Schweiger | Plastik. Der große Irrtum | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 200 Seiten

Schweiger Plastik. Der große Irrtum

Vom sagenhaften Aufstieg der Kunststoffe und dem Preis, den wir heute dafür zahlen müssen

E-Book, Deutsch, 200 Seiten

ISBN: 978-3-7453-0652-1
Verlag: riva
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Viele halten Kunststoffe für das größte Umweltproblem unserer Zeit. Dabei galten sie jahrelang als Beförderer unseres Wohlstands und Wirtschaftswachstums. Plastik wurde wie Gold gefeiert, das sich günstig herstellen, beliebig formen und vielseitig einsetzen lässt.
In kurzen Episoden zeichnet Stefan Schweiger in diesem Buch den wechselvollen Weg der Kunststoffe nach. Erzählt, wie die Erfindung von Zelluloid die Jagd auf Elefanten überflüssig machte, wie Luxusgegenstände in Küche und Haushalt durch PET für jedermann erschwinglich wurden, und wie man glaubte, mit Schaumstoff sogar den Hunger auf der Welt zu bekämpfen. Eine faszinierende Reise durch die bunte Plastikwelt, die nicht nur unseren Alltag, sondern auch das Schicksal der Menschheit mitbestimmt.
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1. Was war und ist Plastik eigentlich?
Ich hatte als Schüler große Probleme, zu verstehen, was genau denn nun ein künstlicher Stoff sein soll. Mir kam das vor wie eine intellektuelle Einbildung, auch wenn ich es damals sicher nicht so formuliert habe. Schließlich stammt alles aus unserer Umwelt und letztlich doch aus der Natur. Und selbst wenn der Stoff nicht aus der nahe liegenden Umwelt kommen sollte, wird er deshalb doch nicht gleich künstlich. Mondgestein ist extraterrestrisch, aber doch nicht unnatürlich oder gar künstlich. Wie kann es Stoffe geben, die sich definitorisch außerhalb des Natürlichen bewegen? Vielleicht bieten die Definitionsversuche, der Herstellungsprozess und die aktuellen Konnotationen, die beim Wort »Plastik« mitschwingen, eine Antwort auf diese Frage. Es gibt – Stand 2018 – laut dem Fraunhofer Institut UMSICHT mit Sitz in Oberhausen (Nordrhein-Westfalen) etwas mehr als 15 000 unterschiedliche Kunststoffe unter etwa 25 000 unterschiedlichen Handelsnamen. Diese schon horrend erscheinende Vielfalt steigert sich noch mit einer Vielzahl von Additiven, die man während des Herstellungsprozesses hinzufügen kann, um bestimmte Eigenschaften für spezielle Zwecke zu erhalten. Sogenannte Slip-Additive zum Beispiel sorgen bei Polyolefinfolien für eine Verringerung des Gleitreibewertes. In der Praxis zeigt sich dies bei Schrumpffolie, wie sie tagtäglich in Lagern über Gitterboxen gestülpt wird und die durch die Slip-Additive nicht wie bei der Frischhaltefolie in unseren Küchen ständig an sich selbst festklebt. Additive sorgen also für verbesserte Eigenschaften, haben jedoch ein stoffliches Eigenleben und in der Regel mehr Eigenschaften als diejenigen, die die Qualität und damit Verkäuflichkeit des Kunststoffprodukts erhöhen. Berühmt wie berüchtig ist das Additiv Bisphenol A, das sich unter anderem als Weichmacher zum Beispiel in Babyschnullern findet und unter dem starken Verdacht steht, bei Männern die Spermienzahl zu reduzieren, und das auch für Frauen keine gesundheitsförderliche Wirkung zu haben scheint. In der Wissenschaftsgemeinde anerkannte Studien, die das reliabel und valide untermauern, stehen jedoch noch aus. Bei Kunststoffen muss man also zwischen dem Kunststoff selbst und den Additiven differenzieren. Problemlösung beginnt stets mit Problemdefinition und definieren bedeutet differenzieren. Nichtsdestotrotz bleibt Vorsicht die Mutter