Simic / Simic | Von all den unglaublichen Dingen | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Simic / Simic Von all den unglaublichen Dingen


1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-86391-061-7
Verlag: Verlag Voland & Quist
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-86391-061-7
Verlag: Verlag Voland & Quist
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Wenn ein Kind geboren wird, entsteht ein ganz neues Universum, aber auch Angst und Bangen und Unsicherheit. Ähnlich wie in dem preisgekrönten Prosaband "In was wir uns verlieben" verbindet Roman Simic seine neuen Erzählungen mit einem roten Faden, Dreh- und Angelpunkt ist das Elternsein. Der Maßstab seiner Helden sind die Schritte ihrer Kinder, ihre Mütter und Väter, ihre Zerwürfnisse, ihre Verliebtheiten - wir kennen das alles selbst nur allzu gut. Und wie immer geht es Simic um die Sache des Herzens. Der Mensch steht im Zentrum, aber anders als in seinem Erstling geht es nicht nur um zwei Verliebte, sondern um drei Menschen: Denn die Welt verändert sich, wenn ein Kind kommt.

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Füchse



Von all den unglaublichen Geschichten habe ich mir ausgerechnet die mit dem Hund gemerkt. Du hast sie mir ganz am Anfang erzählt, als wir uns noch kennenlernten, uns beschnupperten, vielleicht ist die Geschichte mit dem Hund deshalb hängen geblieben. Jedenfalls gab es vor langer Zeit in deiner Straße einen herrenlosen Hund, ein Kind hatte »Hrvatska« auf ihn gesprayt, ein anderes hatte ihn deswegen aufgehängt, und dann brach der Krieg aus, wegen dem Hund und dem Kind, das hast du damals nicht gesagt, das habe ich selbst dazugeschrieben, weil ich nicht verstehe, was eigentlich geschehen ist, und weil ich den Eindruck habe, dass ich es nie verstehen werde. Im Herbst 1991 verließ ich eine Kaserne der jugoslawischen Volksarmee in Südserbien, du hast die Sommerferien auf irgendeiner Adria-Insel zwangsweise verlängert, und in Vukovar verschwand dein Vater. Du sagst verschwand, als hätte es länger gedauert, und erklärst, er sei damals gewissermaßen noch da gewesen, deine Mutter hätte ihn zumindest durch das Wunder der Telefonmuschel hören können, ein Wunder, weil es klang, als wäre er im Nachbarhaus, und weil man sich für das bisschen Stimme anstrengen musste wie für nichts im bisherigen Leben. Bisheriges Leben klingt blöd, aber es trifft die Sache. Im Herbst 1991 war ich neunzehn Jahre alt, du warst zehn und dein Vater sechsunddreißig Jahre, ich kehrte in die Stadt an der Küste zurück, und der Bombenangriff begann, eine Granate explodierte im Hof, ich weiß nicht mehr, wie viel Angst ich hatte, ich weiß nur noch, dass ich meine Schwester aus dem Haus trug und in das Betonloch schob, dass sie steif wie eine Leiche war, aber lebte, dass wir die Nacht in diesem alten italienischen Bunker verbrachten und dort auf den Morgen warteten, Mama war noch im Dienst, Papa lebte nicht bei uns, wir wachten von selbst auf und gingen zum Meer, das war ruhig, gleichmütig wie das Loch im Haus, in dem wir zur Untermiete wohnten, und ich hielt es damals sogar für einen Sieg, dass wir nichts Eigenes verloren hatten. Dann zog ich nach Zagreb, damit hatte sich der Krieg für mich, für euch war es anders. Für jeden war es anders, sagst du, aber dass dein Vater verschwunden ist, macht dich trotz der neun Jahre Altersunterschied erfahrener, älter. Ich hatte Angst, dich nach diesem Verschwinden zu fragen, ich weiß nicht, ob ich dir das je gesagt habe. Als wir zum ersten Mal auf dem Ovcara waren, wagte ich kaum zu atmen: diese Fläche, dieser Himmel, und alles leer, kein Leben, nur du und deine Mutter und der Bruder und