E-Book, Deutsch, Band 3, 350 Seiten
Reihe: Hannah Richter
Åslund Verhängnisvolle Provence
19001. Auflage 2019
ISBN: 978-3-95819-285-0
Verlag: Ullstein Midnight
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 3, 350 Seiten
Reihe: Hannah Richter
ISBN: 978-3-95819-285-0
Verlag: Ullstein Midnight
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sandra Åslund, geboren 1976, ist am Niederrhein nahe der holländischen Grenze aufgewachsen. Sie hat ein Fernstudium in kreativem Schreiben an der Textmanufaktur absolviert und ist Mitglied beim »Syndikat« sowie bei den »Mörderischen Schwestern«. Durch ihren schwedischen Mann verbrachte die Autorin ab 2010 viel Zeit im Norden, sowohl in Stockholm als auch in Småland, lebte in Berlin und Schweden. Im März 2020 zog sie mit der Familie komplett nach Småland. In ihren Kriminalromanen verwebt die Autorin das skandinavische Flair und die schwedische Mentalität mit aktuellen umweltpolitischen Themen.
Autoren/Hrsg.
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2. Kapitel
Dienstag, 3. Mai 2016
Fabienne Aureliens Hände zitterten, als sie die Tür ihres Peugeot öffnete. Sie setzte sich in den Wagen und schloss die Augen. Die Vorstellung, wie jeden Morgen zur Arbeit zu fahren, Proben zu untersuchen, Testergebnisse zu dokumentieren, Rezepturen zu überarbeiten, als wäre nichts vorgefallen, war unerträglich. Am liebsten hätte sie sich krankgemeldet. Doch das hätte Verdacht erregen können. Auf keinen Fall durfte jemand erfahren, was Yannick und sie … Yannick – ’ – was war nur während seines Aufenthalts in Köln geschehen?
Gestern Abend hatte Joëlle Descalis kurz vor Dienstschluss das Labor betreten, mit einem Gesichtsausdruck, den Fabienne noch nie an ihrer jungen Chefin gesehen hatte. Verständnislos, verstört, versteinert. Die Tochter der Firmengründer und Leiterin der Abteilung für Produktentwicklung und Forschung hatte alle gebeten, in die obere Etage zu kommen. Sie hatte sich in die Mitte des Raumes gestellt, sich geräuspert und mit ungewohnt brüchiger Stimme gesagt: »Messieurs dames, wenn ich für einen Moment um Ihre, um eure Aufmerksamkeit bitten darf. Ich habe – es ist etwas Furchtbares passiert.« In knappen Sätzen schilderte sie, was mit ihrem Kollegen Yannick Ramon in Köln geschehen war.
Alle Anwesenden standen unter Schock. An Arbeit war an diesem Abend nicht mehr zu denken gewesen. Mechanisch hatte Fabienne ihren Platz aufgeräumt und das ehemalige Weingut, auf dem seit zwanzig Jahren unter dem Label »COSVINECO Beauté« hochwertige Naturkosmetik hergestellt wurde, verlassen.
Seither war es ihr nicht gelungen, sich auf irgendetwas zu konzentrieren. Wieder und wieder spulte sie ab, was Yannick vor seiner Abreise zu ihr gesagt hatte: »Bei mir laufen die Fäden zusammen. Ich werde sehen, was ich in Köln erreichen kann. Pass auf dich auf, und vertraue niemandem.«
Das waren seine letzten persönlichen Worte an sie gewesen, ehe er sich verabschiedet hatte. Eine Dienstreise, bloß ein paar Tage. Und überhaupt die Gelegenheit schlechthin, mehr herauszufinden über diese Sache. Diese ungeheuerliche Sache. Deren Dimensionen Fabienne erst jetzt zu begreifen begann.
