E-Book, Deutsch, Band 2, 480 Seiten
Reihe: Die Frühstücksfrauen-Reihe
Seifert Wo die Lupinen blühen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-641-32852-8
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Frühstücksfrauen - Roman
E-Book, Deutsch, Band 2, 480 Seiten
Reihe: Die Frühstücksfrauen-Reihe
ISBN: 978-3-641-32852-8
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
1952: Ein DDR-Flüchtling wird an der innerdeutschen Grenze nahe des kleinen Örtchens Hohegeiß erschossen. Ruth und andere Bewohner, die den Vorfall beobachtet haben, glauben, dass es sich um Ruths Verlobten Friedrich handelt …
2025: Die Welt der optimistischen Dreifachmutter Romy gerät ins Wanken, als ihr Mann seinen Job verliert und sie bittet, das Häuschen im Harz zu verkaufen, das Oma Ruth ihr vererbt hat. Glückliche Kindheitserinnerungen lassen sie zögern. Sie fährt mit ihren Freundinnen – den »Frühstücksfrauen« – nach Hohegeiß und kommt dort einer tragischen Liebesgeschichte auf die Spur …
Eva Seifert schreibt berühend über Frauenschicksale und die besondere Bedeutung von Familie. Lesen Sie auch ihre anderen bewegenden Romane!
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Ruth
Juli 1950
Es war ein warmer Sommer. Vielleicht würde er nicht ganz so heiß werden wie jener vor drei Jahren, der allen Menschen hier in der Gegend nach dem harten und entbehrungsreichen Winter ein Stück weit ihre Lebensfreude zurückgebracht hatte, aber das musste er für Ruth Hagedorns Geschmack auch gar nicht. Für sie reichte es, wenn Obst und Gemüse im Garten gediehen, wenn ihre Kühe auf der Weide frisches grünes Gras zum Fressen vorfanden, wenn sie selbst bei gutem Wetter auf dem Feld arbeiten konnte und nicht im strömenden Regen stehen musste, der die Äcker in Schlammwüsten verwandelte und noch dazu die Ernte verdarb. Ruth genoss die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut, den Duft der Wiesenblumen, das sachte Pusten des Windes, das in den Bäumen ein zartes Rascheln hervorrief und die Grashalme wogen ließ, als wären sie das Meer.
Dies war das Jahr, in dem sie neunzehn geworden war – noch zwei Jahre bis zur Volljährigkeit –, und Ruth spürte, dass sich etwas verändert hatte. Nicht nur körperlich – sie war inzwischen eindeutig eine Frau; obwohl ihre Brüste verhältnismäßig klein geblieben waren und ihre Hüften schmal, so waren diese Rundungen nicht mehr zu leugnen. Sie spürte, wie ihr Gang sich verändert hatte, und auch in ihrem Gesicht hatte eine Wandlung stattgefunden, es war zwar immer noch kantig, aber doch weicher geworden. Besonders verändert hatten sich jedoch die Blicke der anderen. Einige der Männer im Dorf betrachteten sie, je nach Charakter, musternd, abschätzig, lüstern, anerkennend, bewundernd oder interessiert. Viele sahen in ihr natürlich schlichtweg die Ruth, die sie schon all die Jahre kannten, die 1931 hier in Hohegeiß zur Welt gekommen und kurz darauf getauft worden war, die mit den anderen zur Schule gegangen war, die, wie alle Dorfbewohner, die schrecklichen Verluste und Entbehrungen der Kriegsjahre hatte ertragen müssen, und die tagein, tagaus auf dem Feld und im Stall schuftete, die zäh war, wenig klagte und insgesamt nicht sehr gesprächig war. Die sich nicht an Klatsch und Tratsch beteiligte und sich bei ausufernden Feierlichkeiten wie den Schützenfesten lieber im Hintergrund hielt. Auch die Frauen betrachteten und behandelten sie nun anders: manche wohlmeinend mit einem Ausdruck, der bedeuten mochte, dass sie Ruth nun als eine von ihnen ansahen, manche, die Ruth über ihre Kleidung, die Länge ihrer Haare, ihren Gang oder die Art, wie sie sich gab und wie sie redete, beurteilten, und wieder andere, die sie als Konkurrenz um die Gunst der wenigen gesunden Männer empfanden. Ruth war das alles weitgehend egal. Sie interessierte sich nicht für die Herren der Schöpfung, kannte die Jungen aus dem Ort ohnehin alle schon, als sie noch in die Hosen gemacht hatten, und fand keinen unter ihnen, mit dem sie mehr Zeit als nötig verbringen wollte. Sicherlich hatten auch sie sich verändert, waren herangewachsen, hatten markantere Gesichtszüge und breitere Schultern bekommen, waren teilweise vielleicht sogar gereift. Dennoch, keiner der Burschen in ihrem Alter übte auch nur den geringsten Reiz auf sie aus.
