Roman
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-641-18450-6
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
London, Ende der vierziger Jahre: Die junge Schriftstellerin Juliet erhält einen ungewöhnlichen Brief. Absender ist Dawsey Adams, ein Bauer von der Kanalinsel Guernsey, der antiquarisch ein Buch erworben hat, das zuvor ihr gehörte. Zwischen den beiden entspinnt sich ein Briefwechsel, durch den Juliet von der Existenz der »Guernseyer Freunde von Dichtung und Kartoffelschalenauflauf« erfährt, einer literarischen Gesellschaft, die einige der Inselbewohner gründeten, um sich über die schwere Kriegszeit hinwegzuhelfen. Je mehr Juliet über Dawsey und die anderen erfährt, desto mehr wünscht sie sich diese Menschen zu treffen. Und so beschließt sie, auf die Insel zu reisen. Dort stößt Juliet auf die Geschichte von Elizabeth, einem verschollenen Mitglied des Clubs, und ihrer großen Liebe zu einem deutschen Offizier. Und sie lernt Dawsey immer besser kennen...
Mary Ann Shaffer, geboren 1934 in Martinsburg, West Virginia, arbeitete als Buchhändlerin und Bibliothekarin. Leider erlebte sie den ungeheuren Erfolg ihres ersten Romans nicht mehr. »Deine Juliet« erschien wenige Monate nach ihrem Tod. Ihre Nichte Annie Barrows, die sich bereits als Kinderbuchautorin einen Namen gemacht hat, half ihr kurz vor ihrem Tod bei der Fertigstellung des Buches.
Weitere Infos & Material
Juliet an Sidney
22. Mai 1946
Lieber Sidney,
ich habe Dir so viel zu erzählen. Erst zwanzig Stunden bin ich auf Guernsey, doch jede einzelne war so voll von neuen Gesichtern und Gedanken, dass ich Bände schreiben könnte. Siehst Du, wie förderlich das Inselleben dem Schreiben ist? Denk an Victor Hugo – wenn ich eine Zeit lang hierbleibe, wird es aus meiner Feder nur so sprudeln.
Die Überfahrt von Weymouth war scheußlich, das Postschiff ächzte und knarzte zum Gotterbarmen und drohte bei jeder Welle auseinanderzubrechen. Fast hätte ich es mir gewünscht, damit mein Elend ein Ende hätte, aber ich wollte doch vor meinem Tod noch Guernsey sehen. Und sobald die Insel in Sicht war, habe ich den Gedanken ganz aufgegeben, weil die Sonne zwischen den Wolken hervorbrach und die Klippen in silbrig glänzendes Licht tauchte.
Als das Postschiff in den Hafen schlingerte, sah ich St. Peter Port, das vom Meer aus in Terrassen ansteigt bis zu einer Kirche, die wie eine Tortendekoration auf der Spitze thront. Das Herz schlug mir bis zum Hals, und obwohl ich mir einzureden versuchte, es sei die Landschaft, die mir den Atem raubte, wusste ich es doch besser. All die Menschen, die ich durch ihre Briefe kennen- und auch ein wenig lieben gelernt habe, warteten da – auf mich. Und kein Blatt Papier weit und breit, um mich dahinter zu verstecken. Sidney, in den vergangenen zwei, drei Jahren bin ich im Schreiben besser geworden als im Leben – und bedenke dabei, was Du erst aus meinen Manuskripten machst. Auf dem Papier bin ich schlicht bezaubernd, aber das ist nur ein Kunstgriff, den ich mir angeeignet habe. Mit mir selbst hat es nichts zu tun. Zumindest dachte ich das, als das Postschiff sich dem Anleger näherte. Ich habe sogar die feige Anwandlung verspürt, mein rotes Cape über Bord zu werfen und so zu tun, als sei ich jemand anders.
Als wir anlegten, sah ich die Gesichter der Wartenden – und da gab es kein Zurück mehr. Ich erkannte sie, aus ihren Briefen. Da stand Isola mit einem verrückten Hut und einem purpurnen Schultertuch, das eine glitzernde Brosche zusammenhielt. Sie lächelte gebannt in die verkehrte Richtung, und ich schloss sie augenblicklich ins Herz. Neben ihr stand ein Mann mit einem gefurchten Gesicht und ihm zur Seite ein langaufgeschossener, schlaksiger Junge. Eben und sein Enkel Eli. Ich winkte Eli zu, und er lächelte strahlend wie die helle Sonne und stupste seinen Großvater – und dann packte mich die Scheu, und ich tauchte in der Menge unter, die über die Brücke nach unten drängte.
