E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Reihe: Die großen Romane
Die großen Romane
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Reihe: Die großen Romane
ISBN: 978-3-455-00630-8
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Weitere Infos & Material
Cover
Titelseite
1
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6
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8
Nachwort – Sprachlos
Über Georges Simenon
Impressum
1
Erhatte nicht das leiseste Vorgefühl. Hätte ihm jetzt, als er gerade aufgestanden war und aus dem Fenster blickte in den von der Nacht noch trüben Himmel, jemand gesagt, an diesem Tag werde etwas geschehen, das für ihn von einschneidender Bedeutung war, so hätte er wohl noch nicht einmal die Achseln gezuckt, denn er verfügte über ein natürliches Grundvertrauen. Vielleicht hätte er mit seinen schlafverquollenen Augen den Holzfußboden angestarrt und gedacht: »Sicher ein Motorradunfall!« Er besaß eine ganz neue Maschine, eine schwere 750er, vollständig verchromt, mit der er tagaus, tagein über die Landstraße knatterte. Und außer einem Motorradunfall – was sollte ihm schon zustoßen? Ein Brand auf Coup de Vague? Das würde seine beiden Tanten mehr treffen als ihn, und das Haus wäre rasch wieder aufgebaut. Vielleicht hätte Jean auch an etwas anderes gedacht, das ihn manchmal vor dem Einschlafen umtrieb. Sein größter Abnehmer für Miesmuscheln war Algerien – waggonweise schickten sie sie dorthin. Die Muscheln wurden in Port-Vendres verladen, auf der langen Überfahrt von La Rochelle verloren sie an Gewicht. Deshalb ließ man sie sich im Mittelmeer zwei oder drei Tage lang wieder mit Wasser vollsaugen. Würden eines Tages schlechte Nachrichten aus Algerien kommen? Würde sich herumsprechen, dass es Muschelvergiftungen gegeben hatte? Doch Jean dachte nichts von alledem, aus dem einfachen Grund, dass da nichts war, was ihm ein Ereignis gleich welcher Art ankündigte. Wie jeden Morgen hatte er fünf Minuten bevor der Wecker klingelte die Augen aufgeschlagen, war träge in seine alte Hose geschlüpft, hatte zwei Wollpullover übereinander angezogen, war sich mit den Händen durchs Haar gefahren und hatte sich den Mund mit Wasser ausgespült. So war es jeden Morgen, und dazu gehörten auch Tante Hortenses verhuschte Schritte im Treppenhaus und das »Fluff« der Kochplatte mit Gasflamme, die sie ansteckte, um ein wenig Kaffee zu kochen. Jean durfte noch nicht hinunter, denn seine Tante ging, um Zeit zu sparen, das erste Mal im Nachthemd in die Küche und erst dann wieder in ihr Schlafzimmer, um sich einigermaßen anzuziehen. Ein Vorkommnis von einschneidender Bedeutung? Etwa ein Lottogewinn? Dann müsste es schon ein Sechser sein und ein sehr großes Los! Jedenfalls hätte er nie damit gerechnet, dass das Unvorhergesehene von Marthe kommen könnte, von Marthe Sarlat, deren erleuchtetes Fenster er sehen konnte, im ersten Stock des zweiten Hauses von links Richtung Marsilly. Marthe zog sich auch gerade an, während am Horizont ein wenig Zwielicht den Himmel zu erfassen begann. Auf allen Gehöften, in allen Häusern im Dorf war es der gleiche stumpfsinnige Tagesanfang. Jean ging in die Küche hinunter, zog sich die Gummistiefel an, die ihm bis in den Schritt reichten. Bald danach kam Tante Hortense, in weiten Hosen aus schwerem schwarzem Tuch; sie hatte nicht dem Beispiel der anderen Frauen folgen und sich blau kleiden wollen, denn das fand sie ordinär. »’n Morgen, Tante!« »’n Morgen, Jean!« Alles lief ab wie ein gut geschmiertes Räderwerk. Der Zwielichtstreif am Horizont wurde breiter, das Meer zog sich zurück und gab immer mehr Watt, rötlichen Sand und Felsen frei. Handkarren kamen näher, Stimmen. Pellerin mit seinem taufeuchten Schnauzbart holte das Pferd aus dem Stall und führte es rückwärts in die Gabeldeichsel des Kippwagens. Ein Tag wie jeder andere, außer vielleicht, dass der Tidenhub bei 115 lag und dass die See sich sehr weit zurückzog, bis weit hinter die Muschelzäune, und nur einen kräftig strömenden Priel zwischen der Küste und der Île de Ré übrig ließ. Morgens grüßte man sich kaum. Handkarren wurden über den steinigen Deich gezogen und auf dem Sandstrand, der mit einzelnen Felsen übersät war, hin zu den Austernparks oder den Muschelkästen mit schwerem Eisengestänge, die die eingesammelten Muscheln bargen. »Salut! …« »Salut, Pierre …« Meistens nur eine schlichte Handbewegung. Es war kalt. Die letzten Pfützen waren noch nicht im Sand versickert. Jean hatte seinen Spaten bei sich, denn er wollte den niedrigen Wasserstand nutzen und die hintersten Pfähle seines Muschelzaunes neu setzen. Man fuhr hinaus wie aufs Feld, nur dass es auf der einen Seite Austern-, auf der anderen Muschelfelder waren und dass dort, wo jetzt die Karren haltmachten, schon in ein paar Stunden nur noch der Meeresspiegel zu sehen sein würde. Im Morgengrauen erkannte Jean Marthes rotes Kopftuch; sie war die Einzige, die sich ein scharlachrotes Tuch ums Haar band, woran man sie von weitem erkennen konnte. Sie arbeitete zwei- oder dreihundert Meter von ihm entfernt, sammelte Austern, wie Tante Hortense. Ein winziges Detail war außergewöhnlich, aber noch nicht beunruhigend: Während alle, wie in Trance, weitertrotteten, ohne sich umeinander zu scheren, wandte sich Marthe zur Seite, ging auf Jean zu und sagte: »Ich muss mit dir reden.