Roman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-293-31003-2
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Keine Schmerzen
Ein Schalter wurde geknipst und Neonröhren sirrten. Ich erwachte in der Einstellhalle, eingebettet zwischen Fahrrädern und Mopeds (die wahrscheinlich irgendwelchen Sekundanerinnen gehörten, die nach Wochenschluss von treulosen Jungs vom Segelclub abgeholt und auf einer Thunerseejacht abgefüllt worden waren). Es war Montag, nun ging der Reigen wieder los. Ich sah den Hauswart das Tor zur Einfahrt der Einstellhalle aufschließen. Er trug knittrige, orangefarbene Überhosen, ein weißes Unterhemd und schleifte einen Besen hinter sich her. Mit einem grimmigen Sieben-Uhr-Gesicht begann er, Mäusegift in die Ecken zu streuen. Ich freute mich, den Hauswart zu sehen. Wir hegten füreinander eine Art kameradschaftlichen Respekt, obwohl wir uns als Menschen nicht weniger hätten ähneln können: Er war breitnackig und tätowiert, ich lang und schmal, er soff, ich kiffte, er hatte eine Berufsehre, die weit über die Bekriegung von Staub und verstopften Abflüssen hinausging, ich war geschult darin, jeglicher Art von Verantwortung aus dem Weg zu gehen. Unsere Gemeinsamkeiten waren eine gelegentliche Partie Backgammon in seiner Wohnung am Obermattweg in Gwatt und die Tatsache, dass wir beide zum Würfel gehörten wie das Zähringer-Schloss zu Thun. Der Boden war übersät mit den Überresten meiner Tüten. Ich hatte in den vergangenen dreißig Stunden zwei oder drei Dutzend Tüten verbrannt, genug, um eine Herde Elefanten kirre zu machen. Ich hob die Stummel auf und zerblies die Asche. Dann nahm ich lautlos ein Fahrrad aus dem Ständer. »Aha, der Gymnasiastenschreck!«, rief ich durch die Einstellhalle und schob das Rad lärmend zurück, um dem Hauswart den unmissverständlichen Eindruck eines soeben eingetrudelten, unbescholtenen Gymnasiasten zu vermitteln. »Auf wen haben wirs denn heute abgesehen?« Der Hauswart wandte sich überrascht um. Sein Gesicht hellte sich auf. »Willst du wissen, was ich von Mäusen halte?« Er trottete auf mich zu. Gleich würden wir ein geselliges Gespräch anfangen, der Hauswart würde sich über schmarotzende Kleinsäuger und klebrige Ölflecken auslassen, ich würde ein Wort des Einverständnisses beisteuern, dann würde er mir einen unzimperlichen Klaps auf den Hinterkopf verpassen, und jeder würde sich wieder um seine eigenen Angelegenheiten kümmern. »Ich streue Gift, und sie fressens ratzeputz auf. Am Morgen ist alles weg, aber kein abgemurkstes Mäuschen irgendwo. Eine verdammt immune Bande.« Ich hatte die Hände voller Tütenstummel, und als ich dem starken Mann einen Ach-erzählen-Sie-mir-nichts-von-Mäusen-Wink hinübersenden wollte, fielen die Stummel herunter wie Papierschnitzel. »Ich werde Fallen aufstellen müssen.« Der Hauswart blieb vor mir stehen und verschraubte die Dose Mäusetod. »Ich werde in einem Winkel lauern. Wenn ich eine Falle zuschnappen höre, stelle ich gleich eine neue hin. Ich bring die Mäuse alle um, alle, die da sind.« »Lassen Sie sich nicht aufhalten. Tun Sies jetzt.« Ich versuchte, auf möglichst viele Stummel gleichzeitig zu treten. Er verstaute das Gift in seiner Überhose. Dann sah er mich an und fragte, als hätte er mich erst jetzt bemerkt: »Franz, was zum Teufel tust du so früh im Würfel?« Ich zögerte. »Muss noch lernen.« Dann vage: »Ein Test.« Seine Stirn runzelte sich. Sein Blick wanderte an mir herunter und verharrte bei meinen Schuhsohlen und den Stummeln, die darunter hervorquollen. Ich versuchte es mit einem Trick und schüttelte den Kopf. »Ist das zu glauben? Da raucht einer tatsächlich Gras.« Ich hob einen Stummel auf, zog ihn an der Nase vorbei und kratzte mich an verschiedenen Haaransätzen, als würde ich darüber nachgrübeln, wer sich in dieser schamlosen Art über die Hausordnung hinwegzusetzen wagte. »Kein Wunder, legen Sie sich auf die Lauer. Mäuse, Schmieröl, Erkältungen, Haschisch. Manche schleppen alles rein.« Es funktionierte nicht. Der Hauswart sah mir schwer in die Augen. »Sag mal, Franz, immer wenn ich dich sehe …« Dann wolle ich mal los, sagte ich schnell und machte einen Schritt Richtung Treppe, aber er legte seine kräftige Pranke auf meine Schulter und drehte mich um. »Immer wenn ich dich sehe, hast du einen Joint in den Fingern.« Ich überlegte nicht lange. »Regen Sie sich ab. Immer wenn ich Sie sehe, rieche ich Schnaps.