Isola war – nach einem gewagten Sprung über eine Hummerkiste – als Erste bei mir und umarmte mich so stürmisch, dass ich vom Boden hochgerissen wurde. »Ah, Liebchen!«, rief sie aus und ließ mich weiter in der Luft baumeln.
Ist das nicht reizend? In ihrem eisernen Griff verging mir nicht nur Hören und Sehen, sondern auch alle Nervosität. Die anderen näherten sich mir etwas bedächtiger, aber nicht weniger herzlich. Eben schüttelte mir die Hand und lächelte. Man sieht, dass er früher kräftig und robust war, doch jetzt ist er wirklich zu dünn. Er wirkt ernst und freundlich zugleich. Wie macht er das nur? Ich hatte gleich den Wunsch, ihn zu beeindrucken.
Eli setzte sich Kit auf die Schultern und kam mit ihr zusammen zu mir. Kit hat mollige Beinchen, dunkle Locken und große graue Augen. Sie sah mich streng an, offensichtlich konnte sie mir nicht das Geringste abgewinnen. Elis Pullover war mit Holzspänen übersät, und aus seiner Tasche holte er ein Geschenk für mich hervor – eine entzückende kleine Maus mit krausen Schnurrhaaren, die er aus Walnussholz geschnitzt hatte. Ich gab ihm einen Kuss auf die Wange, und es ist ein Wunder, dass ich unter Kits böse funkelndem Blick nicht tot umgefallen bin. So viel Abweisung erlebt man bei einer Vierjährigen wahrhaftig nicht alle Tage.
Dann streckte Dawsey mir die Hände entgegen. Ich hatte erwartet, dass er Charles Lamb ähnelt, was er auch tut, zumindest ein wenig – er hat den gleichen, unverwandten Blick. Er überreichte mir einen Strauß Nelken von Booker, der nicht kommen konnte, weil er sich bei einer Probe eine Gehirnerschütterung zugezogen hatte und noch eine Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben musste. Dawsey ist dunkelhaarig und drahtig, sein Gesichtsausdruck ruhig und wachsam – bis er lächelt. Zur Beruhigung einer gewissen Schwester von Dir, er hat das hinreißendste Lächeln, das man sich nur vorstellen kann. Mir fiel ein, was Amelia über seine unglaubliche Überzeugungskraft schrieb – ich glaube ihr aufs Wort. Wie Eben, und alle anderen hier, ist er zu dünn, aber man sieht, dass er früher mehr Fleisch auf den Knochen hatte. Sein Haar ist schon ein wenig grau, und er hat tiefliegende braune Augen, so dunkel, dass sie fast schwarz erscheinen. Die Fältchen um seine Augen erwecken den Eindruck, als würde er lächeln, auch wenn er es nicht tut, doch ich glaube nicht, dass er älter ist als vierzig. Er ist nur wenig größer als ich und hinkt leicht, aber er ist stark – immerhin hat er mein gesamtes Gepäck, mich, Amelia und Kit ohne Mühe in seinen Wagen gehoben.
Ich schüttelte ihm die Hand (ob er dabei etwas sagte, weiß ich nicht mehr), und dann trat er beiseite und machte Amelia Platz. Sie gehört zu den Frauen, die mit sechzig schöner sind, als sie mit zwanzig je hätten sein können (ach, ich hoffe, eines Tages sagt das jemand auch über mich!). Klein, ein schmal geschnittenes Gesicht mit einem liebreizenden Lächeln und einem grauen Zopfkranz. Sie drückte mir fest die Hand und sagte: »Juliet, wie schön, dass Sie endlich da sind. Sehen wir zu, dass wir Ihr Gepäck auftreiben und heimkommen.« Es klang wunderbar, ganz so, als wäre es tatsächlich mein Heim.
Als wir am Anleger standen, streifte wiederholt ein Lichtstrahl meine Augen und wanderte weiter über den Kai. Isola schnaubte verächtlich und erklärte, das sei Adelaide Addison, die von ihrem Fenster aus mit dem Opernglas jede unserer Bewegungen verfolge. Mit einer energischen Handbewegung brachte sie den Strahl zum Erlöschen.
