Slawnikowa | 2017 | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 460 Seiten

Slawnikowa 2017


1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-95757-374-2
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 460 Seiten

ISBN: 978-3-95757-374-2
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Sommer 2017. Russland vor dem Beginn der Feierlichkeiten zum hundertsten Jahrestag der Oktoberrevolution. Der einzelgängerische Edelsteinschleifer Krylow begleitet seinen Arbeitgeber, den zynischen Professor Anfilogow, zum Bahnhof. Während Anfigolow zu einer seiner riskanten Expeditionen aufbricht, die ihn in die menschenleere Natur der nördlichen Bergwelt führen wird, beginnt Krylow eine Affäre mit einer geheimnisvollen Unbekannten. Schon bald taucht ein Spion auf, der das Paar bei allen Treffen beobachtet. Krylow verstrickt sich immer weiter in eine Welt der Korruption, des unermesslichen Reichtums und allgegenwärtiger illegaler Geschäft. Als bei den Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag der Revolution der Bürgerkrieg zwischen Rot- und Weißgardisten nachgestellt wird, gerät plötzlich alles außer Kontrolle: Spiel und Wirklichkeit lassen sich nicht mehr unterscheiden. Mit diesem barocken Thriller aus einer Welt, in der das Politische durch totalen Konsum, Spektakel und Propaganda ersetzt wurde, ist Olga Slawnikowa eine beißende Satire gelungen, die bereits in viele Sprachen übersetzt wurde. 2017 ist ein hochaktueller Gegenwartsroman, der ganz in der Tradition der großen russischen Literatur steht.

Olga Slawnikowa, geboren 1957 in Swerdlowsk (Jekaterinbrug), ist eine russische Journalistin und Schrifstellerin. Seit 1988 publiziert sie Prosatexte. Ihr Roman Eine Libelle in Hundegröße war 1996 für den russischen Booker Preis nominiert, den sie 2006 für ihre Dystopie 2017 erhielt. Seit 2001 ist sie Koordinatorin des russischen Literaturpreises Debüt, der den literarischen Nachwuchs Russlands fördert. Sie veröffentlichte zahlreich Romane, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden.

