Wie ich sechs Jahre durch Asien reiste und meine Heimat auf einer Tropeninsel fand
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-384-06672-5
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Im Januar 2014 tauschte der 42-jährige CLAUDIO SIEBER seine allzu perfekte Heimat gegen die märchenfremde Welt. Nun blickt er zuru?ck auf Reiserouten weit abseits vom 'Banana Pancake Trail' und schildert wilde Abenteuer und authentische Tête-à-Têtes mit Völkern, von denen er fru?her lediglich fantasiert hat. Gestrandet ist er am Ende seines Abenteuers in Siargao auf den Philippinen.
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Eine der vielen Stupas in Kathmandu, die Buddha selbst und seine Lehre, den Dharma, symbolisiert. Nepal Juni bis August 2015 Wie eine gescheiterte Liebesbeziehung einer Wiedergeburt gleichkommen kann. Ein Rückblick auf den Ausstieg sowie ein Einblick in eines der faszinierendsten Reiseländer Asiens, und das zu einer Zeit, in der sich Nepal neu erfindet, aber von medialer Sensationslust abermals zurückgeworfen wird. Kathmandu Drei Zentimeter ist der Mount Everest verrückt. Ein medialer Hammerschlag! Selbst der größte Stein der Welt wackelt. Postwendend hat Indien die Ereignisse im Nachbarland zur sensationsgierigen TV-Satire umgekrempelt. Untermalt mit dem landestypischen Kopfwippen werde ich ermahnt: »Sir, Nepal ist kaputt«, schlimmer, »finished!« Besser sei es doch für mich, in Nordindiens Abenteuerdorado Ladakh zu verweilen oder lieber an einen Ort zu reisen, wo das Risiko, von fallenden Felsen erschlagen zu werden, geringer sei. Ich buche meinen Flug wenige Wochen nach den heftigen Erdbeben im Himalaya zwischen April und Mai 2015, das Nepal abermals in eine Krise stürzt. Das traditionelle Septum-Piercing hat den Wandel der Zeit überlebt, es ist nach wie vor ein beliebtes Schmuckstück bei Frauen. Kathmandu. Ich gewöhne mich schnell an die reizüberflutende Innenstadt Thamel mit ihren sichtversperrenden Reklameschildern, die entweder auf Bergsteigerutensilien »faked in China« oder interkontinentales Vielerlei deuten. Gewöhne mich gezwungenermaßen ebenso an das Abschotten aller Atemwege, sobald wieder eine dunkelschwarze Abgaswolke die Straße flutet. Auch an das abendliche Jaulkonzert der Straßenhunde. Das Umherhetzen im Zickzack, um nicht Opfer einer Handrikscha, eines klapprigen Kleinwagentaxis oder eines aufdringlichen Drogendealers zu werden. Kathmandu schwappt schamlos in alle Richtungen, allerhöchstens dirigiert vom unverwechselbar charmanten Chaos orientalischer Metropolen. Korrekt: Wer hier strandet, will eigentlich nur noch raus – raus in Nepals atemberaubende Natur, auf Tuchfühlung mit den sagenumwobenen Gebirgszügen des Himalaya. Als einziger Gast spuke ich durch Saputs Hotel. Seine rechte Hand wühlt im abendlichen Dal Bhat, dem nahrhaften Nationalgericht aus Reis, Linsen und gedämpftem Gemüse. Mit der anderen zitiert er mich zu sich. Saput und seine Hotelierkumpane sind betrübt. Touristen würden ausbleiben, alle Buchungen für die nächsten Monate seien storniert worden. Zwei Mitarbeiter habe er bereits abbauen müssen. »Eine Reiseagentur, die Baracken und traurige Gesichter bewirbt, muss erst noch erfunden werden«, tadelt Saput die Auswirkungen der journalistischen Dramatisierung. Seit dem desaströsen Beben präsentieren die Massenmedien beherzt und konsequent Nepals angeschlagene Seite: die zerfallenen Dreck-Stein-Kompositionen der Armen, das angeknackste Weltkulturerbe Kathmandu Valley und natürlich die vielen Verwundeten. Humanitäre Katastrophen haben schon immer Quoten gemacht. Den Trotzigen wundert’s: die Berge stehen, Kathmandu steht, Nepal steht. Was nicht steht, sind ein paar Häuser fernab vom wohltuenden Tourismus, der dem nepalesischen Volk nun für das restliche Jahr verwehrt bleibt. Auch wankt das Vertrauen in die eigene Regierung. Spätestens heute ist man sich einig: solche Katastrophen werden regelmäßig zur Bereicherung korrupter Politiker genutzt. Ein Mönch huscht durch Kathmandus Gassen. Wie üblich plane ich die nächsten Schritte in einem Kaffeehaus, will allein, aber in Gesellschaft sein. Das Lokal ist bestens frequentiert mit Entwicklungshelfern, freiberuflichen Hubschrauberpiloten und Botschaftern aller möglichen Ideologien. Mir gegenüber sitzen zwei in Rotgelb gekleidete Mönche. Mit Eifer fingern sie über die Tastaturen ihrer Laptops. Ja, selbst der Buddhismus ist im 21. Jahrhundert angekommen – Mönche vloggen durch den Tag, bevorzugen 100-prozentige Arabica-Bohnen für ihren Americano und fahren auf dem Motorrad zurück zum Kloster. Früher schien mir der Gedanke an ausgebrannte Bürohengste, untergetauchte Ex-Verbrecher oder faule Teenager unter der Mönchsrobe