Mit kaltem, hartem Griff umklammerte die Angst ihr Herz. Wo würde das alles enden, nach dem, was Yannick widerfahren war? Fabienne fühlte sich ungewohnt schutzlos, sie verspürte den Drang, ins Haus zurückzukehren, sich ins Bett zu legen und die Decke über den Kopf zu ziehen. Aber das durfte sie nicht. Sie musste den Schein wahren.
Ein Blick auf die Uhr signalisierte ihr, dass sie allmählich losfahren musste, falls sie nicht zu spät kommen wollte. Wenn sie nur wüsste, wen Yannick gemeint hatte, als er zu ihr gesagt hatte: »Ich darf den Namen nicht nennen, es ist zu eurer Sicherheit – nur so viel: Außer uns beiden gibt es eine dritte Person, die Bescheid weiß.«
Nachdem sie die und zwei weitere Wälder durchquert hatten, steuerte Serge seine Red Lady von der genannten A6 auf die A77, die ’ . Wann immer es möglich war, wählte er diese Strecke, denn das vom ehemaligen Finanzminister Pierre Bérégovoy initiierte Projekt stellte eine ökologische wie ästhetische Ausnahme im Straßenverkehr dar. Ursprünglich sollte die Autobahn lediglich die schnellstmögliche Verbindung zwischen Paris und Lyon bieten. In der Entwicklungsphase stießen die Ingenieure jedoch auf eine Landschaft mit einer enormen Artenvielfalt an Bäumen. Von diesem Reichtum der Natur inspiriert, trafen sie eine kühne Entscheidung: Die gesamte geplante Strecke entlang wurden Bäume gepflanzt. Das Resultat hatte alle überzeugt – ein entspannteres Reisen, da die negativen Aspekte wie Lärm, Luftverschmutzung und so manche Landschaftsverschandelung von den Bäumen geschluckt wurden. Wie bei jeder Fahrt fragte sich Serge auch dieses Mal, warum man den positiven Effekt nicht längst auf andere Routen übertragen hatte.
Wattewölkchen und Sonnenschein verbreiteten eine heitere Stimmung, und zu den Klängen von Matia Bazars summte er leise vor sich hin. Endlich mal wieder eine richtige Tour mit seinem geliebten granadaroten VW 1600 TL. Noch dazu in die Gegend seiner Kindheit. Es war lange her, dass er im Frühling dort gewesen war. Er freute sich auf die nach dem Winter erwachte Natur, die blühenden Obst- und Mandelbäume und das satte Grün der Felder und Wiesen. Für ihn war es die schönste Jahreszeit in der Provence, denn da zeigte sie sich von ihrer urtümlichen Seite, ehe mit Beginn der Sommermonate alles von Touristen überschwemmt wurde.
Ebenso sehr freute sich Serge auf ein Wiedersehen mit Penelope und seinem alten Freund Anatole. Dass dieser eigenbrötlerische Kerl Vater werden würde, hatte ihn überrascht. Wenn er daran zurückdachte, wie Anatole bis vor wenigen Jahren auf dem einst florierenden Weingut seiner Eltern in den Tag hinein gelebt hatte – den Weinbau hatte er lediglich zur eigenen Verköstigung und der seiner Nachbarn und Freunde betrieben, und auch sonst hatte er Verpflichtungen auf das unbedingt Notwendige begrenzt. Inzwischen war das Weingut zu neuem Leben erwacht, Anatole führte ein Restaurant und würde bald Familienvater sein. Und das alles dank Penelope? Oder hatten diese Dinge schon von vornherein in seinem Freund geschlummert und nur darauf gewartet, aufgeweckt zu werden? Wie Samenkörner, die über Jahre, Jahrzehnte in der Erde ruhten, um dann eines Tages, wenn die Umstände günstig waren, zu keimen.
Erwartete ihn ebenfalls eine Veränderung? Und war Hannah diejenige welche? Konnte er sich eine Familie mit ihr vorstellen? Ihr Job spielte für sie eine wichtige Rolle, das wusste er. Ob sie da zurückstecken könnte, und sei es bloß für eine gewisse Zeit?