« Dann ließ sie ihn wieder allein. Jean war ihr Gesicht unter dem roten Kopftuch hässlich vorgekommen, aber niemand sah schön aus an so einem kalten grauen Morgen, mit ungewaschenem Gesicht und verquollenen Augen. Er ging ans Werk, schaufelte Schlick, um die Pfähle zu verankern, die sich teilweise spalteten. Und wie an all den anderen Tagen ging auch heute die Sonne auf, ohne dass jemand darauf achtete. Es war ihnen so vertraut – wie die ganze Landschaft hier –, dass sie es gar nicht zur Kenntnis nahmen. Die Sonne war sehr hell, der Himmel war nicht so blau wie anderswo, aber doch von größter Klarheit. Sie waren tatsächlich nicht in der normalen Welt; sie waren nicht an Land und nicht auf dem Wasser, und der Weltraum, weit und leer, wirkte wie eine unendlich große Austernschale mit den gleichen irisierenden Farbtönen, dem Grün, dem Rosa, dem Blau, die wie bei Perlmutt ineinanderübergingen. So sah es aus, als schwebte die Île de Ré – oder genauer gesagt: ihr schmaler Waldsaum – im Raum, wie von Wunderhand gehalten. Coup de Vague war kaum besser zu greifen: ein rosa Haus, aber von einem etwas zu rosigen Rosa, mit einer Rauchfahne, die sich vom Schornstein bis über die Deichanlagen zog, bis zu der Stelle, wo die Karren demnächst wieder festen Boden unter den Rädern haben würden. Und Kühe gab es auf der Wiese, Kühe, die gerade von Tante Émilie gemolken wurden und die von weitem gar nicht wie echte Kühe aussahen. Immerhin trug der Wind ab und zu ein fernes Muhen herüber. Alle beackerten, ohne sich um den Nebenmann zu kümmern, ihr Stück Meer, ernteten körbeweise Miesmuscheln und trugen sie zu den Kippwagen, deren Pferde im Schlick einsackten. Jungen und Mädchen liefen über die Felskanten und halfen den Frauen beim Austernsammeln. Das Meer ging seinen Gang, zog sich in aller Ruhe zurück bis ganz weit draußen, und gemächlich kam es wieder, mit einem weißen Schaumsaum, der wie ein Bächlein plätscherte. Was mochte Marthe ihm zu sagen haben? Warum hielt sie manchmal bei der Arbeit inne, hielt sich die Hand als Schirm über die von der Sonne geblendeten Augen und schaute zu Jean herüber? »Kannst du mir helfen?«, bat Tante Hortense, als ihre Körbe voll waren. Jean war groß und breit, und seine Tante war genauso groß und breit wie er, sah aber noch härter aus, knochig, robust, vom gleichen Kalk wie die Austern und der Fels. Sie nahmen die Körbe, jeder an einem Henkel. »Hau-ruck! …« Man brauchte nicht auf die Uhr zu sehen, auch nicht auf den Gezeitenkalender. Alle luden Muscheln auf, allen war bewusst, dass das Meer noch hundert Meter entfernt war, aber dass es diese hundert Meter am schnellsten zurücklegte. Sobald die Körbe aufgeladen waren, zog Jean einen seiner Pullover aus, denn es wurde allmählich warm, hielt nach dem roten Kopftuch Ausschau und fand es ganz in der Nähe, als warte es auf ihn. Mit einer angedeuteten Handbewegung signalisierte er: »Ich komme gleich …« Eine Weile ging er mit der Tante neben dem Karren her. Dann blieb er stehen, als wollte er seine Stiefel hochziehen, deren Schäfte er heruntergelassen hatte. Er wartete auf Marthe und fragte sie ohne allzu große Neugier: »Was ist los?« Diesmal beunruhigte es ihn, sie so blass zu sehen, mit Ringen unter den Augen, obwohl doch die Sonne schon hoch stand. Sie blickte ängstlich um sich, so als hätte sie ein schreckliches Geheimnis zu enthüllen. »Ich hab dich gestern nicht gesehen …«, begann sie. »Ich war in Rochefort …« »Ich weiß … Ich hab auf dich gewartet … Ich wollte dir sagen, dass …« Sie hatte Angst vor ihm! So wie sie ihn ansah, konnte man denken, sie rechnete damit, gleich von ihm geschlagen zu werden. »… Ich bin schwanger, Jean!« Sie waren auf halbem Weg. Das rosa Haus war schon größer, die Kühe waren echte Kühe geworden, und man hörte die Vögel singen. Tante Hortense drehte sich nach ihm um, woraufhin Jean Marthe stehen ließ mit einem kurz gestammelten: »Ich komm nachher bei dir vorbei …« Er wusste nicht mehr, was er gerade tat, ob er ging oder lief. Mechanisch half er dem Pferd, den Kippwagen auf den Deich zu hieven, ihm war kalt am Rücken, und ohne es zu wollen sah er immer noch Marthes rotes Kopftuch im blau-grün-goldenen Raum. Er hätte später kaum noch gewusst, wie er in die Küche gekommen war, nachdem er die Schuhe ausgezogen hatte, und mit welchen Bewegungen er sich zu Tisch gesetzt...