E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Reihe: Die großen Romane
Simenon Das Haus am Kanal
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-455-00471-7
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Reihe: Die großen Romane
ISBN: 978-3-455-00471-7
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
ZEIT FÜR MICH – ZEIT FÜR SIMENON
»Georges Simenon ist der wichtigste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.«
Gabriel García Márquez
Die sechzehnjährige Edmée muss nach dem Tod des Vaters Brüssel verlassen und zu ihren Verwandten in die flämische Provinz ziehen. Schnell stellt sich heraus, dass das Mädchen aus der Stadt andere Vorstellungen vom Leben hat als die konservativen Familienangehörigen. Edmée ist dominant, verwöhnt und sich ihrer Wirkung auf Männer sehr bewusst. Gleich zwei ihrer Cousins erliegen ihren Reizen und glauben, sie gehöre ihnen allein. Das führt zu Unmut unter den Männern der Familie. Als Edmée sich für einen der Cousins entscheidet, kann sie nicht ahnen, welche brutalen Folgen diese Entscheidung nach sich zieht.
Ein Beziehungsdrama in den nebelverhangenen Ebenen Flanderns. Ein Mädchen, das zur Frau heranreift und dabei Grenzen überschreitet – mit verhängnisvollen Folgen.
Bandnummer: 5
Weitere Infos & Material
Cover
Titelseite
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Nachwort – Der Drang zum Abgrund
Über Georges Simenon
Impressum
1
Im Strom der Reisenden, die sich in Schüben zum Aus-gang drängten, war sie die Einzige, die es nicht eilig hatte. Ihre Reisetasche in der Hand, den Kopf unter dem Trauerschleier hoch erhoben, wartete sie ruhig, bis es an ihr war, dem Schaffner ihre Fahrkarte hinzuhalten. Dann ging sie einige Schritte weiter. Als sie um sechs Uhr früh in Brüssel den Zug bestiegen hatte, war es stockfinstere Nacht gewesen, und ein schwerer Eisregen hatte sich über die Stadt gelegt. Auch das Abteil dritter Klasse war nass, von den verschlammten Schuhen rann Wasser auf den Fußboden, die beschlagenen Zwischenwände waren klebrig, die Fenster innen und außen nass. Die Menschen dösten in ihren durchfeuchteten Kleidern. Um acht Uhr, bei der Einfahrt in Hasselt, wurden die Zug- und auch die Bahnhofslampen gelöscht. Von den Regenschirmen in den Wartesälen liefen feine Rinnsale zu Boden, die nach eingeweichter Seide rochen. Um die Öfen drängten sich Leute, um sich zu trocknen. Sie waren fast ganz schwarz gekleidet, wie Edmée. War das ein Zufall? Oder bemerkte sie es nur, weil sie selbst tief in Schwarz ging? Und war die Tracht der Landbevölkerung nicht auch schwarz? 12. Dezember. Die großen schwarzen Lettern, neben einem Schalter angeschlagen, sprangen ihr in die Augen. Draußen prasselte der Regen, Menschen rannten hin und her, an allen Türen drängten sich schutzsuchende Gestalten, und der Himmel war so düster, dass die Ladenbesitzer ihre Lampen brennen ließen. Genau gegenüber dem Bahnhof, in der Mitte der Straße, stand eine dicke schwarz-grüne Lokalbahn. Sie war leer. Kein Zugführer, kein Schaffner weit und breit. Sie trug die Aufschrift Maeseyck. In diesem Städtchen musste Edmée umsteigen, um nach Neeroeteren zu gelangen. Sie stieg kurzerhand in den ersten Waggon ein, der durch eine Glaswand zweigeteilt war. Auf der einen Seite saß man auf Holzbänken, und der Fußboden war voller Zigarettenstummel und Auswurf, die andere Seite war mit roten Samtkissen und Teppichboden ausgestattet. Edmée war erst unschlüssig, trat dann durch die Tür in das Abteil erster Klasse und setzte sich in eine Ecke. Sie hielt sich kerzengerade, hob den Kreppschleier, der ihr