Schweitzer | Menschenwürde und Bildung | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 2, 112 Seiten

Reihe: Theologische Studien NF

Schweitzer Menschenwürde und Bildung

Religiöse Voraussetzungen der Pädagogik in evangelischer Perspektive

E-Book, Deutsch, Band 2, 112 Seiten

Reihe: Theologische Studien NF

ISBN: 978-3-290-17654-9
Verlag: Theologischer Verlag Zürich
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



Das Thema Menschenwürde verweist auf aktuelle Herausforderungen. Der Zusammenhang von Menschenwürde und Bildung hat aber noch zu wenig Aufmerksamkeit gefunden. Angesichts einer verengten Bildungsdebatte, aber auch der grossen Zahl von Menschen, denen Bildungsmöglichkeiten vorenthalten werden, bleibt die Frage nach der menschlichen Würde auch hier aktuell. Es geht um die Gottebenbildlichkeit des Menschen sowie um den Beitrag der Kirche zur Wertedebatte. Die Studie unternimmt den Versuch einer Klärung vor allem im Blick auf das evangelische Bildungsdenken. Darüber hinaus wird der Bezug zum bildungspolitischen und erziehungswissenschaftlichen Bildungsdiskurs gesucht, um Möglichkeiten für religiöse Begründungen von Bildung in der Pluralität zu identifizieren.
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|17| I. Menschenwürde und Bildung im evangelischen Bildungsdenken
1. Vorüberlegungen: Begriffe und Sachen
Nachdem in der Einleitung Gesagten ist die Aufgabe dieses Teils bereits weitgehend geklärt: Es muss nun darum gehen zu prüfen, wie sich der Zusammenhang von Menschenwürde und Bildung im evangelischen Bildungsdenken widerspiegelt. Zugespitzt: Kann der Bezug auf die Menschenwürde tatsächlich als ein zentraler Schwerpunkt des evangelischen Bildungsverständnisses bezeichnet werden? Insbesondere ist dabei zu fragen, ob und wie dieses Denken auf die sechs genannten Probleme und Herausforderungen – von Realisierung, Motivation und Spezifikation, von Vergewisserung, Selbstverständigung und Pluralität – selbst antwortet und wie es weitergehend auch unter veränderten Herausforderungen auf diese Herausforderungen zu antworten erlaubt. Dabei muss von vornherein deutlich sein, dass dieses Vorhaben auch eine kritische Dimension einschließt. Nicht nur ergeben sich aus den genannten Problemen kritische Einschätzungen hinsichtlich der Tragfähigkeit des evangelischen Bildungsdenkens selbst; vielmehr liegt schon in der Verknüpfung von Menschenwürde und Bildung insofern ein kritischer Impuls, als die Tradition des evangelischen Bildungsdenkens sich vielfach weit mehr auf die Erziehungsbedürftigkeit des Menschen nach dem Sündenfall bezogen hat als auf Bildungsmöglichkeiten oder gar Bildungsansprüche jedes einzelnen Menschen. Der konsequente Bezug auf die Menschenwürde als Begründung für das Bildungsverständnis aktualisiert deshalb nicht einfach Traditionsbestände, die für unsere Gegenwart und Zukunft unverändert übernommen werden sollen, sondern dieser Bezug fordert auch das evangelische Bildungsdenken neu zu einer kritischen Selbstprüfung heraus. Zugleich erwachsen aus einem evangelischen Verständnis kritische Anfragen an andere Auffassungen von Bildung. Den Reflexionsraum im Folgenden stellt das evangelische Bildungsdenken in seiner Herausbildung seit der Reformation dar, auch wenn es hier nur in der Gestalt exemplarischer Vertiefungen aufgenommen |18| werden kann.9 Die mit der geschichtlichen Entwicklung des evangelischen Bildungsdenkens angesprochene Weite ist erforderlich, weil sonst wesentliche Entscheidungen und Entwicklungen, die – für diese Tradition gesprochen – bereits in früher Zeit fallen, nicht angemessen in den Blick kommen