der Porzellankiste. Prävention besteht darin, dass man bei (Noch-)Nichtwissen erst mal vorsichtig ist. Gemeinhin wird dies als Vorsorgeprinzip bezeichnet. Das hätte der Menschheit beispielsweise bei der Atomkraft viel Leid und Jahrtausende von immensen Problemen erspart. Was da als kostengünstige Lösung aller Energieprobleme präsentiert wurde, zieht Lagerkosten in astronomischer Höhe nach sich. Grammatisch stellt sich beim Wort »Plastik« das Problem, dass man von diesem Wort im Deutschen keinen anständigen Plural zu bilden vermag. Plastiken sucht man in Museen und Ausstellungen, bedauert aber nur selten deren Vorkommen im menschlichen Stuhl oder im Bier. Der frühe Plastikexperte Richard Escales (1863–1924) hat seine seit 1911 erscheinende Fachzeitschrift folgerichtig nicht Plastik, sondern Kunststoffe genannt und als besonders eingängigen Untertitel »Zeitschrift für Erzeugung und Verwendung veredelter oder chemisch hergestellter Stoffe mit besonderer Berücksichtigung von Kunstseide und anderen Kunstfasern, von vulkanisiertem und devulkanisiertem (wiedergewonnenem) und künstlichem Kautschuk, Guttapercha usw., sowie Ersatzstoffen von Zellhorn (Zelluloid) und ähnlichen Zellstofferzeugnissen, von künstlichem Leder und Ledertuchen (Linoleum), von Kunstharzen, Kaseinerzeugnissen usw.« gewählt. Escales hat versucht, Kunststoffe durch Aufzählung zu definieren, woran man aufgrund der Menge schon damals scheiterte. Kunststoffe galten zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Ersatzstoffe. Der Kunststoffexperte Hans Sichling brachte dies für Kunstleder auf den Punkt: »Fragen wir uns nun, was man unter Kunstleder ganz allgemein versteht, so läßt sich nur sagen, daß es eben ein Produkt ist, das an Stelle von echtem Leder verwendet wird.« Sichling ist keine Ausnahme: Unter Kunstharzen verstand der Würzburger Professor Max Bottler in der Begriffsdiskussion der frühen Ausgaben von Escales’ Zeitschrift »künstlich erzeugte Harzprodukte […], welche in ihren Eigenschaften den natürlichen Harzen möglichst nahe kommen und hauptsächlich dazu bestimmt sind, natürliche Harze zu ersetzen«. Kunststoffe führten damals also ein Dasein als zweite Wahl und ihre Eltern hießen Not und Mangel. Ganz ablegen konnten die Kunststoffe dieses Image nie, auch wenn die Kunststoffexperten und -produzenten dies immer wieder versuchten. Bereits zum 25. Jubiläum der Zeitschrift Kunststoffe wollte man die neuartigen Werkstoffe vom Dasein als Plan B emanzipieren. Es hieß in der sich selbst feiernden Jubiläumsausgabe, dass »aus den ursprünglichen Ersatzstoffen […] neuartige, selbständige Werkstoffe [wurden], die ihre Vorbilder kraft ihrer hervorragenden Eigenschaften […] für spezielle Anwendungsbereiche überflügelten und die zuletzt zur ausschließlichen Verwendung kamen«. Der Leiter der Fachgruppe Kunststoffe der Wirtschaftsgruppe Chemische Industrie und Direktor der Internationalen Galalith-Gesellschaft Hoff & Co. wandte sich in einem Leserbrief an die Fachzeitschrift und forderte, dass Kunststoffe »eine Gattung für sich bilden« und nicht länger »als sogenannte Ersatzstoffe angesehen werden dürfen«. Ausgerechnet die Faschisten sprachen dann die Kunststoffe von ihrem Image als bloße Ersatzwerkstoffe frei. Der Grund dafür ist in politökonomischen Vorhaben der NSDAP zu finden. Die nationalsozialistische Führung wollte von anderen Staaten unabhängig sein und strebte eine rohstoffautarke deutsche Nation an. Daher unterstützte sie die Forschung zu Kunststoffen bereits kurz nach der Machtübernahme der NSDAP bis zur totalen Niederlage im Mai 1945. Es war durchaus politisch gewollt, dass Kunststoffe den Makel des bloßen Ersatzstoffes ablegen und zu eigenständigen Werkstoffen promoviert werden sollten und fortan als deutsche Kunststoffe zu gelten hatten. