Ein Memoir
E-Book, Deutsch, 180 Seiten
ISBN: 978-3-949671-66-1
Verlag: Edition W
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Raja Shehadeh wurde 1951 in Ramallah geboren und ist ein palästinensischer Rechtsanwalt. Sein Vater, Aziz Shehadeh, ebenfalls Anwalt, zählte zu den frühesten und engagiertesten Verfechtern der Zwei-Staaten-Lösung und wurde unter bis heute ungeklärten Umständen ermordet. Die Zusammenarbeit mit seinem Vater in der gemeinsamen Kanzlei und dessen Ermordung bewegten den Autor dazu, sich für humanitäre Belange und die Rechte des palästinensischen Volkes einzusetzen. Außerdem begann er, über das palästinensische Leben und die israelische Besetzung zu schreiben. 1982 erschien sein erstes Buch, The Third Way. A Journal of Life in the West Bank. Seitdem hat er sich als ein nüchterner, unvoreingenommener Chronist des Nahost-Konflikts verdient gemacht, seine Artikel und Kolumnen erscheinen im englischen Guardian, dem New Yorker Magazine oder im Atlantic. 2023 erreichte sein Buch We could have been friends, my father and I die Shortlist des National Book Awards, dem neben dem Pulitzerpreis renommiertesten Literaturpreis in den USA. .
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Drei
Mein Vater, Aziz, wurde 1912 in Bethlehem geboren und wuchs in Jerusalem auf, wo die Winter ebenso rau waren wie in Ramallah. Nachdem er 1936 seine Anwaltskanzlei in der Stadt eröffnet hatte, zog er nach Jaffa mit seinem milderen und gleichwohl feuchteren Klima. Als »Selfmade-Man« hatte er Zeiten großer Unruhen erlebt, sowohl politischer als auch persönlicher Art. Während der Erste Weltkrieg tobte und in der gesamten Levante Hunger herrschte, verlor er im Jahr 1915 seine Mutter Badi’a Qumri. Ihr früher und plötzlicher Tod war traumatisch und hinterließ eine bleibende Narbe. Mein Großvater, Boulos, war ein bescheidener Mann, der noch vor der Nakba starb. Obwohl mein Vater nie selbstmitleidig war, erwähnte er manchmal (vielleicht als Rechtfertigung), dass er ohne eine liebende Mutter aufgewachsen war und daher viel entbehren musste. Mein Vater war sein ganzes Leben lang von der fürsorglichen Liebe seiner Frau abhängig. Ich erinnere mich, wie dankbar er war, wenn meine Mutter ihm seinen Lieblings-Milchreis zubereitete. Seine Kindheitsgelüste müssen von seiner Stiefmutter ignoriert worden sein. Von seiner Mutter existiert nur noch ein einziges Foto. Es stand gerahmt auf unserem Kaminsims. Mutter und Sohn sehen sich sehr ähnlich: Beide haben ein rundes, attraktives Gesicht, große dunkelbraune, weit geöffnete und etwas melancholisch wirkende Augen, gekrönt von markanten, dichten Augenbrauen. Sie trägt eine weiße Spitzenbluse und einen schwarzen Faltenrock. Ihre gefalteten Hände ruhen auf einem dekorativen Sockel, von dem eine Halskette oder vielleicht ein Rosenkranz baumelt. Ihr Mund ist geschlossen und ihr leicht trauriger Gesichtsausdruck lässt vermuten, dass sie sich in der Pose nicht wohl fühlt. Ihr schwarzes und dichtes Haar umrahmt ihr Gesicht, aber bedeckt ihre Ohren dabei nicht. Ihr Kinn ist schmal, wie das meines Vaters. Ihre weiße Bluse hat einen hohen Ausschnitt, der ihr Gesicht betont. Wann wurde dieses Foto aufgenommen? Es ist nicht datiert. Wie alt wird sie damals gewesen sein? War das vor dem Ersten Weltkrieg, bevor sie an Typhus erkrankte? Oft begleitete mich die Frage, was mein Vater wohl dachte, wenn er das Bild seiner Mutter ansah – obwohl ich ihn nie dabei ertappt habe. Meine Großmutter väterlicherseits, Badi’a Qumri, die während des Ersten Weltkriegs starb. Mein Vater war damals erst drei Jahre alt. Das Haus der