E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-218-01407-6
Verlag: Kremayr & Scheriau
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Selina Seemanns schonungsloses Debüt umkreist die Geschichte einer schmerzhaften Abhängigkeit und das Wachsen ihrer bewundernswerten Protagonistin daran. Der Roman geht mitten in das schmerzhafte Thema Grooming – mit einer denkwürdigen Protagonistin, die sich ihre Deutungshoheit nicht nehmen lässt.
"Ein Buch für alle, die Houellebecq lieben, aber Houellebecq hassen."
Elias Hirschl
Autoren/Hrsg.
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Josh
2014 Sommer Seine Arme hatten das Muster von Kellogg’s Smacks. Nie wieder habe ich einen Menschen mit so vielen Sommersprossen gesehen. Ich konnte mich nicht entsinnen, dass er so viele von ihnen hatte, vielleicht trug er bei unserem ersten Treffen ein langes Shirt. Heute war der letzte Tag im Juli, ich hatte gestern eine fast sechsjährige Beziehung beendet, der Flug nach Dublin kostete zweihundertdreiundsiebzig Euro und ich hatte nur Handgepäck dabei. Josh war viel größer, als ich ihn in Erinnerung hatte. Wir trafen uns im Flughafenparkhaus, er ging sehr schnell. Die Situation war seltsam, natürlich war sie seltsam, er war aufgeregt. Wir hatten uns nur zweimal zuvor gesehen und das war über ein Jahr her. Er war Tontechniker und eine Freundin, die ich besuchte, machte bei ihm Gesangsaufnahmen. Am Abend des zweiten Tages, den ich mit ihm in dem schallisolierten, fensterlosen Raum in seinem Studio verbrachte, schrieb er mir eine SMS, ob ich ihn heiraten wolle. Ich sagte Ja, aber nur im Spaß. Jetzt war mein Freund, mit dem es damals schon nicht gut lief, nicht mehr da, und der Spaß war kein Spaß mehr. Ich hatte die Schwelle aus dem Raum der ständigen Andeutungen schon überschritten, indem ich den Flug buchte, im Garten meines Freundes Benjamin, mit der Kreditkarte der Mutter meiner besten Freundin Felicitas, weil ich selbst keine Kreditkarte hatte – ich war einundzwanzig in diesem Sommer. Ich kam mir von Sekunde zu Sekunde deplatzierter vor, meine Zunge fühlte sich schwer an, ich wollte, dass er meine akzentfreie Aussprache bewunderte, und verwechselte das dunkle und helle l an Stellen, an denen ich es nie tat, damn, wir hatten doch so viel geskypt, ich wollte, dass er mich auch in echt noch mochte. Warum hatte ich geglaubt, eine halb ernst ausgesprochene Einladung wäre Basis für ein verlängertes Wochenende Eskapismus? Es war heiß draußen, er war nervös, der Innenraum seines Autos war so dreckig und voller alter McDonald’s Tüten, dass ich beim Einsteigen umknickte, aber er versicherte mir, dass es nur so aussah, als verschwänden darin ab und zu Mädchen, und ich entspannte mich und sagte, dass es mir nichts ausmachte. Sein Heuschnupfen schien besonders schlimm zu sein in dieser Jahreszeit, er vollführte eine kleine Choreografie aus Nase hochziehen und gleichzeitig mit dem Handrücken die Brille hochschieben, die sich genauso in meinem Gedächtnis eingebrannt hatte wie der exakte Klang seiner Stimme. Songs, die ich oft gehört hatte, waren in meinem Kopf abgespeichert, ich konnte sie fast hören, ohne dass sie liefen, und auf die gleiche Art und Weise war seine Stimme in meinen Gedanken verankert. Ich konnte mir jeden Satz vorstellen, egal, ob er ihn tatsächlich gesagt hatte oder nicht. Ich konnte mir vorstellen, wie er »I love you, too« sagte, obwohl ich diesen Satz nie von ihm gehört hatte. Ich wandte mich ihm zu, beobachtete, wie er mit links schaltete, und mochte, wie der Sicherheitsgurt auf meine Hüfte drückte. Die Mieten seien so hoch, nur deshalb wohne er noch bei seiner Mutter, sagte er entschuldigend, sie sei ja, wie ich wisse, Journalistin und werde ab morgen ein paar Tage wegfahren, wir würden sie wahrscheinlich gar nicht treffen. Er parkte den Wagen vor einem weißen Haus mit blauen Fensterrahmen und unkontrolliert wucherndem Efeu an der Fassade. Sein Hund war sehr ruhelos, er sprang an mir hoch, nachdem Josh die Tür aufgeschlossen hatte. Die Unterschiede lagen immer in den Details. Die Türknöpfe sahen hier anders aus und dort, wo ich aufgewachsen war, würde niemals jemand einen solchen Handlauf an eine Treppe montieren und sie mit Teppich überziehen. Das Haus war klein, aber eigentlich schön, es war nur ziemlich heruntergekommen. Es war deutlich die Abwesenheit eines Menschen zu spüren, der Dinge sagte wie: »Das kann man selbst reparieren« und Fußleisten in einem Baumarkt kaufte. Mir fiel ein, dass ich hier noch keinen Baumarkt gesehen hatte, und hatte wieder etwas zu sagen, was ein Gespräch am Laufen hielt. Wir gingen die Treppe hoch und er zeigte mir sein Zimmer, das die nächsten Tage mein Zimmer sein sollte, das unser Zimmer sein würde, und es sah aus wie die vergrößerte Version seines Fußraumes im Auto. Die Wände waren blau, umrandet von einer Raketenbordüre. Er hatte ein Hochbett, dessen obere Etage vollgestellt war mit Kartons, über einem Bass hing eine Flagge, der Schreibtisch stand als Hypotenuse eines traurigen Dreiecks in der Ecke. Es gab einen Fernseher, eine Xbox, keine PlayStation, auf dem Boden lagen Zettel, Kleingeld, Socken, Krümel und an der Fensterscheibe klebten Reste von Window Color. Überall lagen getragene T-Shirts herum. »Are you okay if we go to the studio now?