Simenon | Der Outlaw | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 340 Seiten

Reihe: Die großen Romane

Simenon Der Outlaw

Die großen Romane

E-Book, Deutsch, 340 Seiten

Reihe: Die großen Romane

ISBN: 978-3-455-01144-9
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



ZEIT FÜR MICH – ZEIT FÜR SIMENON
Stan hat viele Ideen, aber einfach kein Glück. Nach einem kleinen, aber folgenreichen Spaß in seiner Heimat Litauen muss er diese verlassen und geht nach Amerika. Nachdem er auch hier wieder scheitert und sich in Lebensgefahr bringt, strandet er mit seiner Freundin in Paris. Während Nouchi hier Fuß fasst, bleibt Stan rastlos. Als Illegaler hat er wenige Aussichten auf einen guten Job, und erneut gerät er in das Visier einer gefährlichen Bande. Stan wird zunehmend zum Gesetzlosen, einem Outlaw.
Bandnummer: 41
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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Cover
Titelseite
Erster Teil
Zweiter Teil
Über Georges Simenon
Impressum


Erster Teil
1
Die Vorstellung im Kino Saint-Paul ging gerade zu Ende, als sie die Rue Saint-Antoine erreichten. Von der Bastille bis zum Hôtel de Ville lag die Straße wie ausgestorben da – eine einzige weite Schneise, die sogar noch weiter, bis zur Place de la Concorde, reichte –, winzig wirkten die wenigen vorbeieilenden Passanten, die sich bisweilen sogar diagonal über die Fahrbahn trauten. Die beiden kamen praktisch vom anderen Ende der Stadt, aus dem Grenelle-Viertel, aus einer Straße, die noch nicht fertiggebaut und daher im Stadtplan von Paris nicht verzeichnet war. Wie lange gingen sie nun schon so im Gleichschritt, wobei Nouchi ihren Begleiter untergehakt hatte? Zuerst hatten sie jedoch ins Grenelle-Viertel gehen müssen. Da hatten die Straßen noch etwas belebter gewirkt, denn obwohl es wegen der Kälte kaum Passanten gab, ahnte man doch, dass hinter den beschlagenen Fenstern der Cafés Menschen saßen. »Was ist, wenn Lartik nicht da ist?«, hatte Nouchi zu fragen gewagt, als sie die Straße, die noch länger und noch eintöniger war als die Rue Saint-Antoine, bereits zur Hälfte passiert hatten. Sie hätte besser nicht gefragt. Stan hatte sie streng, geradezu wütend angeblickt und war dann auf eine Bank losgestürzt, um das Holz zu berühren. »Da ist kein Licht, Stan!« »Er hat sich eben schon hingelegt!« Lartik, der Bildhauer gewesen war, bevor er bei Renault arbeitete, wohnte in einer Art Pavillon, einem Maleratelier oder eher einer Baracke im Hinterhof eines halbfertigen Mietshauses. Der Zugang führte über eine Außentreppe ohne Geländer. Und an diesem Abend sah man so gut wie nichts. »Stéphan!«, rief Stan, während er versuchte, durch die Fensterscheiben zu spähen. »Stéphan! … Ich bin’s, Stan … Du musst mir unbedingt aufmachen … Glaub mir, diesmal ist’s wirklich ernst … Nouchi ist auch hier … Wir sind die ganze Strecke von der Rue Saint-Antoine hierher zu Fuß gekommen …« Nouchi flüsterte: »Da hat sich was bewegt!« Beiden schien es, als hätten sie ein Geräusch gehört. Sie sahen den rötlichen Lichtschein, der aus einem brennenden Ofen kam, und sie meinten auf dem Bett eine Silhouette, einen Schatten zu erkennen. »Stéphan!« Und Nouchi, fast unhörbar: »Vielleicht ist er nicht allein.« Hätte Lartik nicht wenigstens einen Abend mal auf ein Mädchen verzichten können? War er durch seine Arbeit bei Renault nicht schon erschöpft genug? Nouchi hatte recht. Stan war ganz sicher: Sein Freund war zu Hause, auf dem Sofa, oder besser, auf der Matratze, die als Sofa diente, und zwar mit einer Frau! Die beiden hielten wohl gerade den Atem an und hatten dabei nicht einmal ihr Liebesspiel unterbrochen. »Hör zu, Stéphan … Das ist das letzte Mal, dass ich komme … Du musst aufmachen … Unbedingt, verstehst du?