Familie in Jerusalem, in dem mein Vater lebte, bis er einundzwanzig war, und in dem sein Halbbruder und seine Halbschwester geboren wurden, befand sich im Viertel Bab a-Zahra (Herodestor), in der heutigen Ibn-Sina-Straße. Das Viertel war weniger schick als das vergleichsweise gehobene Talbieh, in dem reiche Familien in ihren Neubauten wohnten. Das Haus war nur einen kurzen Spaziergang vom Herodestor entfernt und lag direkt hinter der Saladinstraße, die heute eine wichtige Geschäftsstraße im östlichen Teil der Stadt ist. Vor 1948 war die Jaffa-Straße die Hauptverkehrsader. Der Teil der Stadt, in dem mein Vater aufgewachsen ist, wurde früher als »Wildnis« bezeichnet und war mit vielen Zypressen bewachsen. Verglichen mit der Jaffa-Straße war er geografisch und kommerziell ein Schandfleck. Das Hauptgeschehen spielte sich rund um den Bahnhof auf dem Hügel ab, wo die Notre-Dame-Kirche und das Kloster noch stehen. Nach 1948 war dies für viele Jahre ein Niemandsland. Das zweistöckige Haus der Familie lag an einer Ecke, umgeben von einem Garten. Einige Stufen führten zu einer Veranda mit schmiedeeisernem Geländer. Die Fenster an der Vorderseite waren schmal und an der Ecke stand ein blühender Strauch, während der Vorgarten mit vielen Kiefern bepflanzt war. Das Haus wurde von einem roten Ziegeldach gekrönt. Das zweite Stockwerk wurde an einen Buchhalter aus Marjeyoun im Libanon vermietet, der für die Mandatsverwaltung arbeitete, und später an eine polnische Familie mit hübschen Töchtern. Das Haus war ziemlich weit entfernt von der Schule auf dem Berg Zion, die mein Vater besuchte, und von der Druckerei, in der sein Vater arbeitete. Es war auch weit entfernt von den Jerusalemer Rechtsfakultäten, an denen er später studierte. Eines der wenigen erhaltenen Fotos aus dieser Zeit zeigt Boulos, der stolz vor dem Haus steht, zusammen mit seiner zweiten Frau Mary, die ein strenges Gesicht hat, und ihren beiden Kindern Najla und Fuad. Mein Vater und seine Schwester Mary sind nicht zu sehen. Aziz war dreizehn Jahre alt, als sein Bruder Fuad geboren wurde. Er hatte sich immer einen Bruder gewünscht und musste lange auf ihn warten, aber dann war er entschlossen, sich um seinen jüngeren Bruder zu kümmern – und das tat er sein ganzes Leben lang. Fuad, ein zartes Kind, wurde von seiner Mutter beschützt, er war ihr Liebling und sie begegnete keinem ihrer Kinder so liebevoll wie ihm, deshalb wurde sie auch »Um Fuad« [»Mutter von Fuad«, Anm. d. Übers.] genannt. Männer werden häufig durch die Beziehung und Einstellung zu ihren Brüdern geprägt. In vielerlei Hinsicht nahmen die beiden Brüder Aziz und Fuad eine Beschützerrolle füreinander ein, doch bisweilen neigten sie auch zu brüderlicher Rivalität. Bis ins hohe Alter zog es Fuad vor, die zweite Geige zu spielen. Nach der israelischen Besetzung schrieb er viele Jahre lang anonyme Artikel für die Lokalzeitung Al-Quds. Er muss oft gedacht haben, im Schatten seines älteren Bruders zu stehen, der während seiner gesamten Laufbahn große und kontroverse Fälle bearbeitete, über die die Presse ausführlich berichtete. Mein Vater hingegen fühlte sich als derjenige, der weniger geliebt und wertgeschätzt wurde. Als er älter und mutiger wurde, kritisierte Aziz die risikoscheue Haltung seines Bruders. Der deutlich diplomatischere Fuad litt derweil darunter, von seinem Bruder ständig dafür ermahnt zu werden, dass er in Sachen Politik zu zurückhaltend sei. Diese beiden Fotos zeigen meinen Großvater väterlicherseits Boulos mit seiner zweiten Frau Mary und ihren beiden Kindern Fuad und Najla im Vorgarten ihres Hauses in Jerusalem. Ihre