Ein Fakten-Guide
E-Book, Deutsch, 295 Seiten
ISBN: 978-3-406-83034-1
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Noch nie mussten wir so viele Menschen ernähren wie heute. Und doch verstehen immer weniger von uns, woher unsere Lebensmittel wirklich kommen, wie unsere Ernährungsgewohnheiten uns prägen und warum dies unseren Planeten auf drastische Weise beeinflusst. Infolgedessen nehmen wir das, was unser Leben erst möglich macht, oftmals als selbstverständlich hin, nämlich Lebensmittel. Und ihre wirtschaftliche Bedeutung wird auf groteske Weise unterschätzt, so dass Smartphones in Statistiken als ökonomisch viel bedeutsamer erscheinen als Lebensmittel. In seinem neuen Buch verfolgt Vaclav Smil die Entwicklung unserer Nahrungsbeschaffung seit den Anfängen unserer Spezies und untersucht die brennenden Fragen, mit denen die Welt heute konfrontiert ist: Warum verschwenden wir so viele Lebensmittel? Wie können wir die Weltbevölkerung ernähren, ohne den Planeten zu zerstören? Was wirkt und was ist bloß weltfremdes Wunschdenken? Warum züchten wir einige Tiere und andere nicht, und warum stammen die meisten Kalorien auf der Welt aus nur wenigen Nahrungsmitteln? Was kann sich ändern, was muss sich ändern, gerade auch angesichts des Klimawandels?
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Einleitung
Das Schwelgen in Untergangsszenarien hat eine lange geschichtliche Tradition, und die bange Frage, wie viele Menschen die Erde ernähren kann, bewegt uns, spätestens seit Thomas Robert Malthus 1798 seinen Essay on the Principle of Population publizierte, in dem er die These aufstellte: «Die Kraft der Bevölkerung ist unendlich größer als die Kraft der Erde, Subsistenzmittel für den Menschen zu produzieren.» Damit war die Befürchtung in die Welt gesetzt, dass die Menschheit schneller anwachse als die verfügbare Nahrung, jedenfalls so lange, bis wachstumshemmende Vorgänge – Hungersnöte, Kriege oder Seuchen – zu einem Bevölkerungsrückgang führen und auf lange Sicht dafür sorgen, dass das Wachstum zum Stillstand kommt. Es verrät jedoch viel über die Rolle schwammig überlieferter Wahrheiten in der Geschichte der Nahrungsmittelproduktion und unseres Wissens darüber, dass selbst Robert Malthus bei genauerem Hinsehen kein «Malthusianer» reinen Wassers war. In der zweiten, 1803 erschienenen Auflage seines Werks schlägt er etwas optimistischere Töne an: «Auch wenn unsere Zukunftsaussichten nicht so rosig sind, wie wir es uns wünschen, sind sie in keinster Weise völlig entmutigend, und es erscheint nicht ausgeschlossen, dass es zu allmählichen und fortschreitenden Verbesserungen bei der Sättigung der Menschheit kommt.» Leider lassen sich Leute, die eine Agenda verkaufen, ungern von Tatsachen beirren. In einer Welt, deren Bevölkerung weiterhin ebenso wächst wie die Sorge um die Umwelt, bleiben Zweifel an der Ernährungssicherheit bestehen, und manche Bedenken klingen ziemlich düster. Der britische Autor und Politik-Aktivist George Monbiot wurde im Mai 2022 im Guardian mit der Aussage zitiert: «Das Welternährungssystem entwickelt so langsam Ähnlichkeiten mit dem globalen Finanzsystem in den Jahren vor 2008. Während ein Zusammenbruch der Finanzmärkte eine Katastrophe für die Wohlfahrt der Menschheit gewesen wäre, hätte ein Kollaps des Ernährungssystems unausdenkliche Folgen. Und doch mehren und verdichten sich die Hinweise darauf, dass etwas fatal schiefläuft, in immer schnellerer Folge.» Das ist nur ein Beispiel aus einer Fülle dubioser Warnungen und regelrechter falscher Behauptungen. Im Laufe des vergangenen Jahrzehnts habe ich mich immer wieder mit Äußerungen herumquälen müssen, die von geringer Vertrautheit oder schierer Ahnungslosigkeit in Bezug auf grundlegende Tatsachen und Zusammenhänge zeugen; die Unwissenheit erstreckt sich auf Organismen ebenso wie auf Maschinen, auf Feldfrüchte ebenso wie auf Motoren, auf Lebensmittel ebenso wie auf Treibstoffe. Sollten Sie sich also Sorgen machen über die globale Ernährungslage? Leben Sie in einer Region, die in den kommenden Jahrzehnten von Hungersnöten bedroht sein wird? Wird die Gesellschaft in die Brüche gehen? Meine kurze Antwort lautet: wahrscheinlich nicht. Eine ausführlichere Antwort, gespeist aus dem Wissen um die Geschichte der Nahrungsmittelerzeugung und um aktuellste wissenschaftliche Erkenntnisse und gestützt auf das Verständnis grundlegender biophysikalischer Gegebenheiten wie der Photosynthese oder einer optimierten menschlichen Ernährung, würde erheblich länger ausfallen – in etwa so lang wie dieses Buch. Wenn Sie nach einer Arbeit über sensationelle Innovationen suchen, die in Bälde die Ernährungsweise der Menschheit revolutionieren werden, sind Sie hier beim falschen Buch gelandet. Sie finden hier gleichsam das Gegenteil: Argumente