkeleisen und entließ Judith auf ihren Platz. „Das Zwillingsproblem scheint unserem gesunden Menschenverstand zu widersprechen. Und doch haben viele Experimente Einsteins Theorie bestätigt. Im Jahre 1975 etwa synchronisierte die US-amerikanische Wissenschaftlerin Carol Allie von der University of Maryland zwei Atomuhren, von denen eine auf der Erde blieb, während die andere auf eine längere Flugreise geschickt wurde. Als diese Uhr von ihrer Reise wieder zur Erde zurückkehrte, verglich Carol Allie die von beiden Uhren gemessene Zeit und stellte fest, dass die Zeit der fliegenden Uhr den Bruchteil einer Sekunde langsamer vergangen war als die Zeit der Erduhr. Erstaunlich, finden Sie nicht?! „Ist ja sowieso alles relativ!“, rief einer dazwischen, der sonst höchstens dadurch auffiel, dass er ständig in der Nase bohrte. „Bis auf deinen Rotz, der ist nicht nur relativ, sondern ziemlich eklig“, erwiderte ein Mädchen und rieb einen imaginären Popel zwischen Daumen und Zeigefinger. Vorn steckten zwei blasse Jungen die Köpfe zusammen und kicherten wie zwei Kindergartenkinder über ein schlimmes Wort. „Aber, aber, meine Herrschaften“, beschwor Professor Winkeleisen seine Schüler, „das ist doch wirklich unter unserem Niveau!“ Er pochte aufs Pult um fortzufahren. „Kennt jemand von Ihnen noch ein anderes Experiment, das Einsteins Thesen bestätigt?“ Der Wortschwall verebbte, und Stille kehrte ein. Professor Winkeleisen schritt durch die Reihen, doch niemand meldete sich. Schließlich blieb sein Blick an Nelson hängen. „Wenn Sie so nett wären, uns Einlass in Ihre Gedankenwelt zu gewähren“, sagte Professor Winkeleisen, und einige Schüler grinsten. „Hallo, Nelson, ja, Sie meine ich.“ Nelson drehte sich langsam um und sah die Blicke der gesamten Klasse auf sich gerichtet. Automatisch rief er die letzten Sätze seines Lehrers ab, die er unterbewusst gespeichert hatte, und formulierte bereits eine Antwort, während einige Mitschüler ihm noch schadenfrohe Blicke zuwarfen. „In einem anderen Experiment“, begann er und unterdrückte ein Gähnen, „haben Wissenschaftler Elektronen mit nahezu Lichtgeschwindigkeit durch einen Teilchenbeschleuniger gejagt. Der Zerfallsprozess der beschleunigten Elektronen war, wie sich zeigte, am Ende weniger fortgeschritten als jener der in Ruhe verbliebenen Teilchen.“ Professor Winkeleisen klatschte in die Hände. „Bravo!“, lobte er, „so ganz weit können Sie nicht fort gewesen sein, Nelson.“ Er lächelte. „All dies zeigt uns, dass Einstein Recht behielt. Aus seiner berühmten Formel E=mc2 folgen noch einige weitere interessante Feststellungen. Erstens: Nichts bewegt sich schneller als Lichtgeschwindigkeit. Zweitens: Könnten wir uns mit Lichtgeschwindigkeit fortbewegen, würde für uns die Zeit stillstehen. Drit...“ „Aber dann müssten doch“, unterbrach ihn ein schlaksiger Schüler, der seine fusseligen Haare zu einem kleinen Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, „bei Geschwindigkeiten jenseits der Lichtgeschwindigkeit auch Zeitreisen möglich sein, oder nicht?“ Über Professor Winkeleisens Gesicht huschte ein weiteres Lächeln. „Theoretisch ja“, antwortete er und wandte sich der Tafel zu. „Wobei wir bei Stephen Hawking, dem vielleicht größten Physiker unserer Zeit, gelandet sind.“ Der Sturm hatte an Kraft zugelegt. Heftig rüttelte er an den Fenstern, die auf Nelson nicht den stabilsten Eindruck machten. Sein Lehrer deutete gerade auf die Tafel um fortzufahren, als es einen gewaltigen Schlag tat. Einige Schüler sprangen erschrocken zum Fenster. Doch draußen war bloß eine Leiter umgefallen, die Hausmeister Kunkel im Hof vergessen hatte. „Die bescheidenen Energien, die auf unserer Erde walten“, hob Professor Winkeleisen an, „sind nichts im Vergleich zu jenen Gewalten, die am Rande eines in sich zusammenstürzenden Sterns entfesselt werden. Solche Sterne, die massenhafte Energie aufsaugen, nennen wir bekanntlich Schwarze Löcher. Einstein selbst wollte an die Existenz dieser unheimlichen Gebilde nicht glauben, obwohl sie zwingend aus der allgemeinen Relativitätstheorie hervorgeht, denkt man sie konsequent zu Ende. Erst Stephen Hawking hat uns ein plastisches Bild dieser monströsen Schwarzen Löcher gemalt.“ „Und was haben Schwarze Löcher mit Zeitreisen zu tun?“, fragte der Zopfträger dazwischen. „Üben Sie sich in Geduld, Luk“, erwiderte Professor Winkeleisen, „ich werde Ihren Durst sogleich stillen.“ Er trat hinters Pult und malte einen auf dem Kopf stehenden breitkrempigen Zylinder an die Tafel. „So in etwa könnte ein Schwarzes Loch aussehen. Das Hubble-Weltraumteleskop hat die Existenz solcher Löcher zweifelsfrei nachgewiesen. Aus ihnen kann kein Lichtstrahl entweichen. In ihrem Innern steht die Zeit still.“ Professor Winkeleisen schritt...