E-Book, Deutsch, 421 Seiten
ISBN: 978-3-95890-146-9
Verlag: Europa Verlage
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Während die Nazifizierung in der Botschaft weiter voranschreitet, gibt es auf einmal Heimlichkeiten und Getuschel. Warum wird Ernst vom japanischen Geheimdienst beobachtet? Ist sein Freund Alexander ein Spion? Sucht er deshalb die Nähe zu Ernst? Und wie soll Elisabeth damit umgehen, dass ihr Herz für den falschen Mann schlägt? Mit historischer Präzision und viel psychologischem Gespür zeichnet Katharina Seewald in Demnächst in Tokio die fesselnde Geschichte einer Ménage à trois in Zeiten des Nationalsozialismus."
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Zweieinhalb Tage waren es bis Moskau. Fünfzehn bis Wladiwostok. Die längste Bahnfahrt meines Lebens lag vor mir. Wir hatten Berlin noch nicht hinter uns gelassen. Vor dem Fenster zogen die tristen Fassaden von immer ärmlicheren Vierteln an uns vorüber, als mir Fräulein Degenhardt den ersten Strang des wollweißen Garnes reichte, von dem ihr Koffer überquoll. Sie musterte mich mit dem gleichen Misstrauen wie meine Mutter einen Korb voll Zwetschgen auf dem Markt, wenn sie fürchtete, dass der Wurm drin war. Eine neue Flut von Tränen stieg in mir auf, doch wenn ich eines von Vater gelernt hatte, dann nur nach innen zu weinen. Ich putzte mir die Nase, löste die Verschlingung, streifte mir die Wolle in die Winkel zwischen Daumen und Zeigefinger, hielt sie meiner Begleiterin hin und lächelte zaghaft. Sie war jetzt der einzige Mensch, den ich noch kannte, wenn man von kennen reden kann. Ihre Lippen waren wie Gardinen gefältelt. Sie durchtrennte die Knoten und fing an zu wickeln. Das Garn war weicher, als es aussah, und glitt mir geschmeidig durch die Hände. Den dunklen Sprengseln nach zu urteilen hatten auch ein paar schwarze Schafe ihren Pelz dafür gegeben. »Socken«, sagte sie, während sie den sechsten Knäuel zu den anderen legte. Es waren dicke, ebenmäßige Bälle, doch in ihren Händen wirkten sie klein. »So.« Mit der Handspanne deutete sie mir die gewünschte Länge an. Zwölf Zentimeter, schätzte ich. Kindergröße. Ich schaute sie fragend an, doch statt einer Erklärung gab sie mir ein Dreieinhalber-Nadelspiel. Ich streifte den Gummiring ab und schlug die ersten Maschen an. Irgendwo zwischen Hangelsberg und Fürstenwalde trockneten die ärgsten Tränen. Froh, nicht reden zu müssen, und dankbar für die Alltäglichkeit des Tuns, lauschte ich auf das Rattern der Räder unter mir und das Klicken der Nadeln. Ich ließ die Gedanken ziehen wie die Wolken am Himmel, wie die vorbeifliegende Landschaft. Die Wut auf den Vater. Die Angst um die Mutter. Das Grauen vor dem, was auf mich zukam und von dem ich nichts wusste. Nichts. Fichtenwälder. Berkenbrück. Jacobsdorf. Wir hatten das Abteil für uns. In Frankfurt an der Oder sah ich einen Mann auf dem Bahnsteig stehen, dem ein Arm fehlte wie meinem Vater, doch darauf beschränkte sich die Ähnlichkeit. Bei ihm war es der andere, der rechte. Außerdem erinnerte er mich an »diesen unseligen Herrn von Schleicher«, über den er sich, wie es nun aussah, zu Recht so echauffiert hatte. Der gleiche Schnauzbart, das gleiche gutmütige Onkelgesicht. Noch keine Woche lebte ich im Hause von Traunstein, als sein Foto auf dem Titelblatt des Völkischen Beobachters prangte. Ein Vaterlandsverräter sei er. Schwiegervater hatte uns den Bericht am Frühstückstisch