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3 Tanja und Iwan trafen immer nur eine einzige Verabredung: Würden sie sich dabei verpassen, wäre jede Möglichkeit, sich wiederzusehen, einander ohne Hilfe Dritter in der Viermillionenstadt wiederzufinden, verspielt. Weil der grenzenlose Sommer so unerträglich kurz war, empfand Iwan jedes Treffen schon am Morgen danach als Verlust. Die ganz normale Tatsache, dass das, was gestern war, nicht wiederkehrt, dass es hinter uns liegt, bekam jetzt eine schmerzhaft wörtliche Bedeutung für ihn. Vermutlich deshalb fing er an, jede Begegnung zu einer Erinnerung zu verarbeiten, und allmählich kam ein Vorrat von Episoden zusammen, die ihm in den Stunden der Einsamkeit das Herz zerrissen. Doch es gab einen wichtigen Grund, weshalb Tanja und Iwan weder Adressen noch Telefonnummern austauschten (andere Kommunikationsmittel, E-Mails zum Beispiel, waren gleichfalls verboten): Mit jeder Verabredung stellten sie einander auf die Probe, oder eigentlich nicht so sehr einander – beiden war klar, dass sie gegen die äußeren Umstände wenig ausrichten konnten und dass ihr Bestreben im Grunde kaum ins Gewicht fiel –, sondern vielmehr das Schicksal. Wenn sie, sei es in sich selbst oder um sie herum, wenigstens irgendeinen Grund für das hätten finden können, was mit ihnen geschah! Dann wäre zumindest klar gewesen, ob das alles genauso abrupt und gewaltsam wieder verschwinden konnte, wie es begonnen hatte. Fürs Erste aber brauchten sie die tägliche Sanktion durch das Schicksal. Anfangs trafen sie sich immer am selben Ort: vor der Oper, einem der wenigen Objekte in ihrer Stahlbetonstadt, auf dem, in Gestalt von Stuckmedaillons und -girlanden, ein Firnis von Schönheit lag, auch wenn der klobige Bau seiner Form nach einem Bulldozer glich. Der runde Brunnen davor war der Treffpunkt der Jugend. Pärchen küssten sich zur Begrüßung im Wasserstaub und gingen ihrer Wege, auf den geschwungenen Parkbänken nebenan präsentierten sich gelangweilte studentische Heiratskandidatinnen: jede ein wippendes Buch auf dem gebräunten Knie, jede zweite eine modische Sonnenbrille im Gesicht, deren Gläser wie mit Rote-Bete-Saft gefüllt schienen. Doch bald waren Iwan und Tanja des banalen Ortes überdrüssig; zudem störte der immergleiche Platz, zusammen mit der vorhersehbaren Stunde am Nachmittag, zu der sie sich endlich von der Arbeit loseisen konnten, die Reinheit des Experiments. Damals war es, dass sie sich zwei Exemplare desselben Stadtatlas kauften: auf dem Umschlag wiederum das Operntheater, angestrahlt von vier Reihen kleiner weißer Scheinwerfer, innen die neuesten Informationen zum städtischen Nahverkehr und ein U-Bahn-Plan, der an ein kompliziertes organisches Molekül erinnerte. Ihre Rendezvous legten sie von da an so fest: Iwan nannte irgendeine Straße aus dem alphabetischen Verzeichnis am Ende – die erstaunlich lange Liste bestand zur Hälfte aus den blutleeren Namen obskurer Revolutionäre, was ein Gefühl erzeugte, als führen sie irgendwelche angetrunkenen proletarischen Verwandten besuchen –, und Tanja ergänzte die Hausnummer, indem sie aufs Geratewohl irgendeine Zahl sagte; beim nächsten Mal machten sie es umgekehrt. Die Stadt wurde ihr Orakel. Keiner von beiden wusste im Voraus, was für ein Gebäude es sein würde, das sie wie ein Los aus der Lottotrommel zogen. Der irrationale Charakter des Ganzen wurde dadurch verstärkt, dass die Karten seit der Sowjetzeit verfälscht waren: Die Proportionen der Industriestadt hatten strenger Geheimhaltung unterlegen, und die Verzerrungen, die das hervorbrachte, schienen sich gleich den Folgen einer Kinderlähmung auch auf die Struktur der realen Stadt auszuwirken; die Straßen schlugen seltsame Haken, und die schwerfälligen Trolleybusse mussten unwahrscheinliche Schlängellinien fahren, so dass die Hörner von den Leitungen sprangen. Dass ihre Treffen geheim waren, verschärfte die Lage; auf diese Weise kam es tatsächlich dem Schicksal zu, auf die Teilnehmer des Experiments achtzugeben und dafür zu sorgen, dass ihnen die Möglichkeit, sich für ein paar Stunden in irgendeiner mitleiderregend zerbrechlichen Streichholzschachtel einzuschließen, erhalten blieb. Das Schicksal trat damit in einen Kampf gegen das Umfeld ein. Das Umfeld seinerseits schien es darauf anzulegen, Tanja und Iwan statt der wahrscheinlichsten Variante – dem mehrstöckigen Wohnhaus – ausschließlich die gnadenlosesten zu präsentieren. Einmal entpuppte sich die gezogene Hausnummer als nagelneue Villa, die auf einem nackten, heißen Grundstück stand und von einem Gitterzaun ins Quadrat genommen wurde wie ein Zoo-Elefant von seinem Käfig; während Iwan sich vor dem Haus herumdrückte und vergeblich versuchte, zwischen den jungen Pappeln im Lolliformat Deckung zu finden, kam der misstrauisch gewordene Wachmann