Schweppenhäuser / Behrens / Olivier | Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 44/45 | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 44/45, 288 Seiten, Format (B × H): 1480 mm x 210 mm

Reihe: Zeitschrift für kritische Theorie

Schweppenhäuser / Behrens / Olivier Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 44/45

23. Jahrgang (2017)
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-86674-700-5
Verlag: zu Klampen Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

23. Jahrgang (2017)

E-Book, Deutsch, Band 44/45, 288 Seiten, Format (B × H): 1480 mm x 210 mm

Reihe: Zeitschrift für kritische Theorie

ISBN: 978-3-86674-700-5
Verlag: zu Klampen Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die »Zeitschrift für kritische Theorie« ist ein Diskussionsforum für die materiale Anwendung kritischer Theorie auf aktuelle Gegenstände und bietet einen Rahmen für Gespräche zwischen den verschiedenen methodologischen Auffassungen heutiger Formen kritischer Theorie. Sie dient als Forum, das einzelne theoretische Anstrengungen thematisch zu bündeln und kontinuierlich zu präsentieren versucht. Das Heft wird einen Schwerpunkt zum Thema »Zur gesellschaftlichen Lage der Musik heute« enthalten.

Schweppenhäuser / Behrens / Olivier Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 44/45 jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Der Inhalt:

Vorbemerkung der Redaktion

Gunzelin Schmid Noerr: Wie die »dunklen Schriftsteller des Bürgertums« die Dialektik der Aufklärung erhellen

Magnus Klaue: Das Weltkind und seine Propheten

Christian Voller: Alfred Seidel und die Nihilisierung des Nihilismus

Dirk Braunstein und Christian Voller: Ein Brief von Alfred Seidel an Theodor W. Adorno

Jan Sieber: Der Schatten des wildesten Interesses«

Elmar Flatschart: Negative Dialektik oder Dialektik der Absenz?

Gunnar Hindrichs: Peripetien der Verweigerung

Richard Klein: Adorno als negativer Hermeneutiker

Alain Patrick Olivier: Die Rhythmik des Fortschreitens

Elvira Seiwert: Quasi una phantasmagoria oder

Claus-Steffen Mahnkopf: Versäumte Erinnerungskultur?

Susanne Kogler: Musik, Gesellschaft, Rezeption und Kritik

Martin Niederauer: Zur wissenschaftlichen Kritik an Adornos Jazztheorie

Roger Behrens: Zur gesellschaftlichen Lage der Musik

Kritische Theorie – Neue Bücher des Jahres 2016 in Auswahl


Magnus Klaue

Das Weltkind und seine Propheten


Jean-Paul Sartre in Berlin, 1948

I. Prolog: Seelenruhe mit Heidegger

Als Jean-Paul Sartre anlässlich der Aufführung seines Stücks (dt.: ) im Januar 1948 erstmals seit Kriegsende Berlin besuchte, begegnete er der Bevölkerung aufgeschlossen und zukunftsfroh. Dies war wohl nicht zuletzt darin begründet, dass er die deutsche Besatzung in Frankreich als Fortsetzung eines andauernden Urlaubs erlebt hatte. Das Waffenstillstandsabkommen mit Deutschland, de facto die Erklärung der Kapitulation, war einen Tag nach seinem 35. Geburtstag, am 22. Juni 1940, unterzeichnet worden. Zuvor war sein Einsatz in der Wetterstation der 70. Artilleriedivision in Essey-lès-Nancy (Lothringen) zu Ende gegangen, der für ihn eine »unverhoffte Ferienzeit« gewesen war.1 Vor Unterzeichnung des Abkommens von Compiègne war Sartres Einheit dann von deutschen Truppen gefangen genommen worden. Acht Monate hatte die Kriegsgefangenschaft gedauert, die Sartre weniger als Zeit der Entbehrungen denn als Fortsetzung der Auszeit während der wahrgenommen zu haben scheint. Sartre sei, resümiert seine Biographin Annie Cohen-Solal, auch in der Gefangenschaft »gesellig und glücklich« gewesen.2 Als er von den Deutschen im Viehwaggon in den Stalag XII D bei Trier gebracht wurde, habe er sich, so Cohen-Solal, in »absoluter Seelenruhe« befunden und sei »der einzige« gewesen, »der lyrisch die Schönheit der Landschaft« bedichtete.3 Die Arbeit in der Station hatte ihm viel Zeit zur literarischen Arbeit gelassen, an die er während der Gefangenschaft anknüpfen konnte. Dokumentiert ist Sartres Alltag jener Zeit in den 4, einem posthum erschienenen Tagebuch.