An Störungen, wie sie gerade ihre gemeinsamen Pariser Tage durchkreuzt hatten, war Serge mittlerweile gewöhnt. Hannahs Arbeitsalltag bei der Kölner Kripo unterschied sich nun einmal eklatant von seinem. Besonders nachdem er den Sprung in die Freiberuflichkeit gewagt hatte.
Serge hatte den Schritt, seine Stelle als Professor für Musikwissenschaft an der Sorbonne aufzugeben, nie bereut. Durch Yvettes Tod waren die Stützpfeiler seiner Existenz ins Wanken geraten, und während seines Aufenthalts in Vaison, bei dem er Hannah begegnet war, hatte er vieles in seinem Leben hinterfragt. Nach seiner Rückkehr nach Paris hatte er die Konsequenzen aus dieser Auszeit gezogen. Seine Festanstellung hatte er in eine Gastprofessur umgewandelt. Inzwischen hielt er regelmäßig Vorträge bei seinem ehemaligen Arbeitgeber, und seine Wochenend-Seminare waren bei den Studenten derart beliebt, dass er das Angebot ständig erweitern musste. Daneben schrieb Serge Artikel für verschiedene Musikmagazine und hatte eine monatliche Radiosendung bei France Culture, die bei Liebhabern klassischer Musik mittlerweile Kultstatus erreicht hatte. Seine Freiberuflichkeit hatte sich auf einem auskömmlichen Niveau eingependelt.
Aber würden Hannah und er ihre derzeitige Beziehungsform in ein funktionierendes Familienleben umwandeln können? Bisher hatten sie das Thema Kinder lediglich hier und da gestreift, unverfänglich und unkonkret. Er kannte ihre Vorgeschichte, sie wusste umgekehrt, dass es damals bei Yvette und ihm mit dem Kinderwunsch nicht geklappt hatte. Was gewiss besser so war, denn er hatte sich seine ehemalige Frau im Grunde nie als Mutter vorstellen können. Wieder einmal fragte er sich, warum er Yvette geheiratet hatte. Warum entschied man sich für einen bestimmten Menschen und damit gegen so viele andere? Was waren die auslösenden Faktoren?
Serge warf einen Blick auf die hochgewachsene blonde Frau neben sich auf dem Beifahrersitz. Seit sie Paris verlassen hatten, telefonierte Hannah fast ununterbrochen. Erst mit ihrem Chef, anschließend mit ihrem Kollegen Michael.
»Alles klar, Michael, danke fürs Update«, sagte sie gerade. »Ich melde mich dann aus der Provence. Falls sich vorher nichts Gravierendes bei euch ergibt.« Sie legte das Handy in ihren Schoß und strich sich die Haare zurück.
»Irgendwelche neuen Informationen zum Mordfall?«
»Yannick Ramon ist am vergangenen Donnerstag nach Köln gekommen. Gestern wollte er wieder abreisen. Er hat im Art’otel am Rheinauhafen gewohnt. Das Personal dort hat ihn als ruhigen und unauffälligen Gast beschrieben.« Hannah kramte in der Tasche zwischen ihren Beinen und zog eine Wasserflasche hervor. »Auch einen Schluck?«
»Gern.« Serge nahm die geöffnete Flasche entgegen.
»Michael meinte, auf den ersten Blick würde sich unter den Sachen aus seinem Zimmer nichts Ungewöhnliches befinden. Allerdings haben sie vergeblich nach einem Laptop Ausschau gehalten. Fraglich ist also, ob er den bei sich getragen hat, als er getötet wurde.«
»Was irgendwie seltsam wäre, mitten in der Nacht, ?« Er reichte ihr die Wasserflasche zurück.
Hannah trank ebenfalls, dann verstaute sie die Flasche wieder. »Irgendwelche Gründe gäbe es sicher auch...