zu verwegen. Die PR-Abteilung der Sangha hat ganze Arbeit geleistet. Von rechts predigt mir ein Michael von den Zeugen Jehovas etwas ins Ohr. Als Religionsmuffel fühle ich mich etwas eingeengt und verziehe mich an einen frisch frei gewordenen Tisch am Fenster. Ein doppelter Espresso hilft oft dabei, dem Auswahlparadox ein Schnippchen zu schlagen und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Psychologisch betrachtet bin ich weder reif für die Monsunzeit in einem erschütterten Nepal noch für die nächste Etappe meiner Weltreise. Immerhin fühle ich mich am richtigen Ort, getreu dem Motto »kaputte Liebe, kaputtes Land«. Just vor ein paar Wochen verwelkte meine sechsjährige Beziehung endgültig. Der Wegzug aus der heimatlichen Wohlfühloase war zunächst ein Gemeinschaftsprojekt, bis mein befristetes Sabbatical zusehends mit der Suche nach neuer Lebensessenz kollidierte. Je länger die Odyssee andauerte, desto mehr sehnte sie sich nach der berechenbaren Schweiz und ich mich nach mehr unberechenbarem Asien. Rückblickend betrachtet hatte es so kommen müssen, denn es ist das vermaledeite Los etlicher Reisepaare: entweder schweißt die Entdeckungstour auf ewig zusammen, oder es passiert das krasse Gegenteil, denn man hat schlicht zu viel voneinander entdeckt. Dank dem angeborenen Temperament eines stoischen Sanguinikers macht sich bei mir trotz aller Trennungsmelancholie Optimismus breit. Keine Kompromisse mehr, ab jetzt gehört die Welt mir allein! Annapurna Nach Pokhara im bewährten Sammeltaxi. Das bevorzugte Transportmittel der Einheimischen. Wir fahren sieben Runden um den Block – gehen »sammeln«. Hinten gibts noch Platz für einen halben Hintern, ergo ist die Fahrt noch unprofitabel. Die Snackverkäufer haben irgendwann Erbarmen mit uns Suchenden und lassen unser Gefährt nach der achten Runde in Ruhe. Ein Musikantenduo steigt zu und quietscht nepalesische Volkslieder – rund vier Oktaven über der westlichen Schmerzgrenze. Wie lobenswert, dass es Asien vielerorts geschafft hat, seine traditionelle Musik gegen die Moderne zu verteidigen, doch nach einer von insgesamt sieben Fahrtstunden wünsche ich mir, die Batterien meines iPods hätten etwas länger durchgehalten. Einchecken bei Suman, meinem Gastgeber für die Nacht. Immerhin zwei bis drei Reisende schauen täglich bei ihm vorbei, um sich nach seinen Bettpreisen zu erkundigen. Suman ist bei Weitem nicht der Einzige, der sich mit lautem Seufzer auf magere Zeiten einstellt. Ein kurzer Streifzug durch die Gassen Pokharas lässt Schlimmes erahnen. Angestellte lümmeln vor leeren Geschäften, durchkämmen veraltete Beiträge ihrer Facebook-Freunde, knabbern an den Fingernägeln oder starren einfach nur ins Leere. Hunderte Reiseagenten mit imaginären Spinnennetzen zwischen Gesicht und Telefon warten auf ihre Chance – ein Verkaufsgespräch meistern, den Kugelschreiber wieder einmal benutzen, ein Dokument unterschreiben, Geld verdienen. Jetzt wäre ich gern ein williger Kunde, doch wandern in fachkundiger Begleitung ist für Schweizer pure Blasphemie. Morgen geht es los: 250 Kilometer Fußmarsch rund ums Annapurna-Bergmassiv, von 800 Metern hinauf zum 5.413 Meter hohen »Donnerpass« Thorong La und hinab. Ich bin null vorbereitet. Meine letzte ernst zu nehmende Bergtour zur Spitze des etwas höher gelegenen Cotopaxi-Vulkans in Ecuador liegt über ein Jahr zurück und war dank der beinahe vertikalen Besteigung in zwei Tagen abgehakt. Damals gelangte ich zu einer Einsicht, die mir bis heute hilft, den Zweifler in mir verstummen zu lassen. Trotz aller mentalen Blockaden, den blutenden Blasen nach wenigen Stunden alpiner Kraxelei und Atemnot ab der Hälfte der Besteigung aufgrund mangelnder Akklimatisierung strebte ich nach dem Gipfel. Über den nicht weniger langen Abstieg (und eventuelle körperliche Schäden) wollte ich jedoch nichts hören. Alles für diesen einen magischen Moment auf der Bergspitze. Von dort waren weit unten im Tal die Lichter von Zumbahua zu erkennen, wie Glühwürmchen flimmerten sie durch die Wolkendecke, gelegentlich blendeten Gewitterblitze das Spiel, hernach der Rundblick gen Horizont, der allmählich von einem Ozean aus Sternen in einen epischen Sonnenaufgang überging. Mit diesem poetischen Bildern in Gedanken humpelte ich schmerzgeprüft wie einsichtig eine Woche durch Quito: »Wer Honig essen will, der ertrage das Stechen der Bienen«, so sagen sie in den arabischen Ländern. Der Busfahrer lässt die Türe neben ihm offen – er will im Notfall rechtzeitig das Fahrzeug verlassen können. Mein Sitznachbar erwähnt gleichmütig, dass viele Ortskundige eine Fahrt auf dem Busdach bevorzugten. Die Überlebenschancen seien statistisch gesehen besser. Ab Besisahar fahren nur noch Jeeps auf dem...