können. Doch erweist sich die Frage nach Menschenwürde und Bildung rasch als eine ausgesprochen moderne, insbesondere auf unsere eigene Gegenwart bezogene Fragestellung. Denn die Begriffe von Menschenwürde und Bildung werden in ihrer Verknüpfung erst im 20. Jahrhundert für das evangelische Bildungsdenken zentral. Diese Beobachtung darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch im vorliegenden Falle die entsprechenden Begriffe jünger sein können als die damit bezeichneten Sachen oder Sachverhalte. Auch wenn es gewiss einen Unterschied macht, ob solche Begriffe verfügbar sind oder nicht, ist es durchaus denkbar und möglich, das, was heute mit Hilfe der Begriffe Menschenwürde und Bildung thematisiert wird, auch ohne diese Begriffe zumindest der Sache nach aufzunehmen. Deshalb wird im Folgenden insofern zwischen Begriff und Sache unterschieden, als das mit Menschenwürde und Bildung Gemeinte auch dort gesucht – und zum Teil gefunden – wird, wo die entsprechenden Begriffe (noch) fehlen. Hilfreich ist es dabei, auch den Begriff der Gottebenbildlichkeit mit einzubeziehen, obwohl auch dieser Begriff in der Gründerzeit des evangelischen Bildungsdenkens aus noch zu klärenden Gründen nur eine begrenzte Rolle spielt. Das im Folgenden gewählte Verfahren bringt es – das sei noch einmal betont – mit sich, dass weder die Begriffsgeschichte im Vordergrund stehen kann noch ein Bildungsbegriff, der gegen den Erziehungsbegriff profiliert wird. Ziel der Studie ist es nicht, von der vorausgesetzten Menschenwürde auf Bildung statt Erziehung zu folgern.10 Vieles, was in der Tradition des evangelischen Bildungsdenkens mit dem Bezug auf die Menschenwürde begründet wird, kann auch als Erziehung beschrieben werden. Allerdings kommen einige der in der Tradition enthaltenen Auffassungen von Bildung – vor allem mit der Hervorhebung von Mündigkeit und kritischer Reflexivität – der Menschenwürde besonders entgegen. Insofern kann auch von einer Affinität |19| zwischen Menschenwürde und Bildung gesprochen werden, wie sie zumindest bei einem auf Anpassung und Gehorsam reduzierten Erziehungsverständnis nicht gegeben ist. Schon die Rede von einem reduzierten Erziehungsverständnis macht allerdings darauf aufmerksam, dass ein solches Verständnis heute kaum mehr ernsthaft vertreten werden kann, zumindest nicht im Bereich der Wissenschaft. Schließlich ergibt sich aus diesen Vorüberlegungen auch, wie die Überschrift zu diesem Teil der Studie zu verstehen ist. »Evangelisches Bildungsdenken« ist nicht begriffsgeschichtlich gemeint und die entsprechende Auswahl von Positionen und Stationen nicht an der ausdrücklichen Verwendung des Bildungsbegriffs orientiert. Allerdings soll darauf geachtet werden, dass diejenigen Positionen in dieser Tradition nicht übergangen werden, die sich von einem expliziten Bildungsbegriff leiten lassen, aber aus den genannten Gründen geht es eben nicht allein um diese Positionen. 2. Erziehungsbedürftigkeit statt Bildungsanspruch: Kann sich eine auf der Menschenwürde gründende Bildung auf die reformatorische Tradition berufen?