« Nouchi begann die Treppe hinunterzusteigen. Nach ein paar Minuten sagte sie von unten: »Komm!« Hier nun, vor dem Kino Saint-Paul, war es, als ob man eine Tube Zahnpasta ausdrückte – eine dicke Masse quoll heraus, die sich erst allmählich ausdünnte: Männer, Frauen, ganze Familien, deren laute Stimmen durch die Straßenschlucht hallten. Stan schniefte. Sein Tick hatte ihn schon seit ein paar Minuten wieder gepackt. Er sog plötzlich die Luft heftig durch die Nase ein, die Nasenflügel legten sich an die Nasenwand, und sein Gesicht wirkte dadurch noch hagerer, eingefallener und die Augen noch fiebriger. Für Nouchi war es dann ratsam, ihn nicht anzusehen, so zu tun, als hätte sie nichts bemerkt. Sie gingen an dem Kino vorbei. Ein paar Häuser weiter blieb Stan stehen. Über endlose Kilometer hatten sie kein einziges geöffnetes Geschäft entdeckt, und nun war da eines, direkt vor ihnen. Ein Süßwarenladen. Es war Mitternacht vorbei. Die Temperatur war unter null gefallen. Die wenigen Passanten eilten im Laufschritt vorbei. Aber dort, hinter dem beschlagenen Schaufenster, war ein Laden, gemütlich wie der Salon einer alten Jungfer – in der Mitte ein Kachelofen, überall säuberlich angeordnete Bonbonberge, rosafarbene, blassgrüne Pistaziendragees, zarter Karamell, der sicher auf der Zunge zerging, buntes, lustiges Zuckerwerk für Kinder, und hinter der Theke saß eine Frau. Sie strickte und zählte dabei die Maschen; um die Schultern trug sie einen mausgrauen gestrickten Schal. Nouchi wartete, ohne ein Wort zu sagen. Sie wusste nicht genau, warum Stan stehen geblieben war, warum er hörbar die Luft durch die Nase einzog, warum er ausgerechnet dieses Schaufenster betrachtete und sich seine farblosen Lippen verzogen und die ungepflegten Zähne entblößten. Schon auf dem Hinweg ins Grenelle-Viertel hatte Nouchi also die Unvorsichtigkeit begangen, von Lartik zu sprechen und vorauszusagen, dass er nicht daheim sein würde. Wider besseres Wissen, wenn auch bestimmt nicht aus Bosheit, fing sie jetzt wieder damit an. »Dann hat wenigstens er ein Bett zum Schlafen! – Wie spät ist es, Stan?« Hatte er etwa eine Uhr? Er besaß doch schon lange keine mehr und auch sonst nichts von Wert, noch nicht einmal einen anständigen Mantel, sondern nur diesen dünnen. Also, was sollte das? Wütend ging er weiter. Beinahe hätte er vergessen, Holz zu berühren, tat es dann aber doch, verstohlen, zog heftig die Luft ein, während er das Hôtel de Birague betrachtete, eine schäbige, zwielichtige Absteige in der Rue de Birague, die zur Place des Vosges führt. In manchen Zimmern schliefen sie sogar zu viert oder fünft. Durch die Betätigung eines Summers ging automatisch die Haustür auf. Drinnen im Flur war ein Schiebefenster, und Stan und Nouchi fürchteten nichts so sehr, wie dass es aufgehen könnte. Am besten witschte man leise daran vorbei, murmelte undeutlich einen Namen und schlich zur Treppe, damit der Besitzer nicht aus seinem Halbschlaf erwachte. Sie waren bereits am Schiebefenster vorbei, und es hatte sich nicht bewegt. Dafür ging eine Tür auf, und der Besitzer erschien, eine massige Gestalt, so breit wie der Korridor, mit heruntergerutschter Hose und über der behaarten Brust geöffnetem Hemd. »Wo wollt ihr hin?« »Aber … Ich …« »Jetzt reicht’s! Verduftet!« »Wir haben doch noch Sachen oben«, wandte Nouchi zaghaft ein. »Na, wenn schon!