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand der Fertigungsprozess im Vordergrund der Definition und nicht die Frage, ob Plastik etwas ersetzen solle – und falls ja, was. Bis heute unterscheidet man zwischen vollsynthetischen und halbsynthetischen Kunststoffen, wobei heutzutage 99 Prozent der Kunststoffe aus Erdöl produziert werden und als vollsynthetisches Plastik zu definieren sind. Vollsynthetisch hergestelltes Bakelit war zwar schon recht früh bekannt, dennoch wurden Kunststoffe in der Frühzeit des Plastikzeitalters noch immer vor allem aus Milch, Leinöl, Blut, Knochen, Schießbaumwolle und anderen natürlichen Ausgangsmaterialien unter Hinzugabe weiterer Bestandteile wie Formaldehyd gewonnen. Vollsynthetisches Plastik wird durch Polyreaktionen gewonnen. So nennt man die Synthesereaktion von Monomeren mit Monomeren mit dem Ergebnis eines polymer aufgebauten Makromoleküls. Das ist kein Mischen wie bei einem Cocktail. Der neu entstandene Stoff hat erstens neue Eigenschaften und kann zweitens nicht mehr in seine Ausgangsbestandteile zerlegt werden. Einen Oldfashioned oder Manhattan könnte man im Labor unter großen Mühen in seine einzelnen Bestandteile zerlegen. Mischt man aber in der Badewanne kalt gewordenes Wasser mit heißerem, dann wird die Trennung des kalten und des warmen Wassers unmöglich. Dieses Badewannenphänomen nennt man Entropie. Bei der Synthesereaktion ist in ähnlicher Weise irreversibel etwas Neues entstanden, etwas Künstliches, ein anthropogenes Polymer. Kunststoffe sind die Materialien des Anthropozäns, des Zeitalters, in dem vorrangig der Mensch der Erde seinen Stempel aufdrückt und das Holozän ablöst. Dieser Stempel wird für sehr lange Zeit sichtbar bleiben. Materialwissenschaftler vom Fraunhofer Institut schätzen, dass manche Kunststoffe sich in der Umwelt erst in 2000 Jahren vollständig biologisch abgebaut haben werden. Mehr als Schätzungen zu den Abbauzeiten kann die Wissenschaft noch nicht vorweisen. Klar scheint bislang nur: Es dauert sehr lange, bis Kunststoffe in der Natur abgebaut werden. Äußerst lange. Das ist der lange Arm des Plastiks, den auch der kurze Arm eines Legomännchens haben kann. Nach den Entbehrungen der beiden Weltkriege hatte man für solche Problemstellungen noch keinen Blick. Die Menschen waren geradezu berauscht von den Möglichkeiten des Kunststoffs. Der französische Strukturalist Roland Barthes (1915–1980) sprach – vielleicht die Definitionsverschiebung bewusst erkennend – in den 1950er-Jahren von Plastik als einer »alchemistischen Substanz«, deren Geheimnis nicht allein im Wettbewerbsvorteil durch kostengünstigere und von ausländischen Märkten unabhängige Produktion liegt. Dieser Umschreibung nach war also mit dem...


Stefan Schweiger hat Politikwissenschaft, Volkskunde und Neuere und Neueste Geschichte studiert. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter war er am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen an zahlreichen Projekten zu Nachhaltigkeit beteiligt. Aktuell beschäftigt er sich im Projekt »Plastikbudget«, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, an der Ruhr-Universität Bochum nicht nur mit der Kulturgeschichte von Kunststoffe, sondern widmet sich ebenso der Frage, wie Plastikeinträge in die Umwelt verringert werden können.


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