Für das evangelische Bildungsdenken in der Reformationszeit des 16. Jahrhunderts spielt weder der Bildungsbegriff noch die Berufung auf die Menschenwürde eine deutlich fassbare Rolle.11 Auch wenn man statt der Menschenwürde an die Gottebenbildlichkeit denkt, die heute vielfach als maßgebliche theologische Begründung der Menschenwürde angesehen wird,12 ändert sich das Bild nur wenig. Denn bei Luther kommt ein Bezug auf die Gottebenbildlichkeit nur insofern als Begründung für Bildungsaufgaben in den Blick, als der durch den Sündenfall erlittene Verlust der Gottebenbildlichkeit auch die Notwendigkeit von Erziehung begründet, nämlich als Maßnahme gegen die Folgen der Sünde.13 Insofern fällt es, zumindest auf den ersten |20| Blick, tatsächlich schwer, sich für den Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Bildung auf die reformatorische Tradition zu berufen. Im Folgenden sollen jedoch Perspektiven aufgezeigt werden, die gleichwohl einige für die Frage nach Menschenwürde und Bildung bedeutsame reformatorische Grundentscheidungen erkennen lassen. Für Luther steht die Erziehungsbedürftigkeit des Kindes insofern im Vordergrund, als für ihn auch die kindliche Natur voll und ganz dem Verderben unterliegt, das den einzelnen Menschen und die gesamte Menschheit nach dem Sündenfall erfasst hat.14 Vom ersten Tag seines Lebens an unterliegt das Kind den Folgen der Erbsünde – wie Luther gern mit Gen 8,21 formuliert: »das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf«.15 Dem entspricht es auch, dass eine Berufung auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen als Grundlage für Bildung für Luther nicht in Frage kommt, denn nach seinem Verständnis ist diese Ebenbildlichkeit für den Menschen nach dem Sündenfall verloren gegangen. Bildung und Erziehung müssen demnach ihren Ausgangspunkt von der Situation nach dem Sündenfall nehmen. Besonders das Neuluthertum hat sich im 20. Jahrhundert darauf berufen und zum Teil deshalb den Bildungsbegriff überhaupt abgelehnt. Nur das Anliegen der Erziehung sei wirklich lutherisch.16 Nicht übersehen werden darf freilich auch, wie groß zugleich die Hoffnungen sind, die Luther an die Kinder und an ihre Erziehung knüpfen kann.17 Auch eine Reform der Kirche kann sich Luther überhaupt nur vorstellen, wenn sie bei der Unterweisung der Kinder ihren Anfang nimmt. Umgekehrt sei es der größte Schaden für die Christenheit, wenn die Kinder »versäumt«, also nicht erzogen werden. Am nächsten kommt Luther dem heutigen Verständnis von Menschenwürde und Bildung dort, wo er, besonders in seinen sogenannten Schulschriften, das Bildungswesen unter die übergreifende, im Schöpfungsglauben verankerte Norm von Frieden und Gerechtigkeit (pax et |21| iustitia) stellt.18 Diesem Ziel hat demnach alle Bildung zu dienen. Aus heutiger Sicht lässt sich dies so interpretieren, dass sich ein menschliches Zusammenleben, das die Würde des einzelnen Menschen ebenso achtet wie die Rechte der Gemeinschaft, nur mit Hilfe von Bildung erreichen und aufrechterhalten lässt. Dabei steht dann zwar der Anspruch der Gemeinschaft an erster Stelle und kommt weniger das Recht auf Bildung des Einzelnen in den Blick, aber es kann hier doch nicht einfach von einem Gegeneinander individueller und gesellschaftlicher Bezüge ausgegangen werden. Beide, das Gemeinwesen und der einzelne Mensch, sollen zu ihrem Recht kommen. Zumindest indirekt bedeutet die Berufung auf Frieden und Gerechtigkeit deshalb auch für den Einzelnen die Gewährleistung eines Lebens in Würde. Deutlicher wird dies von Melanchthon ausgeführt, der auch ausdrücklich auf beide Pole hinweist, dass nämlich »alle Künste und Wissenschaften« die Möglichkeit eröffnen, »das private Leben zu bewahren oder das Gemeinwesen zu leiten«.19 Ohne Bildung gebe es nur die »Barbarei«, wenn die Menschen »nicht durch die Wissenschaften zu Sittlichkeit kommen, Menschlichkeit und Frömmigkeit angetrieben und angeleitet werden«.20 Hier ist der einzelne Mensch...


Friedrich Schweitzer, Dr. theol., Jahrgang 1954, ist Professor für Praktische Theologie und Religionspädagogik an der Universität Tübingen.


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