Gesicht verhüllte. Sie war sehr schmal, sehr blass, ein wenig blutarm, wie es sechzehnjährige Mädchen oft sind. Ihre straff geflochtenen Zöpfe waren im Nacken zu einem festen Knoten geschlungen. Eine halbe Stunde verging. Das Abteil zweiter Klasse bevölkerte sich, vor allem mit Bäuerinnen, die große Körbe trugen und sich lautstark unterhielten, wie es die Flamen gern tun. Mitunter warf die eine oder andere einen Blick auf Edmée, die allein hinter der Glaswand saß, flüsterte einer Nachbarin etwas zu, schüttelte mitleidig den Kopf, und andere Augen richteten sich auf das junge Mädchen. Die Lokomotive pfiff. Die Bahn rollte durch die Straßen der verschlafenen Kleinstadt. Vielleicht war es ein Zufall, dass die Lampen aufleuchteten, jedenfalls wurden sie während der ganzen Fahrt nicht mehr gelöscht. Der Regen, Edmées Schleier, die dicken schwarzen Tücher der Weiber, das Wasser auf dem Fußboden und den Bänken verschmolzen zu einem düsteren Grau. Die gepflügten Äcker waren dunkel, die Backsteinhäuser von schmutzigem Braun. Der Zug fuhr durch das limburgische Kohlegebiet, Bergwerksdörfer und Kohlehalden zogen vorbei. Es war ein alter Zug, die Fahrgäste wurden durchgerüttelt und die Köpfe pendelten von einer Seite zur anderen. Edmée erging es nicht besser. Durch die Glaswand konnte sie nicht hören, was die Frauen sagten, aber sie sah ihren mitleidigen Gesichtsausdruck, die Münder, die sich zu einem Seufzer öffneten, und die leeren Augen, die sich, sobald das Gespräch ins Stocken kam, in die beschlagenen Fenster versenkten. Der Schaffner trat in das Abteil erster Klasse, sprach Edmée auf Flämisch an. Sie sah ihn nicht an, hielt ihm das Geld hin und begnügte sich mit einem einzigen Wort: »Maeseyck!« Der Schaffner versuchte es mit zwei weiteren Sätzen, aber sie drehte den Kopf weg. Der Zug hielt in jedem Dorf, manchmal auch an einer Wegkreuzung, wo weit und breit kein Haus zu sehen war. Leute liefen herbei, Frauen, außer Atem, mit lachenden Gesichtern und gerafften Röcken ließen sich auf das Trittbrett heben. Der Schaffner stieß mit seiner Trompete den piepsenden Ton eines Kinderspielzeugs aus. Die Lokomotive pfiff. Gegen elf Uhr öffneten die Bäuerinnen ihre Körbe und holten ihr Mittagsbrot heraus. Um zwei Uhr hielt der Zug in Maeseyck neben einer gleichartigen Bahn, die aber einen Waggon weniger hatte und mit der Aufschrift Neeroeteren versehen war. Edmée erkundigte sich nicht nach der Abfahrtszeit, blickte nirgendwohin, richtete an niemanden das Wort. Wie in Hasselt setzte sie sich in ein Abteil, während die meisten Fahrgäste die Kneipen aufsuchten, wo sie sich an einem heißen Kaffee gütlich taten. Der Zug fuhr erst um halb vier ab. Es dämmerte schon. Die Fahrt ging durch Wälder und einen unendlich langen Kanal entlang, der so gerade war, dass er die Reisenden in seinen Bann zog. Die Nacht war bereits eingefallen, als sie einen Dorfplatz erreichten und der Schaffner rief: »Neeroeteren!« Edmée stieg aus, blieb reglos mitten auf der Straße stehen. Gegenüber befand sich ein Lebensmittelgeschäft mit einem flämisch beschrifteten Ladenschild. Menschen gingen zur Bahn, andere umarmten sich oder eilten davon. Keiner beachtete sie. Edmée ging zu dem überdachten Ladeneingang hinüber, der ihr vor dem Regen Schutz bot, und stellte ihre Reisetasche auf eine Stufe. Die Lokalbahn fuhr wieder ab. Die Straße leerte sich. Im Schatten der einstöckigen Häuser stand ein schweres graues Pferd, das vor einen hochrädrigen Wagen gespannt war. Von irgendwo löste sich lautlos eine massige Gestalt, deren Riesenkopf mit einer durchweichten Mütze unmittelbar auf dem Rumpf zu sitzen schien und deren überlange Arme ungelenk am Körper herabbaumelten. Das Wesen trug Holzschuhe und bäuerliche Kleidung. Zweimal ging es, ohne den Mund aufzutun, an Edmée vorbei, dann blieb es plötzlich zwei Schritte vor dem Ladeneingang stehen und brummelte: »Sind Sie die, die in die Rieselungen kommt?