Während wir noch darüber lachten, sammelte Dawsey meine Gepäckstücke ein, achtete darauf, dass Kit nicht ins Wasser fiel, und machte sich insgesamt nützlich, wo er nur konnte. Dies ist, wie mir in dem Moment klar wurde, ein Wesenszug von ihm – ein Wesenszug, auf den sich alle anderen bedenkenlos verlassen.
Wir vier – Amelia, Kit, Dawsey und ich – fuhren in Dawseys Wagen zu Amelias Hof, der Rest ging zu Fuß. Es war kein weiter Weg, aber wir fuhren durch ganz unterschiedliche Landschaften: von St. Peter Port aufs Land, durch wellige Weiden, die unvermittelt an steilen Klippen enden, und überall riecht es feucht und salzig nach Meer. Während wir fuhren, ging die Sonne unter, und der Abenddunst stieg auf. Du weißt ja, wie der Nebel alle Geräusche verstärkt. Jedes Zwitschern klang gewichtig und symbolträchtig. Über der Steilküste ballten sich Wolken zusammen, und als wir beim Herrenhaus ankamen, bedeckte eine graue Hülle die Felder, ich sah geisterhafte Umrisse, wahrscheinlich die Betonbunker, die von den Arbeitern der Organisation Todt errichtet wurden.
Kit saß neben mir im Wagen und warf mir häufig verstohlene Blicke zu. Ich war nicht so töricht, das Wort an sie zu richten, aber ich habe meinen berühmten Daumen-Trick angewandt – Du weißt schon, bei dem ich es aussehen lasse, als wäre mein Daumen abgetrennt.
Ich wiederholte ihn mehrmals, sehr beiläufig, und sie ließ mich nicht aus den Augen. Sie war ganz bei der Sache und völlig gebannt, aber nicht leichtgläubig genug, um loszukichern. Schließlich sagte sie nur: »Zeig mir, wie du das machst.«
Beim Abendessen setzte sie sich mir gegenüber und verweigerte mit ausgestrecktem Arm ihren Spinat, die Hand erhoben wie ein Schutzmann. »Für mich nicht«, sagte sie, und ich für meinen Teil hätte nie gewagt, ihr zu widersprechen. Sie zog ihren Stuhl nahe an den von Dawsey heran und ließ beim Essen einen Ellenbogen auf seinem Arm ruhen, nagelte ihn förmlich fest. Ihm machte es offenbar nichts aus, obwohl es ihn beim Zerschneiden des Huhns ziemlich behinderte. Nach dem Essen kletterte sie sofort auf seinen Schoß, der offenbar ihr angestammter Thron ist. Dawsey schien der Unterhaltung durchaus zu folgen, aber mir ist nicht entgangen, dass er aus seiner Serviette Kaninchenohren herauswachsen ließ, während wir über die Lebensmittelknappheit in der Besatzungszeit sprachen. Wusstest Du, dass die Inselbewohner Vogelfutter zu Mehl verarbeitet haben, bis es ihnen ausging?
Ich muss wohl einen Test bestanden haben, von dem ich gar nichts ahnte, denn Kit wollte von mir zu Bett gebracht werden. Ich sollte ihr eine Geschichte von einem Frettchen erzählen. Sie sagte: »Ich mag Schädlinge gern, und du? Würdest du eine Ratte auf die Lippen küssen?« Ich sagte: »Niemals«, und das nahm sie offenbar für mich ein – ich war zwar zweifellos ein Feigling, aber jedenfalls keine Heuchlerin. Ich erzählte ihr eine Geschichte, und sie hielt mir, den Kopf eine Idee zur Seite gewandt, die Wange zum Kuss hin.
Was für ein langer Brief – und er beinhaltet nur die ersten vier von zwanzig Stunden. Mit den restlichen sechzehn wirst Du Dich gedulden müssen.
Liebste Grüße,
Juliet
Juliet an Sophie
24. Mai 1946
Liebste Sophie,
ja, ich bin hier. Mark hat alles getan, um mich aufzuhalten, aber ich bin stur geblieben, bis zum bitteren Ende. Ich habe Starrköpfigkeit ja immer für eine meiner unliebenswürdigsten Eigenschaften gehalten, aber in der vergangenen Woche hat sie mir wirklich genützt.
Erst als das Boot ablegte und ich ihn am Anleger stehen sah, hochgewachsen...