die Leute, die Vucedoler Tontäubchen verkauften, Souvenirs aus dem Neolithikum, der unvermeidliche Tourismus, Deckchen auf dreckigen Motorhauben, und der Gedanke, dass es diesen ganzen Kleinsthandel ohne das ganze Unglück nicht gäbe, das Schreckliche, in dem die Häuser verschwinden und Marktstände zurückbleiben, mit Zeltplanen überdachte Tische, Märkte, von denen niemand reich wird. Als wir in jener Nacht bis an die Nasenspitze zugedeckt im Bett lagen, hast du mir von dir aus erzählt, dass sie die Verwundeten und die Männer, denen die Flucht ins Krankenhaus gelungen war, herausholten und in einem der umliegenden landwirtschaftlichen Betriebe einsperrten, dass sie sie die ganze Nacht in einer Halle schlugen, am Morgen in Busse verfrachteten und zu umgepflügten Äckern brachten. Es waren fünf volle Busse, die Leichen aus vier Bussen wurden gefunden, dein Vater war im fünften, jenem, von dem die serbischen Nachbarn schweigen. Auch wir schweigen, im Zimmer ist es dunkel, an der Decke sind keine Sterne, ich presse mich an dich, ich habe Angst auszuatmen. Ich erinnere mich an dieses Feld, deine Mutter ist eine kleine Frau mit dunklem Teint und dunklen Haaren, du bist schlank und groß, ihr ähnelt euch überhaupt nicht, und ich denke: Deine Gesichtszüge hat jemand in diesem fünften Bus weggefahren, deine schmalen Hände, dein Lächeln, deine grünen Augen, die unter diesem Himmel gelb und braun werden, denn es ist Herbst und alles ruht, alles außer dem Herzen, wirklich, ich spreche es nicht aus, dies ist wirklich der traurigste Ort auf Erden. Wann immer ich an diesen Nachmittag denke, erinnere ich mich an jede Einzelheit: deine Kleidung, die Handtasche deiner Mutter, die Musik, die dein Bruder im Auto laufen ließ, die Holzkreuze und Rosenkränze, die die Trauernden für die Opfer vor dem Denkmal ablegten, ein ganzer Berg von Holz und Metall, der immer größer wurde, bis ihn jemand abräumte, den Bericht sahen wir im Fernsehen, du hast Abendessen gekocht, ich wartete auf die Sportschau, und sie kam, die Nachricht, die du regungslos hingenommen hast, du hast dich eher noch tiefer in den Topf verkrochen, auf dem Bildschirm bat eine alte Frau, ihnen wenigstens das zurückzugeben, aber du hast nichts gesagt, und ich dachte, dass der Krieg noch nicht zu Ende ist, dass ich dich aus ihm herausholen müsste, wenigstens für kurze Zeit, wie damals die Schwester, und ich trug dich hinaus, aber wir wussten nicht, wohin, gegen solche Nachrichten kann sich der Mensch nicht wehren, sie erreichen dich irgendwo und irgendwie, und sei es als Brief, auf dem dein Name steht, aber die Adresse fehlt, oder wie damals, als ich kurz nach dem Krieg mit meiner damaligen Freundin nach Belgrad fuhr und wir uns am Bahnhof ein Taxi nahmen und der Taxifahrer wissen wollte, woher wir kämen, und wir sagten es ihm, und da sagte er, er sei während des Krieges in Vukovar gewesen und wenn wir ihn jetzt nach dem Grund fragten, könnte er es uns nicht sagen, aber damals hätte es Sinn gehabt – er erwähnte die Verwandtschaft seiner Frau in Vinkovci, die Amerikaner, die uns aufeinandergehetzt hätten, und er klang wie jemand, dem nicht zu helfen ist. An sein Gesicht erinnere ich mich nicht, nur an die Stimme; wir haben bezahlt und sind gegangen, das Mädchen und ich, mit einem Kloß im Hals, voller Scham, ich spreche es nach so vielen Jahren aus, denn vielleicht hat genau dieser Mann den fünften Bus gefahren, den, von dem die Nachbarn schweigen, vielleicht hat er einen Mann weggefahren, den ich nie kennengelernt habe, deinen Vater, jenen Mann, der bis heute, nach so vielen Jahren, am Esszimmertisch deiner Mutter und unter unserer sternenlosen Decke als verschwunden geführt