zweimal aus dem Büdchen, um seine Papiere zu kontrollieren. Ein paar Tage später führte der Zufall Iwan zu einer vollkommen dörflichen Straße – genauer gesagt, zum abgehackten Rest dieser Straße, die in einer gewaltigen Baugrube endete; zerknautschte Traubenkirschbüsche waren dort hineingekippt, ihr Laub versank im Lehm. Das gesuchte Haus, eine in schmutzigem Rosa gestrichene Bretterbude mit zwei ungleichen Veranden, hielt sich eben noch am Rand des Abgrunds, wo die Erde sich schon umbog und abfiel wie eine über den Bettrand hängende zerschlissene Matratze. Hinter dem auseinandergezogenen Akkordeonbalg eines feuchtschwarzen Zauns schnaufte kettenklirrend ein nasser Hund; aus dem nächstgelegenen morschen Fenster sah in regelmäßigen Abständen ein missmutiges Frauengesicht nach Iwan. Offensichtlich versetzte der Fremde, der vor dem Haus herumlungerte und keine Anstalten machte, wieder zu gehen, die Bewohner in Unruhe, denn nach kurzer Zeit nahm auf einer der Veranden ein Verbrechertyp mit nacktem Oberkörper Platz, der Iwan unverwandt anstarrte. Das an dem Kerl herabhängende Fett und sein massiver, mit schwarzen Borsten und seltsam weißen, kahlen Flecken überzogener Schädel machten einen noch unangenehmeren Eindruck auf Iwan als die Eisenstange, die er in seinen Pranken spielen ließ. Abenteuer waren auf ihren Wanderungen durch die Industriegebiete nicht nur möglich, sondern sehr wahrscheinlich. Vor finsteren, wie Gefängniszellen vergitterten Spirituosenläden saß auf Kisten die örtliche Jugend herum, die hier ihre Freizeit verbrachte. Die Mädchen – Froschgesichter, kräftige rosa Knie – waren exakt wie die, mit denen Krylow in seiner proletarischen Kindheit befreundet gewesen war. Mit Tanzstunden brauchte man ihnen nicht zu kommen, doch in ihrer physischen Existenz lag eine wortlose Unanfechtbarkeit – jede von ihnen hatte, anders als die jungen Damen aus gebildetem Hause, ein naturgegebenes Recht darauf, einen der zukünftigen Männer in Beschlag zu nehmen. Was die Jungs anging, so konnten sie mit der Truppe, in der vor zwanzig Jahren Krylow das Sagen gehabt hatte, nicht mithalten: Ihre Dreistigkeit war von Angst durchzogen; die Arbeiter-Jungmännchen wollten dekorativer aussehen als die Weibchen, das gefärbte Haar auf ihren Köpfen erinnerte an Meerestiere, Oktopusse oder Seeanemonen. Aggressiv waren sie trotzdem: Krylow war sich bewusst, dass er aufgrund des Altersunterschieds in ihren Augen so gut wie tot war. Wenn er an einem ihrer Treffpunkte vorbeikam, vermied er angestrengt jede Reaktion auf ihre schweren, nie höher als anderthalb Meter steigenden Blicke, die seine Kleider, seine Tasche, seine Uhr abtasteten. Es war ein reines Wunder, dass er nur einmal in Schwierigkeiten kam. Die Meute schickte ihm ihren Clown vom Dienst entgegen, ein kleines Bürschlein mit dünnen Armen, um die die T-Shirt-Ärmel flatterten wie rote Fahnen. Er war nicht für die Prügelei zuständig, sondern für die Show; mit aufgehaltener Hand tänzelte er nuschelnd vor Krylow herum, mimte den Bettler aus Mittelasien. Krylow war es unangenehm, einen wie ihn zu schlagen, aber zu seiner Linken erhoben sich schon träge die übrigen Kämpfer. Sie ließen sich Zeit, er dagegen konnte nicht auf sie warten. Er führte einen heftigen Schlag gegen den Kleinen, doch der wich aus – es war, als gähnte in seinem Wesen ein riesiges Loch und als sei genau darin Krylows nicht eben große Faust gelandet. Weiter vorn sah er eine schmale, dornige Allee, sie lief auf eine Wand voller Monstergraffiti zu. Doch so weit kam er nicht. Die ersten, die an seinen Schultern hingen, streifte er ab wie einen Mantel, die nächsten ließen sich schon schwerer abschütteln; grobe Hände fuhren in seine Taschen und rissen sie mitsamt dem Futter heraus. Ihm war, als sei ein Glas roter Farbe auf seinem Kopf zu Bruch gegangen; er schlug zu, traf jemanden, traf noch einmal, schlug daneben, fand sich plötzlich auf dem Boden wieder und sah aus geschwollenem Auge graue und schwarze Turnschuhe auseinanderstieben – Tauben auf einer Müllhalde. Ruckweise schwang er sich hoch, wie ein Bergsteiger auf einen Felsen, kam auf die Füße, und aus dem Abend vor seinen Augen wurde blitzschnell Nacht. Als es wieder tagte, sah er Tanja – zerzaust,...


Olga Slawnikowa, geboren 1957 in Swerdlowsk (Jekaterinbrug), ist eine russische Journalistin und Schrifstellerin. Seit 1988 publiziert sie Prosatexte. Ihr Roman Eine Libelle in Hundegröße war 1996 für den russischen Booker Preis nominiert, den sie 2006 für ihre Dystopie 2017 erhielt. Seit 2001 ist sie Koordinatorin des russischen Literaturpreises Debüt, der den literarischen Nachwuchs Russlands fördert. Sie veröffentlichte zahlreich Romane, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden.



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