Sheers I Saw a Man
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-15429-5
Verlag: DVA
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-641-15429-5
Verlag: DVA
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nach dem tragischen Tod seiner Frau Caroline, die als Journalistin bei einem Auslandsdreh in Afghanistan ums Leben gekommen ist, erträgt Michael es nicht länger im gemeinsamen Heim in Wales. In dem Versuch, ein neues Leben zu beginnen, zieht er nach London, wo er auf die Nelsons trifft: Josh, Samantha und ihre zwei Töchter wohnen im Haus nebenan, und aus einer Zufallsbekanntschaft wird schnell - allzu schnell? - eine intensive Freundschaft. Michael geht bei den Nelsons wie selbstverständlich ein und aus, bis er eines Samstagnachmittags ihre Hintertür halb offen stehend vorfindet. In dem Gefühl, dass etwas nicht stimmt, betritt er das augenscheinlich leere Haus ... und setzt damit eine Folge von Ereignissen in Gang, die ihrer aller Leben schlagartig und auf immer verändern wird.
Ein tiefgreifender, packender Roman über Verlust, Schuld und die heimtückische Natur von Geheimnissen.
Owen Sheers, geboren 1974 in Fidschi, lebt nach einer Zeit in London heute wieder in Wales, wo er auch aufgewachsen ist. Vielseitig talentiert, lässt er sich nur schwer auf eine Form festlegen - zu seinen publizierten Werken zählen Dramen, Libretti, Gedichte und ein Sachbuch. Der Debütroman 'Resistance' wurde in zehn Sprachen übersetzt und mit Michael Sheen in der Hauptrolle verfilmt. Sheers wurde u.a. mit dem Somerset Maugham Award, der Hay Festival Poetry Medal und dem Amnesty International Freedom of Expression Award ausgezeichnet. 'I Saw a Man' ist sein zweiter Roman.
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Josh hatte er gleich am ersten Abend kennengelernt. Michael hätte nie gedacht, dass er noch einmal in London landen würde. Aber nachdem seine Frau Caroline von einem zweiwöchigen Auslandseinsatz in Pakistan nicht zurückgekehrt war, hatte er beschlossen, das gemeinsame Cottage in Wales zu verkaufen und wieder in die Hauptstadt zu ziehen.
Coed y Bryn war ein altes walisisches Langhaus mit niedrigen Decken und angeschlossenem Stall in einsamer Hanglage außerhalb von Chepstow. Das nächstgelegene Gebäude war eine kleine Kapelle, die jedoch nur noch für Hochzeiten und Beerdigungen genutzt wurde. Wenn man in Coed y Bryn aus dem Fenster schaute, sah man nichts als Wald und Himmel. Kein Ort zum Alleinsein, meinten seine Freunde. Jetzt, wo Caroline nicht mehr da sei, sagten sie, brauche er Menschen um sich, Abwechslung. Peter, ein Arbeitskollege, hatte ihm dann die Wohnung angeboten, möbliert, in einem Mietshaus aus den Fünfzigerjahren mit Blick auf Hampstead Heath. Erst hatte er die Mail mit der Objektbeschreibung tagelang nicht geöffnet, aber eines einsamen Abends, nach einem von vielen einsamen Tagen, hatte er eine Flasche Wein aufgemacht und sich mit dem Laptop an den Kamin gesetzt. Peters Mail enthielt mehrere Anhänge.
Das erste Bild zeigte zwei breite Fenster, dahinter Bäume und die sanfte Hügellandschaft von Hampstead Heath. Und während sich der Herbstwind gegen das Cottage stemmte, scrollte Michael weiter. Eine breite Straße, gesäumt von einer geschlossenen Reihe georgianischer Stadthäuser, hier und da durchbrochen von modernen Mehrfamilienhäusern. Die Wohnung verfügte über insgesamt drei eher dürftig ausgestattete Zimmer mit vergammeltem Teppichboden sowie eine Junggesellenküche, ein altmodischer Schlauch in Beige und Grün.
Die Wohnung hatte zweifellos eine bewegte Vergangenheit. Wie viele Vormieter wohl schon an diesen Fenstern gestanden, in diesen Betten gelegen hatten? Jetzt, wo Caroline nicht mehr da war, brauchte er eigentlich dringend einen Neuanfang. Aber genau das, einen Neuanfang, wollte er nicht. Also schrieb er Peter, er werde die Wohnung nehmen. Zum einen, weil sie seinen Bedürfnissen entgegenkam: Sie war eher eine Zwischenstation. Zum anderen, weil er wusste, dass Peter nur tat, worum ihn Caroline gebeten hatte, nämlich sich um ihn zu kümmern. Wenn er sich jetzt für diese Wohnung entschied und nach London zog, betrachtete Peter seine Aufgabe womöglich als erledigt und würde ihn mit weiteren Hilfsangeboten verschonen.