«, fragte er und natürlich war ich das. Wir kauften auf dem Weg an der Tankstelle einen Energydrink und zwei Schokoriegel, er bezahlte kontaktlos und ich sprach mit ihm über Datenschutz. Im Studio sah ich ihm bei der Arbeit zu, er vermietete seine Proberäume stundenweise an Bands. Er stellte mich als eine Freundin aus Deutschland vor. Ich wusste nicht, ob ich mehr erwartet hatte, aber ich wusste immer weniger, was ich hier eigentlich machte. Wir ließen die Band, die heute gebucht hatte, proben, schlossen die Tür und gingen in den Nebenraum. Im Türrahmen berührte er meine Schulter. Sein Kuss auf das Stück freie Haut zwischen meiner Strickjacke und dem Träger meines Kleides kam überraschend. »Is that okay?«, fragte er. Ich mochte dort sehr gern berührt werden. Ich war schon immer davon überzeugt, dass der Moment, kurz bevor man jemanden zum ersten Mal küsste, der einzig lebenswerte war. Es war nie der Kuss selbst, es war immer die Sekunde, in der der Magen kurz zog, der Moment, in dem man ein Feuerzeug an eine Flamme hielt und den Gashebel runterdrückte, der halbe Atemzug vorher. Dieser hier war okay, es war der drittbeste erste Kuss, den ich je hatte. Ich war irritiert davon, dass es ein wenig süßlich schmeckte, als wir uns küssten. Mir waren die Umstände dieses Kusses bewusst, als lägen sie auf einem Tisch und Flutlicht schiene darauf. Ich wusste, dass es erst siebzehn Uhr war, also für mich eigentlich achtzehn Uhr, dass ich vor nicht einmal zweiundzwanzig Stunden noch meinen Freund*innen dabei zusah, wie sie Sachen aus meiner Wohnung auf die Straße trugen, weil dort mein tobender Ex-Freund Nick wie Rumpelstilzchen neben seinem Kleinbus stand und alles zurückverlangte, was er jemals mit in die Beziehung gebracht hatte. Jede DVD wollte er wiederhaben, den Fernsehtisch, sogar die Drecks-Jamie-Oliver-Bratpfanne und, nur um mich zu demütigen, die Kiste mit dem Sexspielzeug. Aber weil er nie verstanden hatte, was Liebe ist, hatte er auch nicht begriffen, dass meine Freund*innen in dieser Situation nicht mich lächerlich fanden, sondern ihn. Benjamin wechselte noch am selben Abend mein Türschloss und Marta nahm mich lange in den Arm, dann packte ich meine Sporttasche. Ich wusste nicht, was jetzt richtig war, wie ich jetzt noch etwas langsam angehen sollte, ich war unglaublich müde vom Flug, von fast sechs Jahren Beziehung, von meiner halb leeren Wohnung, von dem Staub, der sich unter den ausgeräumten Möbeln gesammelt hatte. Ich sagte »I wanted to do this for a long time« und das war gelogen, ich hatte den Flug erst vor ein paar Tagen gebucht, weil ich eine Deadline brauchte, um mich endgültig von Nick zu trennen, aber ich küsste Josh noch einmal und schob meine Hand zwischen seine Beine, weil es mir unhöflich vorkam, es nicht zu tun. Nebenan probte die Metalband und ich legte meine Hand auf seinen Gürtel. Ich musste das Lederband straff nach hinten ziehen, um den silbernen Metallstift aus ihm zu lösen, um ihn aufzubekommen, er übernahm für mich, ich machte mir Gedanken darüber, ob ich das th richtig aussprach, als ich »thanks« sagte; ich war nicht im Geringsten erregt. Er hatte viel Schamhaar, das konnte ich durch den Stoff fühlen, seine Boxershorts war blau mit schwarzen Streifen und ich spürte, dass sie feucht war, er schien wirklich aufgeregt zu sein, er ließ es sich nur nicht anmerken. Er tat nichts, er wartete ab und dass er nicht die Initiative übernahm, verunsicherte mich. Er hatte doch meine Schulter geküsst. Ich sah die schwarze Wand, auf die er mit silberner Farbe einen Union Jack gemalt hatte, und sann darüber nach, wie ironisch das war und dass ich in den letzten sechs Jahren ziemlich treu gewesen war. Nur zweimal hatte ich mit David geschlafen und dass das zwangsläufig geschehen würde, sobald er wieder in mein Leben träte, war mir immer klar, schon seit er mich kurz nach meinem fünfzehnten Geburtstag verlassen hatte. Die ganzen Schwänze, die ich in den widerlichen Pornokinos auf der Reeperbahn und an Autobahnraststätten in den Mund genommen hatte, um Nick zu gefallen, zählte ich natürlich nicht, das hier war erst der dritte offizielle Penis, den ich in wenigen Sekunden zu Gesicht bekommen würde. Nur fünf Stunden nach meiner Landung saß ein neuer Mann nackt vor mir, und das, ohne dass er viel dafür...