wird. Aber ich will dir von uns, die wir hier sind, erzählen. Ich beispielsweise sitze auf einer Bank im Zoologischen Garten und schreibe dir einen Brief. Du sitzt zu Hause am Schreibtisch und glaubst, ich wäre mit meinen Kumpels in der Kneipe. Ab und zu komme ich hierher, setze mich jedes Mal vor einen anderen Käfig und verschanze mich hinter meiner kleinen Lüge, ich bezahle Eintritt für diese kleine Einsamkeit, eine Einsamkeit für dich. Einmal waren wir gemeinsam in diesem Zoo, nur so lange, um uns zu vergewissern, dass es uns nicht gefällt, und jetzt könnte ich stundenlang darüber schreiben. Wer ihn gegründet hat, wann, warum, auf wie viel Hektar und dass die ersten Bewohner zwei Füchse und drei Eulen waren, keine sonderlich aufregende Besetzung, ungefähr so exotisch wie Geflügel, keiner spricht über sie, sie sind Vergangenheit, und alles andere sind Tafeln mit komplizierten lateinischen Namen darauf und den zugehörigen Körpern, die sich zu Tode langweilen. Ich langweile mich nicht. Ich sitze vor dem Becken mit den Zwergottern, schreibe, denke über den Hund nach, der sich in die Erinnerung drängt. Manchmal ähneln alle deine Geschichten der von dem Hund. Zum Beispiel dass ihr, als eure Mutter aus Vukovar kam, alle drei zunächst bei Verwandten in Zagreb gewohnt habt, und als die Gastfreundschaft aufgebraucht war, haben die Verwandten deiner Mutter eine heruntergekommene Wohnung im obersten Stock eines Hochhauses gezeigt, eine leere Wohnung mit Tauben und Blick auf die Vororte, die bei Starkwind schwankte, ihr habt euch mithilfe einer Brechstange und der Nachbarn, Unbekannten, die helfen wollten, Zutritt verschafft. Der Besitzer hat nie darin gewohnt, aber als ihr kamt, erinnerte er sich an sein Eigentum, und so haben sie euch bald vertrieben, ihr seid in einem Bus gelandet, mit anderen wie euch, auf dem Weg zu einer Unterkunft, wo ihr niemandem im Weg wart. Irgendjemand hat mal gesagt, das Problem mit Zoologischen Gärten sei, dass Tiere im Käfig aufhörten, Tiere zu sein, und augenblicklich eine Seele bekämen. Und mit der Seele hat man es schwer, nicht wahr? Als sie euch im Zimmerchen einer ehemaligen Kaderschule unterbrachten, in einem Dorf, in das man vor dem Krieg an hohen Feiertagen pilgerte, dem Geburtsort des ehemaligen Präsidenten auf Lebenszeit, war deine Mutter siebenunddreißig, du zwölf und ich einundzwanzig Jahre alt, ich studierte Philosophie und fand, dass mich all das, was um mich herum geschah, nichts anging. Meine Mutter war kaum älter als deine, sie arbeitete als Ärztin an der Front und sagte einmal, sie sehe jeden Tag junge Männer in meinem Alter sterben, während ich in Zagreb philosophierte, und dass sie es gut fände, wenn ich mal dort wäre, bei ihnen, unter ihnen, sagte ich, und das war unser letztes Gespräch dieser Art – danach beschränkten wir uns auf trockene Umarmungen im Sommer oder an Weihnachten, Tage, an denen wir uns hauptsächlich mieden und wie auf höheren Befehl hin Waffenstillstand herrschte, ein langes, ungemütliches...


Roman Simic, Jahrgang 1972, Ist Autor und Herausgeber sowie Organisator und Programmdirektor des renommierten Festival of the European Short Story. Zweimal erhielt er den Goran-Preis für junge Dichter, er war Stipendiat des Literarischen Colloquium Berlin und 2003 der Stadt Graz. Seine Erzählungen wurden ins Französische, Spanische, Schwedische, Slowenische, Polnische, Bulgarische, Serbische, Litauische und Englische übersetzt, 2007 erschien sein Erzählband "In was wir uns verlieben" bei Voland & Quist. Roman Simic gilt als eine der bedeutendsten Stimmen der zeitgenössischen kroatischen Literatur.



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