Sie war zufrieden, so wie es war. Wenn da nur nicht immer wieder diese schreckliche Trauer um ihre Brüder und ihre Mutter wäre. Und diese grässliche Grenzlinie, die seit nunmehr fünf Jahren hinter ihrem Ort entlangführte, Ruth konnte sich einfach nicht daran gewöhnen. Dass sie nicht mehr in die Nachbarorte durften, dass überall Bänder und Fähnchen hingehängt wurden als Markierung, hier und da sogar Straßensperrungen errichtet wurden, weil dahinter eine andere Zone begann. Eine andere Zone? Was sollte das überhaupt? Westzone – Sowjetzone. Und seit ein paar Monaten war das hier die Bundesrepublik und drüben die Deutsche Demokratische Republik. So ein Unsinn.
Drüben passten die Sowjets darauf auf, dass die Bevölkerung nicht wieder Blödsinn anstellte, hier bei ihnen waren es die Briten. Irgendwie konnten sich die vier Besatzungsmächte nicht einigen, das hieß, drei konnten es wohl schon, nur mit der vierten klappte es nicht. Und jetzt mussten sie darunter leiden. Ihrer aller Familien lebten seit Generationen hier in der Gegend, in Hohegeiß, in Benneckenstein, in Sorge, Braunlage und Tanne. Niemals hatte es irgendjemanden interessiert, dass der eine Ort zum Herzogtum Braunschweig und der andere zum Königreich Preußen gehörte, aber auf einmal war es wichtig. Nach diesen alten Gebietsabgrenzungen hatte man die neuen Grenzen gezogen; Schlagbäume waren an den Verbindungsstraßen zwischen den Ortschaften errichtet worden, und es wurde jeder kontrolliert, der auf die andere Seite wollte. Und so ging es nicht nur ihnen hier im Harz – überall in Deutschland waren plötzlich Familien auseinandergerissen und Freunde getrennt worden. Niemand verstand das, niemand konnte sich daran gewöhnen.
Dann diese schreckliche Lage in Berlin, die Blockade durch die Sowjets, die armen Menschen, die im vergangenen Jahr durch die Luft hatten versorgt werden müssen.
Es hätte eigentlich alles gut sein können, dieser unsägliche Krieg war Gott sei Dank vorüber, sie konnten in Frieden leben und hatten genug zu essen. Überall spürte man, dass es den Menschen allmählich etwas besser ging. Man hörte wieder Vogelgezwitscher statt Kanonengrollen und Sirenen, die vor Fliegeralarm warnten. Sie konnten wieder Dinge im Laden kaufen und ohne Angst umherstreifen. Und doch gab es Grund zur Sorge: Ihre Ackerflächen lagen nun fast alle in der DDR. Sie als Bauern brauchten eine Genehmigung, um ihr Land auf der anderen Seite zu bestellen. Das immerhin ging noch. Aber sie durften nicht mehr nach Benneckenstein wie früher. Ihre Schule war dort gewesen, ebenso wie Vaters Friseur. Viele hatten Angehörige im Ort oder in Wernigerode und Blankenburg.
Es strömten nicht mehr so viele Menschen ins Land, Flüchtlinge und Vertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, wie noch vor Kurzem. Sie wurden nach wie vor weitgehend durchgelassen auf dem Weg in eine neue Heimat, wo auch immer die sein mochte. Im Vergleich zu ihnen ging es den Harzbewohnern gut. Ihre Einschränkungen waren geringer. Sie mussten nur damit leben, dass direkt hinter ihren Grundstücken zunächst sowjetische Soldaten patrouilliert hatten, die inzwischen von der ostdeutschen Grenzpolizei abgelöst worden waren. Unter deren strengen, argwöhnischen Blicken gingen sie zur Kartoffelernte, brachten ihre Rinder auf die Weiden und zurück in den Stall und machten den Heuschnitt. Auch dieses Jahr wieder.