Als sie damals nach Wales gezogen waren, hatten sie den größten verfügbaren Möbelwagen mieten müssen, um ihre gemeinsamen Habseligkeiten nach Coed y Bryn zu schaffen. Mit Mitte dreißig waren sie beide nicht mehr ganz jung und hatten trotz ihrer ungebundenen Lebensweise weit mehr gehortet als weggeworfen. Michaels persönlicher Besitz, hauptsächlich Bücher, war entweder eingelagert oder stapelte sich noch immer in den Gästezimmern von Freunden diesseits und jenseits des Atlantiks. Sogar der ganze alte Kram aus seiner Jugendzeit existierte noch, auf dem Dachboden seiner inzwischen verstorbenen Eltern in Cornwall. Caroline hatte ihrer Nomadenexistenz zum Trotz wie besessen Kunstgegenstände, Schuhe und Möbel angehäuft. Mit dem, was die beiden im Laufe von zehn Jahren angesammelt hatten, hätte man ein Haus vollstopfen können, das doppelt so groß war wie Coed y Bryn.
Für Caroline, Auslandskorrespondentin bei einem amerikanischen Privatsender, war das Cottage der vorläufige Endpunkt einer langen Liste von Adressen, an der sich lückenlos ablesen ließ, aus welchen Regionen sie berichtet hatte. Seit ihrem Studienabschluss hatte sie auf diversen Kontinenten gelebt, aber stets provisorisch, in kleinen Apartments, WGs oder Dienstwohnungen des Senders, in Kapstadt, Nairobi, Sydney, Beirut und Berlin. 2001, mit Ende zwanzig, hatte sie eine usbekische Einheit der Nordallianz als eingebettete Reporterin auf ihrem Vormarsch nach Kabul begleitet. Ihren Dreißigsten hatte sie mit einer Flasche Jack Daniel’s und einem US-Marine in einem Panzerfahrzeug am Stadtrand von Bagdad gefeiert. Vor Michael war ihr Leben eine erratische Kette von Erregungszuständen gewesen. Nur in Flughäfen fand sie so etwas wie Ruhe, als sei der Transitbereich ihre eigentliche Heimat. Abflug- und Ankunftshallen prägten ihre Erinnerung und markierten die einzelnen Kapitel ihres Lebens. Sich dem Rhythmus der Ereignisse zu unterwerfen, von heute auf morgen ans andere Ende der Welt beordert zu werden, ohne Einfluss auf Zeitpunkt oder Ziel, war ihre Form der Freiheit. Sie kannte es nicht anders. Geboren in Kapstadt, aufgewachsen in Melbourne, Studium in Boston. Immer war sie irgendwo die Neue gewesen, die Außenseiterin, die es vorgezogen hatte, Erworbenes zurückzulassen und mit leichtem Gepäck weiterzuziehen.
Mit den Jahren gewöhnte sie sich an die stete Unstetigkeit, prahlte mit ihrem wahrhaft grenzenlosen Anpassungsvermögen und hielt Bindungslosigkeit für eine prima Sache. Wenn sie in Schiphol umstieg, legte ihre gebräunte Haut anschaulich Zeugnis davon ab, dass sie noch tags zuvor durch Wüsten, Suqs und Basare gestiefelt war. In Clubs oder Bars wirkte das Flüchtige ihrer Existenz auf Männer wie ein Pheromon. Jetzt oder nie, das versuchte sie ihnen zu vermitteln, und in ihrem direkten Blick lag eine Präsenz, die man bei so einer zierlichen Person niemals vermutet hätte. Dabei schminkte sie sich nur selten, und auch ihre Haare waren nicht annähernd so gepflegt wie die der anderen Frauen, die an der Hotelbar hockten. Manchmal, wenn sie gerade erst gelandet war, hing sogar noch der abgestandene Schweißgeruch eines Langstreckenflugs in ihren Kleidern.
Die Männer kamen trotzdem. Bürohengste, deren Körper noch den Anzug verrieten, selbst wenn sie Freizeitkleidung trugen. Egal wo, ob in Cafés, Kneipen oder auf der Straße, sie erkannten Carolines Einmaligkeit. Sie war wie ein Komet, und sie wussten, dass sie ihre Nacht nur ein einziges Mal erhellen würde.