vorgelesen, blass, mit bebender Stimme, was die Kaffeetasse in Mamás Hand so zum Zittern brachte, dass sie sie abstellen musste. Es habe eine Verschwörung gegeben, einen Putschversuch. Von Schleicher sei einer der führenden Köpfe gewesen. Der Name Röhm fiel und der von vielen anderen, Strasser, von Kahr, von Bredow, die ich, bis auf Röhm natürlich, denn der war SA-Chef, allesamt nur vage kannte. Ich war so ahnungslos in allem, mit meinen achtzehn Jahren! Heute weiß ich, dass die nationalsozialistische Elite in der Woche vor meiner »Eheschließung« hinter den Kulissen eifrig die Strippen für eine große Säuberungsaktion gezogen hatte, an denen sie auch mich – nebenbei und selbst von ihnen unbemerkt – wie eine Marionette führten. Aber damals? Man erfand die Mär von dem geplanten Umsturz aus dem Umfeld von Ernst Röhm, um Hitlers Macht zu sichern. Binnen Tagen wurden in der, wie sie später heißen sollte, »Nacht der langen Messer« an die neunzig unliebsame Personen beseitigt, darunter eben auch von Schleicher, der des Führers Vorgänger im Amt des Reichskanzlers gewesen war. Ernst Wilhelms Name war mit auf der Liste der zum Abschuss freigegebenen Männer. Dem Einfluss der Familie war es zu verdanken, dass man sie vor der Gefahr mit knappster Frist im Voraus gewarnt und Ernst Wilhelms Ausreise ermöglicht hatte. Ja, heute weiß ich, dass man Ernst Wilhelm in aller Eile einen Auslandsposten im diplomatischen Dienst verschaffte, weil dieser noch nicht vollends gleichgeschaltet war. Ernst Wilhelm war vom Tod bedroht! Und natürlich hatte niemand ein Wort gesagt. Eines aber war dieser Lösung noch im Weg gewesen: dass er mit neununddreißig Jahren keine Frau an seiner Seite hatte. »Späte« Junggesellen waren generell suspekt. Unmöglich konnte er als solcher den vom Außenamt gestellten Anforderungen an Form und Anstand in einem Diplomatenposten genügen. Was lag da näher, als in der prekären Lage einem ehrgeizigen Mitarbeiter des von Traunsteinschen Unternehmens ein Angebot zu unterbreiten: meinem Vater! Träte seine Tochter, also ich!, noch am selben Tag mit dem Junior vor den Traualtar, bekäme er, der Vater, den vakant gewordenen Nachfolgerposten und obendrein die kleine Villa auf dem Firmenareal. Darum also fand ich mich im Kostüm und den zu großen Schuhen meiner Mutter vor dem Standesbeamten wieder – neben einem viel zu alten Mann, den ich nur vom Sehen bei der Firmenweihnacht kannte. Aber keiner redete mit mir und erklärte mir die Gründe. Ich pflückte mir das Wissen um die Zusammenhänge einzeln wie bunte Blütenstängel von der Blumenwiese meines neuen Lebens und brauchte Jahre, sie zu einem Strauß zu fügen. Als ich ihn dann endlich, wie ich meinte, »fertig« in der Vase vor mir stehen sah und mich an seiner Wirkung freute, musste ich erkennen, dass ein paar große Rispen fehlten. Am Ende sah dann alles doch noch einmal völlig anders aus. »Aber Ernst Wilhelm!«, entfuhr es mir, der damals noch so Ahnungslosen, an jenem Tag im Speisezimmer meiner Schwiegereltern. Ich war zu Tode erschrocken. »Er verkehrte doch auch in diesen Kreisen.« Vater hatte es so oft gesagt. »Ernst Wilhelm hat mit diesen Leuten nichts zu tun!« Mein Schwiegervater, kreidebleich im Gesicht, blaffte mich an, dass ich zusammenfuhr, und warf mir einen vernichtenden Blick zu. »Verzeihen Sie«, beeilte ich mich zu sagen, doch ich wusste, dass er nicht die Wahrheit sprach. »Ich dachte nur …« »Mädchen sollten nicht denken, Elisabeth.