Jeden Morgen und Abend fuhren Vater und sie mit ihrem Pferdewagen zum Wenden raus, damit das geschnittene Gras trocknen konnte. Als die Russen noch aufgepasst hatten, war Vater immer voller Angst gewesen, dass man ihr etwas antun könnte. Sie war bei Kriegsende 1945 mit ihren vierzehn Jahren kein Kind mehr gewesen. Und das hatte Nachteile. Manche Frauen, die durch ihr Dorf gezogen waren, hatten von schlimmen Dingen berichtet, die ihnen oder anderen passiert waren. Auf ihrem Weg hierher, aber auch bei den Grenzkontrollen … Ruth war froh, davongekommen zu sein, und fürchtete sich inzwischen vor allem davor, dass ihrem Vater etwas zustoßen könnte. Dass er die Beherrschung verlieren könnte, wenn die deutschen Gehilfen der Sowjets ihn provozieren mochten. Sie wollte sich nicht ausmalen, was dann wäre, denn sie hatten nur noch sich, nachdem ihre Brüder und die Mutter viel zu früh aus dem Leben gerissen worden waren. Ruth sah ihre Mutter noch vor sich, wie sie den ersten Brief mit Erwins Todesnachricht erhalten hatte. Der Verlust ihres zweitgeborenen Sohnes hatte die Mutter schier um den Verstand gebracht, sie, der Vater und Ruth hatten sich die Seele aus dem Leib geschrien und geweint. Erwin war ein solcher Sonnenschein gewesen, blond, mit abstehenden Ohren, strahlend und immer fröhlich. Er hatte nur sechzehn Jahre alt werden dürfen. Ihre Mutter war da wahrscheinlich schon krank gewesen, aber sie hatten es für eine Erkältung gehalten, nicht für die Schwindsucht.
Nur wenige Monate später hatten sie auch die Nachricht vom Tod ihres ältesten Bruders erhalten. Alfred, der das genaue Gegenteil von Erwin gewesen war, vom Aussehen her wie vom Gemüt. Er war nachdenklich, ernsthaft und still gewesen, Ruth hatte ihn verehrt.
Wenigstens der Vater hatte in den Kriegsjahren bei ihnen bleiben dürfen, weil sie sonst die Landwirtschaft nicht hätten aufrechterhalten können – und die galt wegen der Versorgung der Bevölkerung als unerlässlich. Doch danach hatte Ruth mitansehen müssen, wie ihre Mutter immer weniger geworden war, geplagt von hohem Fieber, Schlaf- und Appetitlosigkeit und diesem grässlichen Husten. Eines Tages hatte sie die blutigen Taschentücher unter dem Bett entdeckt, die ihre Mutter vor ihnen hatte verstecken wollen. Vater hatte sich sogleich um einen Platz im Sanatorium auf dem Ochsenberg für sie bemüht. Aber als die Mutter abgeholt worden war, war sie nur mehr ein Schatten ihrer selbst gewesen, hatte immer wieder Blut gehustet und war bereits zu schwach gewesen, um noch auf den Wagen zu steigen. Vater hatte sie hinaufheben müssen. Es war das letzte Mal gewesen, dass Ruth und ihr Vater die Mutter lebend gesehen hatten.
Wie immer, wenn Ruth an sie dachte, musste sie mit den Tränen kämpfen. Sie biss sich auf die Lippe und versuchte, sie wegzublinzeln.
Heute saß sie allein auf dem Pferdegespann, das die treue alte Lotte zog. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch, denn der Vati war krank. Er hustete und hatte Fieber. Es erinnerte sie an Mama, und sie hatte den Arzt aus Braunlage kommen lassen. Es sei keine Tuberkulose, hatte dieser sie beruhigen können, Hermann Hagedorn jedoch strengste Bettruhe...