Beziehung war kompliziert – zugleich von Liebe und Nähe als auch von Konkurrenzdenken und Eifersucht geprägt. Je nach Zeitpunkt und Situation sah sich einer der beiden als eine Art Vater des anderen. Aziz schien das Bedürfnis zu haben, sich um Fuad zu kümmern, und doch versuchte der jüngere Mann, der seinen Bruder respektierte, allzu oft, Aziz’ Exzesse und Risikobereitschaft einzuschränken. Er sah sich als Behüter seines Bruders. Aziz war ein Einzelgänger. Er hatte große Pläne, wollte etwas Besonderes sein und aus der Masse herausstechen. Fuad belastete die Abenteuerlust seines Bruders und er versuchte immer, ihn zu bremsen, was Aziz ihm oft übelnahm. »Was sollen wir jetzt machen?«, fragte er, wenn er wieder einmal einen politischen Rückschlag hinnehmen musste, worauf Fuad meist antwortete: »Nichts, denn es ist alles zum Scheitern verurteilt.« »Sollen wir etwa mit gefalteten Händen dasitzen?!«, rief mein Vater dann immer erzürnt aus. Gegen Ende seines langen Lebens verlor Fuad völlig die Hoffnung, was die Zukunft Palästinas betraf. Einer Frau sagte er einmal etwas, was diese niemals vergaß: »Sie und Ihre Kinder können vielleicht in Palästina begraben werden, aber seien Sie sich sicher, dass Ihre Enkel in Palästina nicht einmal mehr begraben werden können. Es wird kein Palästinenser mehr hier sein. Das ganze Land wird uns weggenommen worden sein.« 1979 erblindete mein Onkel auf einem Auge durch einen Autounfall auf der Straße nach Jenin. Ich sah, wie sehr mein Vater darunter litt; er tat alles, was er konnte, um es seinem Bruder so angenehm wie möglich zu machen. Eigentlich sollte er in dieser Zeit in die USA reisen, um an der Harvard University zu arbeiten, und er zerbrach sich den Kopf darüber, ob er seine Reise absagen sollte. Ich sah auch, wie die beiden sich mit Arbeit ablenkten, um sich nicht mit ihren Gefühlen auseinandersetzen zu müssen. Fuad war der weltlichere von beiden und überlebte, indem er seine Erwartungen niedrig hielt, um sich selbst Enttäuschungen zu ersparen, während mein Vater ein Visionär war. Nach dem Unfall bestand mein Vater darauf, dass Fuad einen eigenen Fahrer bekam, und besorgte ihm diesen auf Kosten des Büros. Doch als Fuad auch auf dem anderen Auge die Sehkraft verlor und notärztlich versorgt werden musste, aß mein Vater gerade bei einem Freund in Jerusalem zu Abend. Fuads Frau Labibeh versuchte, ihn zu erreichen, aber es gelang ihr nicht – damals gab es noch keine Handys. Wie sehr mein Vater bedauerte, dass er nicht da war, um seinem Bruder zu helfen! Fuad schien immer mit dem Schlimmsten zu rechnen. Bevor er sein Augenlicht gänzlich verlor, ertappte ihn seine Frau einmal dabei, wie er die Treppenstufen zu seinem Büro zählte. Als sie ihn fragte, was er da mache, antwortete er: »Ich zähle die Stufen, damit ich weiß, wie viele ich steigen muss, wenn ich mein Augenlicht verloren habe.« – »Gott bewahre«, rief sie besorgt aus. Er hingegen war bereit, sein Schicksal zu akzeptieren. Wann immer wir ihm aufgeregt Neuigkeiten über vielversprechende Entwicklungen bei der Regeneration des Sehnervs, der bei dem Autounfall durchtrennt worden war, mitteilten, machte er deutlich, dass er nichts davon hören wollte. Er versuchte, sein Schicksal zu akzeptieren. Unerfüllte Hoffnungen würden seine Qualen nur noch unerträglicher machen. Und tatsächlich passte er sich so gut an, dass er uns zwischenzeitlich vergessen ließ, dass er blind war. Am Ende starb er 2019, ohne vorher seine Sehkraft zurückerlangt zu haben. Er war ein ganz und gar außergewöhnlicher Mann. Obwohl körperlich gebrechlich, mit zarten, filigranen Fingern...