« Er hörte das nicht gern. An einem anderen Tag wäre er rot angelaufen und hätte mich gewarnt, ich solle nicht so leichtfertig meine Bildung mit Rauch riskieren. Oder er hätte mir den Besen über den Hintern gezogen, Kameradschaft hin oder her. An diesem Morgen tat er nichts dergleichen, und das war einen Moment lang eine ganz nette Abwechslung. »Bei mir gehört das zum Job«, sagte er schlau. »Meinen Körper rein halten von Bakterien und Staub. Ich nenne es Desinfektion.« Sein Griff festigte sich. »Franz, was ist für dich die Höhe menschlichen Glücks? In einem verdammten Keller sitzen und dich vergiften?« »Ich mach das ganz gern.« »Es gefällt mir nicht.« »Ich räums weg.« »Ich meine nicht die Schweinerei am Boden.« Seine Stimme klang gereizt, wie immer, wenn er noch wenig getrunken hatte. »Dieser Dreck, den du in dich reinpumpst, was glaubst du, richtet der in dir an?« »Nichts.« Wenn Haschisch tatsächlich so schädlich war, wie der Hauswart zu wissen meinte, hätte ich längst als Häufchen Asche in eine Urne gepackt auf dem Wohnzimmerschrank meiner Eltern stehen müssen. »Nichts?« »Ein behagliches Bad in Geräuschen und Gewürzen und in zwei riesigen Sträußen Sonnenblumen, vielleicht.« »Flachskopf. Es verdirbt mir die Laune, Backgammon gegen einen Flachskopf zu spielen.« »Jetzt hören Sie mir mal gut zu, ich vergesse immer, wie Sie heißen …« Natürlich kannte ich seinen Namen: Eryilmaz. Hüseyin Eryilmaz. Ich blinzelte ihm in die rotgeäderten Augen. »Warum haben Sie keinen Namen, den man sich merken kann?« Eryilmaz verzog keine Miene. Er war ein Dickschädel, ohne einen Funken Humor. Ich steckte ausweglos fest, tat instinktiv das Falsche und zündete den Stummel an, den ich aufgehoben und in meiner Hand gewiegt hatte. Ich war nie durch sonderlich kluge Entscheidungen aufgefallen, und diese war eine davon. »Dein Hirn ist nicht das, was es sein sollte, Franz.« Eryilmaz packte mich am Handgelenk. »So wies aussieht, spielt dein Hirn ein Doppel mit deinem Darm. Es produziert nur Scheiße.« Ich versuchte mich zu befreien, aber es gelang mir nicht. Es wäre der richtige Moment gewesen, um zu sagen: »In Ordnung, Eryilmaz, Sie haben gewonnen. Ich gebe das Kiffen auf. Keine Schmerzen.« Aber ich knurrte: »Etwas zu vereinfachen ist leicht, Besenmann. Man schneidet rechts und links großzügig weg und übermalt den Rest mit Leuchtfarbe. Himmel Arsch, meinen Sie, sich im Heizungskeller mit Schnaps zu betrinken sei nobler?« Seine Augen schlossen sich bis auf einen Spalt. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren legte er die Hand, die den glühenden Stummel hielt, auf den Sattel eines Fahrrads, und begann, mit dem Besenstiel auf sie einzuhämmern. Mit dem Besenstiel. Er drosch, bis ich den Stummel fallen ließ, dann ließ er los und zertrat die Glut am Boden. Ich hatte das Gefühl, eine ganze Menge Dinge falsch gemacht zu haben und vermied es, Eryilmaz anzusehen. Einen Augenblick später begann sich die Einstellhalle mit Terzianerinnen und Terzianern, Rädern und Geplapper zu füllen. Die Terzis kamen immer als erste, und immer in Dreier- oder Vierergruppen, weil sie einander noch vor der Geografiestunde erzählt haben mussten, was sie alles am Wochenende zum ersten Mal gemacht hatten. (Zum ersten Mal einem Drehorgelspieler am Bahnhof mit Kleingeld ausgeholfen, zum ersten Mal bis ein Uhr morgens im Ausgang gewesen, zum ersten Mal den Wirtschaftsteil der Sonntagszeitung von Anfang bis Ende durchgelesen usw.) Eryilmaz machte sich mit peinlicher Sorgfalt daran, meine Produktion an Stummeln aufzukehren, bevor irgendein Schlaukopf mit gefährdeter Promotion auf die Idee kommen konnte, mich beim Rektor zu verpfeifen. Er hatte einen verfluchten Kern aus Gold. »Sie sind ein verrückter Stahlbolzen, Eryilmaz. Hat Ihnen das schon jemand gesagt?« »Verdammt, Franz, du hast dich nicht im Griff, du …« »Was machen Sie im Würfel den ganzen Tag? Ich frage mich das seit Jahren.« »Ich reiße Mäusen den Kopf ab.« »Bei der nächsten Partie Backgammon mach ich Sie fertig, Besenmann. Verlassen Sie sich drauf.« »Scher dich zum Teufel, Franz!« Stück um Stück, wie Kühe in einen Stall, kamen Gymnasiastinnen und Gymnasiasten durch das Tor der Einfahrt und drängten sich in der Einstellhalle. Ich blieb ein bisschen stehen – dann spürte ich den Schmerz. Ich schubste mich durch, stürzte die Treppe hoch, wirbelte auf die Toilette und hielt die brennende Hand unters kalte Wasser. Es war die linke – ich bin Linkshänder. Ich fühlte den Herzschlag an den unsinnigsten Stellen. Mir schwindelte. Ich betrachtete mein Gesicht im Spiegel, sah kleinkindlichen Flaum am zwanzigjährigen Kinn, und mir...