Dass die nicht nur für Sartre einem Urlaub glich, lag daran, dass das französische Heer 1939 nicht auf Führung eines Angriffskriegs vorbereitet gewesen war, sondern seine Funktion allein im Schutz der Maginot-Linie, also als reine Defensivaufgabe sah. Zur Entlastung der Verbündeten hatte das schlecht ausgerüstete französische Militär wenig beizutragen gehabt; schon ein knappes Jahr nach Beginn der wurde mit dem Abkommen von Compiègne jene besiegelt, welcher der ebenfalls als Soldat im Krieg gegen Deutschland eingesetzte, bis zu seiner Erschießung durch die Gestapo im Juni 1944 für die Résistance kämpfende Historiker Marc Bloch ein Buch widmete, das 1946 posthum erschien.5 Blochs Selbstverständnis als säkularer republikanischer Jude war durch die Niederlage tief erschüttert worden. Anders als Sartre hatte Bloch sich während des Krieges intensiv mit Fragen der militärischen Strategie beschäftigt. Verursacht worden sei die , so legt er in seiner Studie anknüpfend an Clausewitz dar, durch Frankreichs Unfähigkeit, »den Krieg zu denken«6: durch Unterschätzung der Modernität der deutschen Kriegsführung, in deren Folge Frankreich den Zweiten Weltkrieg als Reinszenierung des Ersten geführt habe und von der Geschwindigkeit der Angriffe der Wehrmacht, ihren flexiblen Stellungswechseln und den Verheerungen des Luftkriegs völlig überrascht worden sei. Blochs scharfer Sinn für die Zäsur, die der Juni 1940 in der Geschichte Frankreichs bedeutete, seine Kritik an einer Friedenspolitik, die dem Nazismus zu spät begegnete, und sein Appell an die Intellektuellen, sich unter dem Eindruck der jüngsten Ereignisse mit der Geschichte moderner Kriegsführung zu beschäftigen, blieben weitgehend ungehört. Erst Raymond Aron, ehemaliger Schul- und Studienfreund Sartres und seit den späten Vierzigern Stichwortgeber von Sartres bürgerlich-konservativen Gegnern, aktualisierte 1976 in Clausewitz’ Texte vor dem Hintergrund der Blockkonfrontation und betonte die Notwendigkeit präventiver Kriegspolitik zur Verteidigung bürgerlicher Demokratie.7 Eine ähnliche Abkehr vom linken Revolutionspathos zugunsten der Solidarisierung mit dem Westen hat Sartre nie vollzogen.

II. ›Stunde Null‹: Ein Berliner Geistergespräch

Es war also kein Auslandseinsatz im Dienst alliierter Reeducation, sondern eine intellektuelle Heimkehr, als Sartre vom 29. Januar bis zum 5. Februar 1948, während der kurzen Schwellenzeit zwischen dem alliierten Sieg über den Nationalsozialismus und der Gründung der beiden deutschen Staaten, anlässlich der Aufführung von nach Berlin reiste. Die Mode des Existentialismus im Deutschland der Zeit des ›Kahlschlags‹ bzw. der ›Stunde Null‹ erklärte sich daraus, dass mit ihm im Gegensatz zu den als Fremdbestimmung erfahrenen Reeducation-Maßnahmen der Alliierten im Gewand des Kosmopolitismus etwas Vertrautes, die Existenzphilosophie der Zwischenkriegszeit, wiederkehrte. Die sich um Sartre scharende Jugend im frühen Nachkriegsdeutschland reinszenierte die jugendliche Heidegger-Begeisterung der zwanziger Jahre am politisch unvorbelasteten Objekt; das Ressentiment der um die Zeitschrift und in der Gruppe 47 versammelten Jungdeutschen gegen die amerikanische Besatzungsmacht traf sich mit Sartres Antikapitalismus ebenso wie mit dem Affekt früherer Heidegger-Anhänger gegen parlamentarische Demokratie als volksfremde Herrschaft.14 Die von Adorno nahegelegte Ansicht, der Existentialismus im jungen Deutschland lasse sich nur als Renaissance der Existenzphilosophie der Zwischenkriegszeit verstehen,15 war kein unfaires Urteil über den philosophischen Gegenspieler, sondern begründet in Erfahrungen im frühen Nachkriegsdeutschland. Nicht die Kritische Theorie hat dem Existentialismus einen reaktionären Gehalt untergeschoben, sondern der deutsche Kulturbetrieb hatte den Existentialismus nach 1945 als progressiv gewendeten Wiedergänger der Existenzphilosophie der zwanziger Jahre : Der ›Kahlschlag‹ war eine Rückkehr zu den Ursprüngen.

