Eine chinesische Weltgeschichte
E-Book, Deutsch, 450 Seiten
ISBN: 978-3-8437-2498-2
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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I. Weltgeschichte auf Chinesisch
Die Geschichte lehrt, dass die Macht über die Welt, wenn sie lange geteilt war, geeint werden muss, und wenn sie lange geeint war, geteilt werden muss.
Die drei Reiche, chinesischer Roman So etwas wie eine Weltgeschichte gibt es nicht, zumindest keine, die für jeden Menschen das Gleiche bedeutet. Welche Weltgeschichte einem am Herzen liegt, hängt davon ab, wer man ist, wo man lebt und woher man kommt. Sie prägt, was man glaubt, wie man sich ernährt, betet und heiratet; sie formt die Gesellschaft um einen herum, die eigene Weltsicht und den Platz, den man in dieser Welt einnimmt. Die Ideen in unseren Köpfen sind uns vom Narrativ dieser eigenen Weltgeschichte eingepflanzt worden – von den Mythen, Legenden, Geschichten, Büchern und Gedichten, die von Helden und Bösewichten (realen wie imaginären) erzählen, die von kritischen Momenten, Wendepunkten, Weltanschauungen, Eroberungen, Entdeckungen, Offenbarungen, Revolutionen, Siegen, Niederlagen berichten und die von großen Männern und Frauen (und den nicht ganz so großen) handeln. Diese Weltgeschichte teilt man zwar mit vielen anderen Menschen, aber eben nicht mit allen. Die Person, die am Nebentisch eines Restaurants sitzt oder im Flughafen an einem vorbeigeht, kann ein völlig anderes Repertoire an Überzeugungen haben, geprägt von ganz anderen Büchern, Ereignissen und Menschen aus ihrer Weltgeschichte. Die Überschneidung der eigenen Weltgeschichte mit der eines anderen hängt nicht zuletzt von der Entfernung ab. Wenn jemand beispielsweise in New Jersey wohnt, hat die Weltgeschichte, die dessen Anschauungen geformt hat, für jemanden in Yokohama, Kalkutta oder Addis Abeba höchstwahrscheinlich eine erheblich geringere Bedeutung als für jemanden aus Los Angeles, Toronto oder London. Die Geschichte der Welt verläuft in Strängen, von denen jeder einzelne seine eigene Geschichte webt. Diese Stränge prallen gelegentlich aufeinander: Religionen breiten sich aus, Technologien werden mit anderen geteilt, Waren ausgetauscht. Doch über die längste Zeit der Geschichte verliefen die Stränge in ihren eigenen Bahnen. Vor dem Zeitalter der digitalen Kommunikation in Echtzeit, der Jumbojets und Hochgeschwindigkeitszüge überschnitten sich die Verläufe dieser Stränge längst nicht so häufig; geografisch weit voneinander entfernt liegende berührten sich kaum einmal. Eine philosophische Anschauung, ein begnadeter König, ein verheerender Krieg, der den Menschen in einem Strang weltbewegend erscheinen mag, wird von denen in einem anderen womöglich kaum wahrgenommen. Ein großer Teil der Menschheit hatte keine Ahnung, dass ein Strang der amerikanischen Geschichte überhaupt existierte, bis Christoph Kolumbus im Jahr 1492 zufällig darauf stieß. Wer im »Westen« – in Europa und dessen Ablegern, etwa den Vereinigten Staaten – aufwächst, für den beginnt die eigene Version der Weltgeschichte üblicherweise im antiken Griechenland mit seinen Philosophen, Dramatikern und Dichtern: Homer, Aristoteles, Sokrates, Sophokles und ihresgleichen. Dazu kommen die Sagen von Zeus und den Göttern, Herakles, Perseus, nicht zu vergessen die Athener und die Wurzeln der Demokratie. Das Narrativ der Weltgeschichte wechselt kurzerhand nach Rom, zu dessen Rechtssystem, der Republik, Cäsar und dem Reich, Konstantin und zur Ausbreitung des Christentums. Es folgen der Aufstieg der Kirche, Karl der Große und das Heilige Römische Reich deutscher Nation, die Epoche der Burgen und Ritter. Als Nächstes begegnen wir dem Zeitalter der Entdeckungen, der Reformation, der Renaissance, der Aufklärung und der industriellen Revolution – die Bausteine für die weltweite Herrschaft des Westens –, parallel dazu erfahren wir von der Gründung der Nationalstaaten und der Proklamierung der Menschenrechte, von Cervantes, Shakespeare und Dickens, Rousseau, Adam Smith und Locke, Newton, Darwin und Freud, George Washington, Thomas Jefferson und der Geburt der amerikanischen Republik. Unterwegs tauchen für kurze Zeit weitere Stränge auf: Alexanders Eroberungen in Asien, die Kreuzzüge und die Auseinandersetzung mit dem Islam, die Invasion der Hunnen, Mongolen und Osmanen, der Sklavenhandel mit Afrika. Doch größtenteils waren die Ereignisse, die anderen Strängen der Geschichte folgen, nur tangential für dieses Kernnarrativ und zogen keinerlei Konsequenzen nach sich. Die Reiche der Maurya, Gupta und Moguln erreichten in Indien eine großartige Blütezeit, die Inka und Azteken in Amerika; die Veden