« In seiner Stimme meinte ich die gleiche plötzliche Milde zu spüren wie bei Vater, wenn es gleich knallte. »Wie heißt es noch so schön? Mädchen, die denken, und Hähnen, die krähen, soll man beizeiten die Hälse umdrehen?« Er lachte über seinen eigenen Witz. »Ich bitte dich, Theodor! Mach Elisabeth keine Angst.« Mit dem Frühstücksmesser in der Hand schaute Mamá ihn drohend an. »Und außerdem heißt es ›pfeifen‹.« Sie köpfte ihr Ei. Als sich Wochen nach von Schleichers Tod der Zug mit einem Ruck in Bewegung setzte, kreuzte mein Blick einen Moment lang den dieses fremden Mannes, der ihm doch so ähnlich sah. Er hob den Hut und schenkte mir ein Lächeln. Mit einem kleinen Nicken erwiderte ich den Gruß. Was konnte er schon für von Schleicher? Ich mochte diese Freundlichkeit, mir einfach so Adieu zu sagen. Vater tat es nicht! Eine halbe Stunde vor meiner Abreise aus München hatte er vom Büro aus telefonieren und mir sagen lassen, dass er zu beschäftigt sei. Während ich die Maschen für die Ferse meines ersten Strumpfes teilte, keimte plötzlich eine heimliche Freude in mir auf. Etwas Gutes hatte diese Ehe: Ich war von diesem Tyrannen befreit! Lieber Gott, betete ich im Stillen. Bitte mach, dass Mutter seine Launenhaftigkeit nun nicht doppelt zu spüren bekommt. Bitte, halt über sie deine schützende Hand. In Dirschau vernähte ich die Fäden an meinem ersten Paar Socken. Fräulein Degenhardt strickte bereits am Bündchen von Strumpf Nummer drei. In Marienburg überquerten wir einen Fluss namens Nogat, der mich an Richards Konfekt erinnerte. Ich löste die Schleife und reichte Fräulein Degenhardt die Schachtel hin. Schweigend genossen wir je eine der köstlichen Pralinen in kleinen Bissen. Als ich sie schloss, dachte ich an Mutter, die jetzt Kisten packte. An Tante Aglaia. Hoffentlich würde sie Sorge tragen, dass er Mutter nicht wegschloss. Wenn sie nicht arbeiten dürfte, das wäre ihr Tod. »Was machst du für ein Gesicht?«, fragte Fräulein Degenhardt und reichte mir ein Butterbrot. »Danken wir Gott, dass wir bald aus diesem Land heraus sind.« Der Schaffner kam, um die Sitze zu Betten umzubauen. Nachdem er gegangen war, blieb ich noch eine Weile auf dem Gang, das Fenster einen Spaltbreit geöffnet, doch die Luft roch nach Kohlen und Qualm. Am Morgen darauf tranken wir im Speisewagen einen schalen Kaffee. In Eydtkuhnen, an der russischen Grenze, wurden die Räder des Zuges gewechselt, denn die Strecke hatte von nun an eine breitere Spur. Wir aßen die ersten Blinis, gekauft von einem Händler am Perron. Sie waren köstlich. Kurz vor Moskau hatte ich mein viertes Paar fertig. Fräulein Degenhardt war auf der Hälfte des fünften. Ich beschloss, mich zu sputen. Wir stachen unsere Nadeln tief in die Knäuel und packten zusammen. Es ging zur Transsibirischen Eisenbahn. Als uns der Provodnik, ein drahtiger, sehr blonder Mann mit hängenden Lidern, wenig später die Türe zu dem Abteil aufhielt, in dem wir ganz Russland bis an die pazifische Küste durchqueren sollten, zog sich mir der Magen zusammen, so intensiv hing der Geruch von menschlichen Ausdünstungen und Reinigungsmitteln, von allerlei Verschüttetem und Essensgerüchen, von Maschinenfett und Staub, Staub, Staub in den gepolsterten Sitzen. Noch einmal bäumte ich mich innerlich auf. Gern wäre ich stehen geblieben wie ein störrischer Esel, noch lieber hätte ich auf dem Absatz kehrtgemacht, doch ich setzte...