« »Ja.« »Ich bin Jef.« Er wagte sie beim Sprechen nicht anzublicken, und er konnte sich auch nicht recht dazu entschließen, ihr die Reisetasche abzunehmen. »Haben Sie ein Auto?« »Ich habe den Karren.« Endlich gab er sich einen Ruck, ergriff die Tasche, rannte auf den hochrädrigen Wagen zu und beruhigte das ungeduldige Pferd. »Sie können doch allein aufsteigen?« Steif vor Kälte, wie schon den ganzen Tag, folgte ihm Edmée. Er stellte die Tasche in den Wagen, drehte sich zu ihr um, wusste nicht, wie er ihr die Hand reichen sollte. »Sie könnten sich schmutzig machen.« Mit einem Satz war sie oben, duckte sich, um unter das Verdeck zu gelangen. Gleich darauf saß er neben ihr, ergriff die Zügel und trieb das Pferd mit einem Zuruf an. Noch zwei, drei Lichter waren zu sehen, dann führte der Weg durch schwarze Fichtenbestände. Es ging ein scharfer Wind. Das Verdeck blähte sich, ließ den Regen herein, der auch durch einige Löcher tropfte. Edmée konnte den Burschen neben sich nicht sehen. In der Finsternis erkannte man nur das schwache Licht einer Laterne, die an der Wagendeichsel befestigt war und deren trüber Lichtkegel als matte Scheibe auf dem Schlamm tanzte. »Ist Ihnen kalt?« »Danke, nein.« Sie fuhren nicht auf einer Straße, sondern auf einem Feldweg, der so tiefe Radspuren aufwies, dass Jef zweimal absteigen und in die Speichen greifen musste, um den Wagen wieder flottzumachen. Es war kalt. Der Frost ging Edmée durch Mark und Bein. Die Fahrt schien ihr unendlich lang, viel länger als der in der Lokalbahn verbrachte Tag. »Ist es noch weit?« »In einer Viertelstunde sind wir in unseren Ländereien.« Nach dem Gehölz kamen sie durch eine Niederung, die durch Pappelreihen in Rechtecke aufgeteilt wurde. Dann stieg der Weg leicht an, und sie überquerten den Kanal, den Edmée schon gesehen hatte. Der in Erdwällen eingebettete Wasserlauf lag höher als die Wiesen. Ganz in der Ferne sah man einen Lastkahn. »Haben Sie keinen Hunger? Sprechen Sie Flämisch?« »Nein.« »Schade.« Er verfiel einige Minuten in Schweigen. »Die Sache ist nämlich die, dass meine Mutter und meine jüngeren Schwestern kein Französisch können.« Als der Wagen plötzlich einen Ruck machte, fiel Edmée gegen die Schulter ihres Cousins. Ein fürchterlicher Schreck durchfuhr sie, und sie richtete sich schnell wieder auf. »Dort drüben ist es!« Inmitten der von Pappeln gesäumten Rechtecke schimmerte in der Ebene ein winziges Licht. Es kam aus einem Fenster des ersten Stocks. Aus größerer Nähe zeichneten sich Schatten hinter den Vorhängen ab. Knarrend hielt der Wagen vor einer Tür. »Ich bringe Sie hinein. Wir gehen durch den Hof.« Das Pferd trottete allein auf die Ställe zu, und Jef schlug einen Weg ein, der an einer Hecke entlangführte. Zweige streiften Edmées Gesicht. Sie war wie blind. Als er eine Tür öffnete, machte sie gerade eben einen rötlichen Lichtschein aus. Im selben Augenblick warf sich ihr eine dürre, äußerst aufgeregte Frau an den Hals, drückte sie in ihre Arme, nässte ihr das Gesicht mit ihren Tränen und stieß dabei flämische Worte aus. Edmée rührte sich nicht, blieb kerzengerade stehen, blickte über die Schulter der Frau hinweg in die Küche, die nur vom Kaminfeuer erhellt wurde. Da und dort erkannte sie winzige Gestalten, kleine Mädchen, die auf...