In der Antwort auf einen Brief von Heinz Maus, der ihm nach Kriegsende regelmäßig über den Alltag im besiegten Deutschland berichtete, schrieb Max Horkheimer am 10. Dezember 1946 noch von Kalifornien aus:

»Was Sie über die geistige Situation in Deutschland schreiben, deckt sich nur zu genau mit unseren Eindrücken hier, so fragmentarisch diese auch sein mögen. Die Tatsache eines blinden und bewußtlosen Zusammenbruchs, der gleichsam mechanisch und nicht durch die Entgegensetzung einer höheren gesellschaftlichen Form zustandekam, prägt sich im Bewußtsein aus. Was wir sehen, ist teils ein eklektisches Wiederaufwärmen der Vergangenheit, zumal von Humanität und Idealismus, teils eine verblasene Metaphysik, die gewissermaßen das Komplement zur Stoffhuberei des positivistischen Wissenschaftsbetriebs darstellt. […] Wenn irgendetwas gebessert werden soll, so müßte all dies einmal sehr bestimmt, konkret und ohne die Dunstatmosphäre der ›ringenden Menschen‹ ausgesprochen werden, in der heute in Deutschland bereits der Unterschied zwischen den Opfern und den anderen zu verschwimmen scheint.«16

In einer nicht abgeschickten Version des Briefes machte Horkheimer ausdrücklich Sartre für dessen begeisterte Rezeption im Nachkriegsdeutschland verantwortlich: »[W]enn wir hören, […] daß Herr Sartre, der selber schon Heidegger ausverkauft, nun von denen konsumiert wird, die sich an die authentische Nazigestalt der Existentialphilosophie nicht herangetrauen, so ist man doch keiner anderen Reaktion fähig, als der offenen Empörung«.17 Am 31. August 1946 hatte Horkheimer gegenüber Norbert Guterman nach der Lektüre von Sartre als »Scharlatan« bezeichnet: »Er verwendet Hegels Worte und Begriffe als eine Art von termini technici […]. Er ist ein Schullehrer, der versucht glauben zu machen, er sei ein Medizinmann, verkleidet als Philosoph.«18 Die Metaphorik von Verkleidung und Hochstapelei korrespondiert mit dem Eindruck von Unwirklichkeit, der die Berichte Horkheimers und Adornos von ihren ersten Begegnungen im Nachkriegsdeutschland durchzieht. Dieser Eindruck, der sich gerade an der Beschwörung von Authentizität in der »Dunstatmosphäre der ›ringenden Menschen‹« festmacht, wird von Horkheimer als Symptom der historischen Konstellation gedeutet: als Zeichen dafür, dass der »Zusammenbruch« des nationalsozialistischen Deutschland »blind« und »bewußtlos«, »gleichsam mechanisch« stattfand, als Ergebnis alliierter Übermacht im Krieg statt durch »Entgegensetzung einer höheren gesellschaftlichen Form«. Das Schlimmste, im Nationalsozialismus Wirklichkeit geworden, war unterbrochen, aber nicht überwunden worden. An Stelle der Bewahrung von Elementen des Fortschritts im historischen Prozess trat im Deutschland der ›Stunde Null‹ ein Eklektizismus historisch liquidierter Denkformen, die, zu Denk erstarrt, das Schlechte konservierten. Als Ausdruck davon begriff Horkheimer die Mode des Existentialismus.

Simone de Beauvoir, die Sartre bei der Reise nach Berlin begleitete, hat darüber in ihren Briefen an den amerikanischen Schriftsteller Nelson Algren auf eine...


Schweppenhäuser, Gerhard
Gerhard Schweppenhäuser (geb. 1960 in Frankfurt am Main) ist Professor für Design-, Kommunikations- und Medientheorie an der Fakultät Gestaltung der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Würzburg. Seine Forschungs- und Publikationsschwerpunkte sind Ästhetik, Kultur- und Gesellschaftstheorie sowie Moralphilosophie. Schweppenhäuser lehrte im Bereich Philosophie und Ästhetik an den Universitäten Hannover, Kassel, Weimar, Durham, NC (USA), Bozen und Friedrichshafen sowie an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden.

Kramer, Sven
Sven Kramer, Jahrgang 1961, ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft
und Literarische Kulturen an der Leuphana Universität Lüneburg und Autor zahlreicher Bücher.



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