wurden niedergeschrieben, Buddha predigte, die Tempel von Angkor wurden gebaut, die polynesischen Völker breiteten sich über den ganzen Pazifik aus – und jemand, der in Frankreich wohnte, hätte das nicht einmal bemerkt und sich vermutlich wenig darum geschert, wenn er es bemerkt hätte. Das gilt umgekehrt auch für jene Menschen, die andere Stränge erlebten. Wir im Westen wissen, wie Cäsar starb, dass Napoleon sein Waterloo erlebte und Kolumbus übers Meer fuhr. Wir haben das in der Schule, zu Hause oder im Fernsehen gelernt – ein großer Teil der übrigen Welt jedoch nicht. Sie lernten woanders in der Schule eine andere Geschichte aus anderen Lehrbüchern; sie lasen ihre eigenen Mythen und Epen; sie sprachen andere Gebete zu anderen Göttern; sie eiferten anderen Menschen nach, studierten andere Philosophen und sprachen über andere Kriege. Eben deshalb sahen und sehen sie die Welt dort aus einer ganz anderen Perspektive. Wie die Chinesen. Für sie hätte sich die oben beschriebene Darstellung – von den Griechen und Römern, von Jesus und Luther, von der Ilias und von Hamlet – ebenso gut auf einem anderen Planeten abspielen können. Die Chinesen folgten ihrem eigenen Strang der Weltgeschichte, der mit ihren eigenen Personen bevölkert ist, sich auf ihre eigene Literatur gründet, verfasst von den eigenen Philosophen und Dichtern, mit ihren eigenen großen Schlachten, heroischen Momenten, Katastrophen, großartigen und weniger großartigen Männern und Frauen. Und genau wie wir im Westen die Produkte unserer Weltgeschichte sind, sind die Chinesen ein Erzeugnis der ihren. Dieses Buch erzählt die Version dieser chinesischen Geschichte der Welt. Es ist allerdings keine allumfassende Geschichte Chinas. Der Leser wird keine Listen von Kaisern und deren Kommen und Gehen finden, geschweige denn eine ausgiebige Diskussion des politischen oder sozialen Wandels oder eine tiefgründige Erkundung der chinesischen Kultur. Das kann man problemlos an anderer Stelle nachlesen. Auf den folgenden Seiten wird vielmehr die Geschichte geschildert, die die chinesische Weltanschauung und, wichtiger noch, die chinesische Wahrnehmung von der eigenen Rolle innerhalb dieser Welt prägte. Es handelt sich um eine Geschichte, die nur wenige im Westen wirklich kennen. Und genau das ist ein Problem, vor allem, weil China auf der Weltbühne immer mächtiger wird. Wir neigen dazu, China durch die Brille unserer eigenen Weltgeschichte zu betrachten. Diplomaten, Akademiker, Politiker und Journalisten in Washington, London oder Paris grübeln darüber nach, wie China am besten in unsere Welt passt. Dabei sehen die Chinesen das völlig anders. Sie haben ihre eigenen Vorstellungen, wo sie in der Welt hingehören und wie die Welt aussehen sollte, basierend auf ihrer eigenen Geschichte – noch dazu einer sehr langen. Nur wenn wir diese chinesische Geschichte der Welt kennen, können wir das heutige China verstehen. Die große Frage des 21. Jahrhunderts lautet: Was will China? Denn ohne Frage ist China die aufsteigende Macht des Zeitalters. Was das für die derzeitige Weltordnung bedeutet, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs von den Vereinigten Staaten von Amerika geschaffen und angeführt wurde, ist das Thema von unzähligen Think-Tank-Studien und Kongressanhörungen, Fluten von Publikationen und Gesprächen auf Abendgesellschaften von Washington bis Tokio. Was genau wird China mit seiner neuen Macht unternehmen? Wird China ein Partner des Westens und seiner Verbündeten? Oder hat es den Wunsch, die Welt zu verändern und neue Werte, Institutionen und Muster des Handels und der Finanztransaktionen zu propagieren? Wird es sich an unsere Spielregeln halten oder neue schreiben? Die Antwort auf all diese Fragen ist im Kern relativ einfach: China will das, was es immer wollte. China war in seiner Geschichte so gut wie immer eine Supermacht – und es will wieder eine Supermacht sein. Selbstverständlich sind die Ziele der heutigen politischen Führer Chinas nicht dieselben wie im Jahr 1000 n. Chr., geschweige denn 1000 v. Chr. Nichtsdestotrotz gibt es einige verblüffende Übereinstimmungen in der Haltung Chinas gegenüber der Welt quer durch den Verlauf seiner Geschichte, von der über 3000 Jahre auf überprüfbaren schriftlichen Quellen basieren. Diese Geschichte hat in den Chinesen eine feste Überzeugung davon heranreifen lassen, welche Rolle sie und ihr Land in der Welt heute und in der fernen Zukunft für immer spielen sollten. In ihren eigenen Augen haben die Chinesen ein Anrecht darauf, eine führende Weltmacht zu sein, und sie wollen auf den ihnen gebührenden Platz an der Spitze der Weltordnung zurückkehren. Diese Wahrnehmung basiert bis zu...