Caroline wurde Zeuge von Gräueltaten auf der ganzen Welt. Sie sah, was der Mensch dem Menschen antun konnte. Sie verlor Freunde, in Bosnien, Afghanistan, Sri Lanka, im Libanon und im Irak. Eines Abends in Kabul wurde ihr afghanischer Dolmetscher mit ausgestochenen Augen und herausgeschnittener Zunge tot in seiner Wohnung aufgefunden. Das alles belastete sie sehr, und ihre Familie machte sich Sorgen. Dennoch waren die vielen Toten für sie bloß unvermeidliche Begleiterscheinungen, der Preis, den sie für ihre Lebensweise zu zahlen hatte. Sie nahm dies so selbstverständlich hin wie die vielen Abschiede und zerbrochenen Freundschaften.
Natürlich war sie nicht immer glücklich. Mit Anfang dreißig stellte sie fest, dass sie zunehmend oberflächlich wurde und nichts ertrug, was längere Betrachtung oder Tiefe verlangte. Aber im Großen und Ganzen war sie mit ihrer Welt zufrieden. Sie betrachtete das Leben als ein Musikinstrument, für das man nur die richtige Melodie zu finden brauchte, und in dieser Hinsicht hatte sie Glück gehabt. Sie hatte ihre Melodie schon früh gefunden, und sie beherrschte sie virtuos.
Doch dann wachte sie eines Morgens in einem Hotelzimmer in Dubai auf, und plötzlich war alles anders. Als wäre ihr bewusst geworden, dass der Preis, den sie für ihr Leben gezahlt hatte, in keiner Relation zu seinem tatsächlichen Wert stand. Was ihr eben noch positiv erschienen war, verkehrte sich auf einen Schlag ins Negative. Eine Woche zuvor war ihre Tante gestorben, und sie, Caroline, war nicht zum Begräbnis nach Australien gereist. Das gehe schon in Ordnung, hatte ihre Mutter ihr versichert, alle könnten das verstehen. Caroline fragte sich bis zuletzt, ob dieses Telefongespräch der Auslöser gewesen war. Damals hätte sie wahrscheinlich gesagt: eher nicht. Doch wie auch immer, sie wollte einen Schlussstrich ziehen, eine andere Melodie spielen. Sie wollte morgens aufwachen und wissen, wo sie war. Sie wollte gewollt werden, vermisst und gebraucht. Alle hatten immer nur Verständnis, niemand hatte Sehnsucht.
Wieder in Beirut, ließ sie sich nach London versetzen. London lag eine halbe Weltreise von Melbourne entfernt, aber sie wollte nicht nach Hause. Und auch nicht nach Amerika. Sie wollte an einen Ort, der älter war als Australien oder die USA, und so entschied sie sich für London. London war der große Knotenpunkt, all ihre verstreuten Freunde und Bekannten – Kameraleute, Fotojournalisten, Redakteure, Reporter – fanden sich von Zeit zu Zeit dort ein. Aber London war nicht nur Knotenpunkt, sondern auch Sprungbrett nach ganz Europa. Der Kontinent würde ihr Zuflucht bieten, wenn der Drang sie überkam und sie von Neuem fortgehen und ankommen musste.
Im Gegensatz zu Caroline hatte Michael, abgesehen von seinem Elternhaus und einer Wohnung in Manhattan, lediglich Londoner Adressen vorzuweisen. Nach dem Studium war er nicht nach Cornwall zurückgekehrt, sondern in London geblieben und hatte als Volontär beim Evening Standard angefangen. In den nächsten fünf Jahren schrieb er als freier Mitarbeiter Promi-Kolumnen, Kritiken, Reportagen und Kommentare, und mit der Länge seiner Artikel wuchs auch sein Gehalt. Mit Ende zwanzig jedoch begann er beim Anblick einiger älterer Kollegen zu befürchten, dass dieser Weg über kurz oder lang in die völlige Erstarrung führen könnte, und so verließ er den Standard und zog nach New York, ausgestattet mit einem Journalistenvisum und den Zusagen diverser englischer Zeitungsmacher, die er als freier Korrespondent mit Storys aus dem Big Apple beliefern sollte. Und Michael lieferte. Doch er war nicht nach Amerika gezogen, um dort auf denselben ausgetretenen Pfaden zu wandeln wie in England. Er war hierhergekommen, um sich...