« »Sie können uns doch nicht daran hindern zu holen, was …« »Und wie steht’s mit der Rechnung? Habt ihr die etwa bezahlt? Na also! Haut ab, aber schleunigst! Ich hab euch lange genug gewarnt. Vielleicht findet sich noch ein Platz bei der Heilsarmee, wenn man euch nicht gleich freie Unterkunft im Kittchen anbietet …« Sie hatten sich nur kurz in der Wärme des Korridors aufgehalten, die wie schlechter Atem roch, und waren dann weitergezogen. Die Bürgersteige waren trocken und hart. Nouchi konnte es nicht lassen, Stan von Zeit zu Zeit prüfend zu mustern, was er merkte. Er wusste genau, was sie dachte, doch er konnte nicht anders. Anstatt sie zu beruhigen, zog er nur geräuschvoll die Luft durch die Nase ein. Sie gerieten in den Lieferverkehr um die Markthallen, doch sie gingen immer weiter, und Nouchi fragte nicht, wohin. Es war ein beeindruckendes Bild. Zwischen den einzelnen schwarzen Pavillons hingen bauchige Lampen über den Wegen, wie Sterne, von einem grellweißen Strahlenkranz umgeben, der in die Augen stach, aber kein Licht spendete. Von den alten schmalen Häusern ringsum blätterte der Putz ab, sie waren mit Kritzeleien beschmiert und so windschief wie eine bemalte Theaterkulisse, die sich im Luftzug bauscht. Lastwagen kamen vorbei, hielten, fuhren weiter. Ein Güterzug, der in Richtung Rue Montmartre unterwegs war, schob sich mitten durch das Bild. Menschen bewegten sich im Zeitlupentempo hin und her, mal im Schatten, mal in dem kalten künstlichen Licht. Stan blieb erneut stehen. Nouchi ließ seinen Arm nicht los. Beide betrachteten einen riesigen Lastwagen, einen gelb lackierten Zehntonner, auf dessen Seitenwand ein Name, die Ortsbezeichnung Nantes und eine Telefonnummer zu lesen waren. Der Fahrer machte sich im Schein einer Taschenlampe am Motor zu schaffen, den er mehrmals aufheulen ließ, um irgendetwas einzustellen, wobei das ganze Chassis erzitterte. Unterdessen ging das Entladen weiter. Ein Kohlkopf nach dem anderen kam aus dem Laster geflogen, und ein Clochard, in abenteuerliche Kleidungsstücke eingemummt, unter die er alte Zeitungen gestopft hatte, um sich warm zu halten, fing sie auf. Man spürte förmlich, wie jeder Kohlkopf, den der Alte auffing, ihn ins Wanken brachte, und konnte sich ausrechnen, dass er früher oder später umfallen würde. Jedes Mal, wenn er einen Kohlkopf gefangen hatte, hielt er kurz inne, ehe er ihn einem hochgewachsenen jungen Mann zuwarf und dieser einem weiteren, der die Köpfe dann fachmännisch auf dem Bürgersteig zu einem ordentlichen Berg aufschichtete. Keiner beachtete den anderen. Die Kohlköpfe waren fast weiß und mit Eissplittern übersät, an denen man sich die Hände wund reißen konnte. Es nahm auch keiner Notiz von Stan, der bereits eine gute Viertelstunde unbeweglich danebenstand. Schließlich stieß er wortlos Nouchis Hand, die immer noch auf seinem Arm lag, weg, machte einen Schritt, danach einen zweiten und dritten, bis er zwischen dem Clochard und dem Studenten stand. Dann fing er schüchtern einen Kohlkopf auf, warf ihn weiter und reihte sich so in die Kette ein. Der Clochard musterte ihn misstrauisch und murrte. Würde nicht jeder weniger Geld bekommen, wenn noch einer dazukam? Der...


Simenon, Georges
Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben am 4. September 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und mehr als 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.

Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben am 4. September 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und mehr als 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.


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