für die Wirkmacht schrittweiser Veränderungen, «Kleinigkeiten» der Art, wie sie von den Medien und den Autoren populärwissenschaftlicher Sachbücher oft zugunsten unrealistischer Verheißungen ignoriert werden. Ich sehe im Übrigen auch keine Notwendigkeit für exaltierte und irreführende Behauptungen, wenn die Analyse realer und aktueller Zahlen doch schon genug wissenswerte und sensationelle Ergebnisse produziert. Ein Beispiel: Die weltweite Nahrungsmittelerzeugung liegt heute bei durchschnittlich rund 3000 kcal pro Person und Tag; der tägliche Verlust durch Verderb und Vergeudung liegt bei rund 1000 kcal pro Person. Aber niemand scheint das dringende Bedürfnis zu haben, daran etwas zu ändern. Wenn Sie ständig ein Drittel Ihres Einkommens durch Schwund verlören, würden Sie sicher versuchen, etwas dagegen zu tun. Dieses Buch beschäftigt sich mit solchen Realitäten. Warum haben wir nur so eine vergleichsweise geringe Zahl von Pflanzen und Tieren für unsere Nahrungserzeugung domestiziert? Wenn unsere Ur-Vorfahren schon im Besitz der wissenschaftlichen Erkenntnisse gewesen wären, die uns heute zur Verfügung stehen, hätten sie dann nicht einen anderen Weg gewählt? Was erzählen uns die besten verfügbaren Studien über die neuesten Diätmoden, von Keto bis zum Verzicht auf hochgradig verarbeitete Lebensmittel? Wird die Menschheit im Jahr 2050 ihre Viehbestände in die Freiheit entlassen haben und in einem techno-veganen Schlaraffia leben, mit pflanzenbasierten oder laborgezüchteten Fleischersatz-Produkten als Garanten eines Daseins ohne Schuldgefühle? Ich gehöre durchaus zu denen, die eine Reduzierung unseres Fleischverzehrs befürworten – ein Drittel der weltweiten (und zwei Drittel der US-amerikanischen) Ackerbauprodukte wird an Nutztiere verfüttert –, aber wenn das dazu führt, dass zum Beispiel mehr Obst und Nüsse gegessen werden, könnte es sein, dass das für die Umwelt kein bisschen besser ist. Und dann gibt es ja noch die Bio-Landwirtschaft. Ist sie das Allheilmittel? In früheren Jahrhunderten, in denen dank der damals zu Gebote stehenden Technik die gesamte landwirtschaftliche Produktion zwangsläufig «biologisch» war, arbeiteten in der Regel 80 Prozent aller Menschen im Ackerbau, viele verrichteten eher wenig betörende Tätigkeiten wie das Einsammeln von Exkrementen, die sich als Dünger nutzen ließen. Heute widmen sich in wohlhabenden Ländern höchstens noch 1 bis 3 Prozent der Bevölkerung der Nahrungsmittelerzeugung. Würde es Ihnen Spaß machen, Tierdung einzusammeln? Was noch schwerer wiegt, ist, dass nicht einmal mehr der Glaube an die fundamentale Bedeutung der Landwirtschaft für den Fortbestand der Menschheit unumstritten ist. Hat der Siegeszug des Ackerbaus den Höhenflug des Menschen erst möglich gemacht, oder war er, wie es neuerdings viele Autoren populärwissenschaftlicher Sachbücher wahrhaben wollen, die größte Katastrophe der Menschheitsgeschichte? Wir werden in diesem Buch die Alternativen auf die Goldwaage legen. Dieses Buch markiert den Anbruch des fünften Jahrzehnts meiner Beschäftigung mit Lebensmitteln und Ernährung. Es begann in den späten 1970er Jahren mit Recherchen für ein thematisch enger gefasstes Buch: die erste ausführlichere energetische Analyse der wichtigsten amerikanischen Ackerfrucht Mais (das Buch erschien 1982). Fünf weitere Bücher, die in den 1980er Jahren erschienenen, enthielten Passagen oder Kapitel, in denen es um Getreide und andere Lebensmittel ging. Das erste meiner Bücher, in dem ich mich ausschließlich mit den vielen Aspekten der Ernährung befasste, erschien im Jahr 2000: Feeding the World deckte ein Themenspektrum ab, das von der Photosynthese über Ernteerträge bis zu Viehhaltung und Ernährungsweisen reichte. Unmittelbar danach folgte 2001 Enriching the Earth, ein erschöpfendes Porträt des wichtigsten Bausteins der modernen Landwirtschaft, des Ammoniaks, der, wie wir an späterer Stelle sehen werden, als unverzichtbare Zutat in die Erzeugung aller stickstoffbasierten Düngemittel eingeht. In dreien meiner während des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts erschienenen Bücher ging es um Ernährungsthemen: Japan’s Dietary Transition and Its Impacts (mit Kazuhiko Kobayashi), Harvesting the Biosphere und Should We Eat Meat? Ab 2014 habe ich Bücher über andere Themen veröffentlicht: Stahl, Öl, Erdgas, Energieumwandlungen, Energie und Zivilisation, Wachstum und Größe, wobei Wie die Welt wirklich funktioniert (2022) ein Kapitel über Nahrungsmittelproduktion enthält. Wie man sieht, ist Ernährung ein Thema, das mich nicht loslässt. Landwirtschaft und Ernährung sind Gegenstände von enormer empirischer und intellektueller Reichweite, weshalb man sich als Autor, der seinen Lesern einen einigermaßen breiten Überblick verschaffen möchte, innerhalb...