E-Book, Deutsch, 439 Seiten
ISBN: 978-80-268-1292-0
Verlag: e-artnow
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Zweites Kapitel
Inhaltsverzeichnis
Schlaflos brachte sie die Nacht zu. Durfte sie der Fremden folgen und alles aufgeben, die Mutter und die Geborgenheit ihrer Stellung? Wie ein Alp lag ihr die Frage auf der Brust. Die leichten Atemzüge der Kinder drangen zu ihr herein, die nebenan in ihren Bettchen schliefen. Leise rauschten die Blätter der Bäume im Park. Sonst war alles still. Ach, wie sie diese Stille haßte! Eingeschlossen war sie hier wie in einem Gefängnis. Ohne Wechsel, ohne einen freien Atemzug rannen die Tage dahin. Herrschaft und Diener – alte Leute waren sie, die niemals einen Schritt schneller machten, niemals ein Wort lauter sprachen als das andere. Sie lachten nicht, sie erregten sich nicht. Sie waren gütig; aber von einer kühlen Güte, die kein wärmeres Gefühl aufkommen ließ. In ihrer Leidenschaftslosigkeit erschienen sie Emma wie Wesen aus einer Welt, in der nichts Menschliches war. Auf den Spaziergängen mit den Kindern immer dieselben Wege, dieselben Ziele. Man bestieg den Hügel, um nach dem fernen Meere zu spähen, zu dem man niemals kam. Oder man erging sich im Park. Auf den mit weißem Sande bestreuten, sorgfältig geharkten Wegen, die man kaum zu betreten wagte. Zwischen den hohen Taxushecken, deren Dunkel auf der Brust lastete wie ein schwerer, schwarzer Stein. Vorüber an Gartenbeeten mit matten, bleichen Blumenwesen, die man nicht berühren durfte. Blutlos war alles, schattenhaft, ohne Regung. Ein jähes Angstgefühl, als müsse sie im nächsten Augenblicke sterben, überfiel Emma. Brennend heiß wurde ihr unter der leichten Decke. Taumelnd sprang sie aus dem Bette, lief zum Fenster und riß es auf. Aber unter den dichten Bäumen des Parks brütete noch die Schwüle des vergangenen Abends. Ein glühender Dunst schlug Emma entgegen, daß sie glaubte, ersticken zu müssen. Dennoch kehrte sie nicht ins Bett zurück. Am offenen Fenster stehend wartete sie auf den Tag. Es war der Tag, an dem sie mit dem Gärtner auf den Wochenmarkt nach Hawarden durfte. Dort traf sie mit der Mutter zusammen, die Früchte und Geflügel von der Farm ihres Brotherrn verkaufte. Zwei kurze Stunden gehörten dann ihnen. Sie sprachen miteinander, sahen sich in die Augen, drückten sich die Hände. Sie liebten sich und waren glücklich, daß sie einander hatten. Sie waren doch nicht ganz verloren in der kalten Welt und sie her ... Sollte sie es der Mutter sagen? Der Mutter, der die Trennung das Herz zerreißen würde? Ungeduldig sah sie dem ersten Sonnenstrahl entgegen. Aber als er dann kam, bebte sie vor der nahenden Entscheidung zurück. Langsam kleidete sie sich an und übergab die Kinder einer alten Dienerin. Der Gärtner wartete bereits im Hof. Zögernd stieg Emma auf den Karren und setzte sich neben den wortkargen Alten Als sie sich dem Wirtshaus näherten, in dem der Gärtner ausspannte, trat Tom Kidd aus der Tür. Er erwartete Emma stets hier, wenn sie nach Hawarden kam. Immer, soweit sie zurückzudenken vermochte, war er um sie gewesen. Während sie bei Mr. Bloss die Schafe geweidet hatte, war er auf der Nachbarfarm Hütejunge gewesen. Als sie in Mrs. Barker's Erziehungsanstalt war, hatte er eine Stellung als Pferdeknecht in der Posthalterei gegenüber angenommen. Nun, seit sie draußen am Deegolf Mr. Thomas' Enkelkinder wartete, hatte er sich an einen der Fischer verdingt, die auf den nahen Klippen ihr Gewerbe trieben. Sie sah ihn öfters, wenn sie mit den Kindern den Hügel besuchte. Er stand dann in der Ferne und winkte ihr verstohlen zu. Sich ihr zu nähern, hatte sie ihm verboten, Sie fürchtete das Gerede der Leute. In der Stadt aber waren sie unbeobachtet. Hier durfte er mit ihr sprechen. Und immer hatte er etwas, das er ihr zusteckte. Ein hübsches, kleines Schmuckstück. Ein seidenes Band. Ein paar bunte Federn. Stets aber behandelte er sie trotz ihrer Verwandtschaft mit der respektvollen Förmlichkeit, deren er sich ihr gegenüber befleißigte, seit sie bei Mrs. Barker gewesen war. Er half Emma beim Absteigen und ging dann neben ihr her dem Marktplatz zu. Er hatte seine besten Kleider angelegt. Keck saß die bunte Fischermütze auf seinem dunkelgelockten Haar, und das schneeweiße, am Halse offene Hemd ließ die braune Wölbung der breiten Brust kraftvoll hervortreten. Mit seinen achtzehn Jahren war er ein hübscher, stämmiger Bursche, der es wohl mit jedem Gegner aufnahm. »Hab' mich frei gemacht heute, Fräulein Emma!« sagte er mit seinem treuherzig pfiffigen Lächeln. »Ein schöner Tag für mich!« Freundlich sah sie zu ihm auf. »Was gibt's denn, Tom? Dein Geburtstag?« »Mein Geburtstag wär' doch nichts Besonderes! Was Schöneres, Fräulein Emma, was viel Schöneres!« Er klimperte in der Tasche seiner weiten Jacke mit einigen Geldstücken. »Du willst zum Tanz gehen? Heut abend, unter dem Maienbaum?« Er schüttelte den Kopf. »Das würde ich nur tun, wenn Eine mitginge, mit der allein sich's für mich zu tanzen lohnt! Nein, Fräulein Emma, das Geld hab' ich mir gespart für etwas ganz Großartiges, ganz Prachtvolles!« Seine hellen, blauen Augen lachten. Langsam und feierlich holte er seine Hand hervor und hielt sie Emma geöffnet hin. Ein hübsches Sümmchen lag darauf, Gold und Silber gemischt Erstaunt sah Emma hin. »So viel? Wie kommst du dazu, Tom? Beim Fischen kannst du das doch nicht erspart haben!« Er lachte, glücklich über ihre Freundlichkeit. »Das ist wahr, Gold bleibt da nicht in den Maschen hängen! Aber auf ehrliche Weise verdient ist's doch! Ich soll zwar nicht darüber reden, aber Sie werden's ja nicht weiter erzählen!« Geheimnisvoll beugte er sich zu ihr vor. »Die reichen Kaufherren in Chester und Liverpool sehen's gern, wenn die Mynheers aus Holland und die Mosjös aus Frankreich mit ihren Briggs kommen, schwer von allerlei teurem Kram, der nicht mit König George's bleiernem Bilde Zollplombe. versiegelt ist ...« »Schmuggel?« stieß sie erschreckt heraus. »Um Gottes willen, Tom, du bist doch nicht Schmuggler geworden?« Er nickte, ein wenig selbstbewußt. »Keine Angst, Fräulein Emma! Es ist nicht so gefährlich. Ein bißchen scharfer Auslug nach König George's Zollkuttern, eine dunkle Nacht und eine Mütze voll Wind – für einen Burschen mit gesunden Augen und Armen ist das kaum der Rede wert. Und dafür dann das hübsche Stück Geld und das Vergnügen noch obendrein! Denn ein Vergnügen ist's, kein Schafehüten und Pferdeputzen. Es geschieht doch was!« Er schob die Mütze in den Nacken und dehnte die Brust. Mit seinen blitzenden Augen und seinen fest gegen den Boden gestemmten Beinen sah er aus wie ein Bild der Kraft. Ein Gefühl des Neides stieg in Emma auf. »Ja, du erlebst etwas!« sagte sie dumpf, mit verschattetem Gesicht. »Während ich –« Zornig brach sie ab und ging weiter. »Wissen Sie nun, Fräulein Emma, warum ich den heutigen Tag einen glücklichen nenne?« fuhr Tom neben ihr herschreitend fort. »Weil ich heute so viel beisammen habe, daß ich über Mrs. Barker mit Ihnen reden kann!« Jäh erblassend fuhr sie zu ihm herum. »Nenne den Namen nicht! Du weißt doch, daß ich ihn nicht mehr hören will!« Sie waren an eine Ecke gekommen, wo die Straße auf den Marktplatz einbog. Von einer Mauer umgeben lag inmitten eines kleinen Parks ein stattliches Haus. Neben dem Türklopfer hing ein eisernes Schild: Mrs. Adelaide Barker, Erziehungsanstalt für Töchter höherer Stände. Emma betrachtete das Haus mit düsteren Blicken. »Nie werde ich vergessen, was mir dort geschah. Schon als ich eintrat, merkte ich, daß die Nachbarstöchter und Lordfräuleins mich verachteten. Ein Schimpf schien's ihnen, daß sie mit dem Kinde einer Magd dieselbe Luft atmen sollten. Aber waren sie hochmütig, so war ich stolz. Gelernt hab' ich, Tag und Nacht. Erheben wollte ich mich über sie, durch mein Wissen. Und ich merkte, daß es mir gelang. Sie sprachen nicht mit mir, aber ihre Augen verrieten ihren Neid. Ich freute mich darüber; gerade das wollte ich. Aber dann, als sie mich durch diese Tür dort hinausstießen ... als sie hinter mir herlachten ...« Sie verstummte. Ihre Zähne knirschten aufeinander und ihre Hände ballten sich. Ihr maßloser Zorn machte Tom bestürzt. »Warum regen Sie sich noch immer darüber auf?« sagte er sanft, um sie zu beruhigen. »Ich verstehe das nicht! Wenn mich jemand nicht will, so gehe ich und suche mir einen anderen Platz!« Mit einem bitteren Auflachen zuckte sie die Achseln. »Ja, du!« Er nickte ergeben. »Ich weiß ja, Sie sind aus anderem Holz! Feiner und heißblütiger. Sie tragen es mit sich herum, bis Sie daran ersticken. Aber das sollen Sie nicht, Fräulein Emma! Darum hab' ich das Geld gespart. Damit Sie die Tür des verwünschten Hauses da aufmachen können und wieder hineingehen. Um sich mitten zwischen die aufgeblasenen Baronstöchter und Lordsdamen hinzusetzen: hier bin ich und hier bleibe ich! – So hab' ich mir's ausgedacht!« Er nickte ihr zu mit strahlenden Augen und lachendem Munde und weidete sich an ihrem Erstaunen. »Das wolltest du tun, Tom?« rief sie und faßte seine Hand, die sie heftig drückte. »Für mich hast du dich in Gefahren gestürzt, damit ich weiterlernen kann?« Gerührt...